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Gleichwohl haben mich diese Porträts noch mehr interessiert als die Einrichtung; es sind die Zerbster Herren von dem Begründer der Linie, Rudolf (1603), bis zu dem letzten Fürsten, Friedrich August; nicht ganz zwei Jahrhunderte hat die Linie geblüht, was man so blühen nennt... Nicht um ihrer selbst willen interessierten sie mich samt ihren Ehehälften, sondern ihres größten Sprossen wegen, Katharina II. Sie ist in jeder Hinsicht ein Phänomen, auch in psychologischer und physiologischer. Als sechzehnjähriges Kind aus der Puppenstube zur Gattin des unheimlichen Erben eines Riesenreichs erwählt, wird sie unter Verhältnissen, die auch die stärkste Natur hätten brechen können, einzig durch ihren Willen und ihr Genie in jungen Jahren die Alleinherrscherin, ja das Schicksal dieses größten Staates der Erde, die genialste Fürstin und das verderbteste Weib ihrer, vielleicht aller Zeiten. Nur die Meteore fallen vom Himmel; die Menschen aber entwickeln nur die Keime, die in sie gelegt sind – woher hatte sie dies alles, die riesigen Vorzüge und die gigantischen Laster? Um darauf vielleicht eine Antwort zu finden, war ich schon vor langen Jahren, noch in Wien, durch ein Gespräch mit Billroth angeregt, der Geschichte der Zerbster ein wenig nachgegangen. Man weiß – denn es ist seither auch durch seine Briefe bekannt geworden –, der große Chirurg war ein leidenschaftlicher Verfechter des Axioms: »Auch in die Geistesaristokratie kommt man nur durch Vererbung hinein.« Es klang plausibel, aber ich konnte doch nicht beistimmen; der Ausnahmen schienen mir gar zu viele; unter anderen hielt ich ihm Katharina II. vor. Sie war gewiß die größte Geistesaristokratin ihrer Zeit – woher hatte sie es nun? »Suchen Sie nur«, meinte er, »es muß auch da zu finden sein.« Ich fand es nicht; weder Vater noch Mutter bedeutende Menschen; der ganze Zweig schwächlich; auch geistig, wie ihrem Ländchen nach, richtige Duodezfürsten. Während der Hauptzweig eine Prachtgestalt wie den Alten Dessauer, einen feinen Kopf wie den Freund der Dichter und Denker seiner Zeit, den Fürsten Franz, aufzuweisen hat, ist der relativ bedeutendste Mann dieser Nebenlinie nur eben der Vater Katharinas II., Christian August, denn er war doch preußischer Generalmajor und tat zum mindesten seinen Gamaschendienst; die anderen taten überhaupt nichts. Nein, von ihren Vorfahren hat die große Kaiserin ihr Genie nicht geerbt; das fand ich auch durch diese Porträtreihe bestätigt. Aber wie ich so die Herren in gesticktem Rock und Allongeperücke – nur Christian August trägt den Küraß –, die Damen im Reifrock und mit gepudertem Haar musterte, da ward mir klar, daß Katharina doch allerdings etwas von ihnen geerbt hat, den Keim zum Laster. Von dem Begründer bis zum letzten tragen sie sämtlich im Antlitz alle Zeichen ungebändigter Sinnlichkeit, welche die Physiognomik verzeichnet: die halbgeöffneten starken Lippen, die geblähten Nüstern, das weiche, unenergische Kinn, das für die Zerbster so charakteristisch ist wie für die Wettinerin ihrer glorreichen Zeit das vorspringende harte Keilkinn. Freilich trieben's die Zerbster vielleicht nur ein wenig schlimmer als die anderen Fürsten ihrer Zeit; ins Ungeheuerliche wächst sich auch dieser Zug erst in Katharina aus.
Natürlich interessierten mich ihre Porträts am meisten. Es sind deren zwei hier. Ein Jugendbildnis, wohl noch aus der Stettiner Zeit, etwa im Alter, da sie urplötzlich auf Veranlassung Friedrich des Großen die Braut des Mannes wurde, den sie siebzehn Jahre später morden ließ; ein hübsches, fröhliches Backfischchen, im Antlitz freilich auch, nur das Kinn abgerechnet, jene Zeichen ihres Geschlechts; alles, auch Stirne und Nase, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. »Nett, aber ein Racker«, könnte man den Eindruck trivial, aber bezeichnend zusammenfassen. Das andere ein Bild aus ihren alten Tagen, wenige Jahre vor jenem Novembertag von 1796, da sie jählings dahinschied, trotz ihrer 67 Jahre noch nicht einmal der Liebe satt, geschweige denn des Herrschens. Sichtlich ein überaus und zudem ungeschickt geschmeicheltes Bild; die Unförmlichkeit der Gestalt, die Unheimlichkeit der durchwühlten Züge, von denen die Zeitgenossen berichten, sind fast verwischt, aber ebenso der Ausdruck geistiger Größe, den sie ehrfurchtsvoll verzeichnen.
Sonst hält ihr Andenken hier nur die Wiege fest, in die sie 1729 zu Stettin gelegt wurde; eine schmucklose Wiege aus schwarzlackiertem Holz; der Herr Generalmajor waren damals recht knapp gestellt... Aber der Schlächter in Güterglück hatte mir ja außer der Wiege »so Zeugs« versprochen. Diese anderen Andenken an die Kaiserin, belehrte mich der Herr Kastellan, seien im städtischen Museum zu finden.
Schon wollte ich aufbrechen, in dem angenehmen Bewußtsein, mir durch mein andächtiges Zuhören und die Unterlassung vorwitziger Fragen nach dem, was »nicht aufgeschrieben« war, das Wohlwollen des würdevollen Mannes erworben zu haben, als er mich noch zurückhielt, mir seine schönste Geschichte zu erzählen, und dabei hätte ich es fast mit ihm verdorben. Ich hatte schon vorher fünf Porträts gesehen: Friedrich August, den letzten Zerbster, ein dürftiges, verlebtes Männchen, das gar nichts mehr fertig brachte, nicht einmal die Fortdauer seines Geschlechts; seine Mutter, eine alte Frau mit auffallend harten, ja megärenhaften Zügen; zwei Bilder seiner ersten Gemahlin, einer hübschen sanften Dame, und zwar ein Jugendbildnis in einem rosa Kleide und ein späteres, das sie als noch jugendliche, aber gereiftere Schönheit in einem graugrünen Kleide zeigt, endlich ein Porträt seiner zweiten Gemahlin, die ihn lange überlebt hat. »Denn«, sagte der Herr Kastellan, »mit Friedrich August ist es nämlich so, daß seine erste Frau vor ihm starb und die zweite nach ihm.« Und dann erzählte er mir, die Fürstin-Mutter habe die erste Frau durch das rosa Kleid vergiftet: »Es war ein in Paris angefertigtes Giftkleid, dessen sich diese böse Schwiegermutter, indem sie es ihr nämlich schenkte, bediente, und dieses rosa Giftkleid sehen Sie hier abgemalt.« – »Herr Kastellan«, sagte ich bescheiden, aber fest, »das kann ich nicht glauben.« Er runzelte finster die Stirne. »Ich glaube«, fuhr ich begütigend fort, »daß die erste Frau vor ihm gestorben ist und die zweite nach ihm. Ich glaube auch, daß die böse Schwiegermutter die erste Frau vergiftet hat, aber nicht durch das rosa Kleid. Denn sonst hätte sich ja die Unglückliche nicht mehrere Jahre später im grünen Kleide malen lassen können. Ein so langsam wirkendes Gift gibt es ja nicht einmal in Paris!« Er schüttelte grollend das Haupt. »Dieses ist aufgeschrieben.« – »Dann will ich glauben«, gab ich noch weiter nach, »daß die Ärmste wirklich durch irgendein rosa Giftkleid gestorben ist, aber es war dann nicht dasselbe rosa Kleid, in dem sie gemalt ist.« – »Es war dasselbe«, sagte er wuchtig. »Dieses ist aufgeschrieben.« – »So will ich denn alles glauben«, beteuerte ich, aber sein Antlitz erhellte sich erst beim Händedruck, mit dem ich von ihm Abschied nahm.
Vom Schloß ging ich wieder zum Markt zurück; das städtische Museum ist im Rathaus. Leider war es geschlossen; ich habe es nicht gesehen. Sonst ein leichtfertiger Mensch, der lange nicht allen Sternen des Reisebuchs nachläuft und immer im stillen die armen Reisekulis bemitleidet, die unter dem Zwang ihrer Halb- oder Viertelbildungspflichten von einer Sehenswürdigkeit zur anderen keuchen, bedaure ich doch diesen Entgang wirklich. Schon um der Notiz willen, die der sonst bezüglich Zerbst so schweigsame Baedeker darüber gibt. Alte Drucke sind mir eine Freude; hier hätte ich ein Prachtstück sehen können: eine von Hans Lufft 1541 auf Pergament gedruckte Bibel, deren Holzschnitte kein Geringerer als Lucas Cranach der Jüngere ausgemalt hat. Noch lieber blättere ich in der vergilbten Handschrift einer Stadtchronik; hier ist eine Zerbster Chronik von 1451. Am allerliebsten aber sind mir schöne Autographen, deren hier gleichfalls aufbewahrt werden, namentlich von Humanisten und Reformatoren; ich habe, obwohl nur ein deutscher Schriftsteller, selbst manches hübsche Stück dieser Art im Kasten; darum kann ich ihrer nicht genug sehen, und – um mein schwarzes Herz ganz zu enthüllen – mit ungetrübter Freude sehe ich sie nur in öffentlichen Sammlungen an. Denn alle Sammlerei verdirbt den Charakter. Ich bin nicht ganz so schlimm wie ein verstorbener König unserer stillen Zunft, der sonst so weiche, romantische General von Radowitz, der in einem launigen Brief schreibt, er bemerke mit Vergnügen, daß sich sein Sammelgenosse X immer mehr dem stillen Suff ergebe; das lasse auf ein baldiges Delirium tremens und eine fröhliche Auktion der Sammlung hoffen. Nein, so schlimm bin ich nicht, aber schöne Briefe von Luther und Melanchthon sehe ich lieber in einem Museum an als bei einem reichen Banausen, der sie nicht einmal flüssig lesen kann.
Indes, auch ohne Baedeker hätte ich mir sagen können, daß diese Sammlung sicherlich das meiste enthält, was an derlei liebem, verstaubtem Kram überhaupt noch in der uralten Stadt zu finden war, daß sie sorglich behütet und musterhaft verwaltet wird. Denn sie ist der Stolz aller, und was mir begegnete, als ich mich um den Zutritt mühte, verdient erzählt zu werden, weil ich meine, man kann es nicht in vielen deutschen Städten erleben. Als ich betrübt vor der verschlossenen Türe im Korridor des Rathauses stand, kam ein Schutzmann vorbei und belehrte mich aus freien Stücken, die Sammlung sei nur wochentags 9–12 zu sehen. »Also kommen Sie übermorgen, Montag, wieder. Aber ganz gewiß! Es sind so schöne Sachen drin!« Das könnte ich leider nicht, erwiderte ich, ich müßte schon morgen abend fort. »Oh«, sagte er, »das wäre ja jammerschade, da muß es Ihnen noch heute gezeigt werden. Kommen Sie mit auf die Polizeistube; vielleicht wissen die Kameraden Rat.« Er führte mich auf die Stube, die gleichfalls im Rathaus liegt, und trat mit den drei Wachleuten, die dort saßen, zu einem Kriegsrat zusammen. Darüber waren alle einig: »Das muß der Herr sehen!« – aber wie? Die einen rieten mir, den Archivar in seiner Wohnung aufzusuchen, »es wird ihm gewiß nur eine Freude sein, mit Ihnen wieder herzukommen«; die andern schlugen vor, beim Herrn Stadtrat anzufragen, ob er nicht vielleicht auch einen Schlüssel habe. Er hatte keinen, ermunterte mich aber auf das liebenswürdigste, den Archivar darum zu ersuchen. Auch gab er mir einen Schutzmann mit, der mir den Weg erklären sollte. Und dies alles, ohne daß ich meinen Stand und Namen genannt hätte! Aber was nun kommt, ist das hübscheste. Als mir der Schutzmann an der nächsten Straßenecke den Weg zum Archivar zeigte, kam ein ältlicher Mann vorbei, eine Gemüsebutte auf dem Rücken, blieb stehen und erbot sich dann, mich hinzuführen; es sei für ihn nur ein kleiner Umweg. Ich nahm zögernd an; bei der Hitze, die Butte auf dem Rücken, sei schon dies eine große Mühe. »Tut nichts«, erwiderte er. »Als Fremder geht man ja wie ein verlaufenes Schaf durch die Stadt, sieht und hört nichts, das weiß ich, ich war schon selbst in Magdeburg. Dort habe ich freilich nichts dabei verloren, aber unser Zerbst ist ja die schönste und älteste Stadt weit und breit.« Er war ein Gemüsebauer vom Ankuhn, wie das Stadtviertel der Gärtner heißt, und muß wohl tatsächlich wiederholt im Museum gewesen sein, denn er wußte annähernd Bescheid, natürlich in seiner Art; er sprach von der »luftigen Bibel«, der »schönsten der Welt«, und ließ seinen seligen Mitbürger Peter Becker die Stadtchronik bereits »vor zweitausend Jahren« abgefaßt haben. Über Katharina II. äußerte er sich leider mit einer Anspielung auf die beiden großen Kasernen der Stadt in höchst despektierlicher Weise. »Was geht sie uns an?! Zerbst hat einmal eine große Insel im Meer gehabt, die hat sie verkauft!« Seltsam, so lebt im Volk die Tatsache fort, daß die Zerbster Fürsten einst auch durch Erbschaft die Herrschaft Jever besaßen, die dann als Kunkellehen an Katharina fiel; freilich hat nicht sie, sondern erst Alexander I. das Ländchen (ich glaube an Holland) verhandelt. Um so wärmer sprach der Mann von seiner Vaterstadt. »Wir können uns vor jedem sehen lassen, und gar mit den Dessauern nehmen wir's noch lange auf! Und die haben doch den Hof und die reichen Leute, und wir stehen im Winkel!« Überhaupt klang der eifersüchtige Groll gegen Dessau in den Reden aller Zerbster, die ich sprach, deutlich durch; vor mehr als hundert Jahren hat die ältere Residenz zugunsten der jüngeren abdanken müssen, und noch ist's unvergessen – oh, in Zerbst vergißt man überhaupt nicht. Als wir vor dem Wohnhaus des Archivars standen, faßte ich mir ein Herz und fragte den Mann, ob er nicht ein Glas Bier auf das Wohl seiner Stadt trinken wolle. Er lehnte entschieden, aber liebenswürdig ab. »Das geschieht schon auch, wenn ich's selbst bezahle. Nein, nicht deshalb habe ich's getan, sondern weil ich will, daß Sie wissen, was unser Zerbst ist. Der Herr Dr. Siebert ist ein Studierter, der kann Ihnen alles erklären.« Der Archivar war leider nicht zu Hause; ich mußte auf das Museum endgiltig verzichten... Aber wie merkwürdig ist dies alles! Man denke: einige Schutzleute und ein Gemüsebauer mit der Butte auf dem Rücken! Ist andern derlei schon oft in Deutschland begegnet? Mir hierzulande nicht, wohl aber in Italien, zum Beispiel ganz ähnliches in Ferrara.
Vielleicht ist dies kein Zufall; ein gewisser Parallelismus läßt sich ja in Geschick und Physiognomie beider Städte nachweisen. Hier wie dort ein riesiges, nun längst verödetes Residenzschloß; hier wie dort eine uralte Stadt, in der einem auf Schritt und Tritt die Spuren längst erblichenen höfischen Glanzes, wenn auch nun arg verstaubt, ins Auge fallen; hier wie dort eine leidenschaftliche, eifersüchtige Liebe zur ehrwürdigen Heimatstadt. Und hier wie dort hat diese starke Empfindung dieselben Wurzeln: im Gebildeten den bewußten, im Mann der Brägenwurst und des Gemüses den instinktiven Stolz auf eine uralte Kultur, gepaart mit der schmerzlichen, aber nicht abzuweisenden Erkenntnis, daß die Gegenwart leider nicht so schön ist wie die Vergangenheit oder doch mindestens gewiß nicht schön genug, um über ihr die Vergangenheit zu vergessen. Gewiß, für jeden Menschen, der diesen Namen verdient, ist die Heimatstadt mehr als ein Haufe Häuser, in dem er mit vielen anderen haust; er liebt sie, auch wenn es eine ganz junge Mittelstadt ist oder eine alte, nun aber mit ungeheurer Raschheit zur Riesin emporgewachsene Großstadt. Aber die Liebe ist eine andere, eine minder starke, als die in »verschollenen Fürstenstädten« ihren stillen, verklärenden Zauber übt. Schon aus einem äußeren Grunde: in solchen alten Städten, mögen sie nun zurückgehen oder stillstehen oder nur ganz langsam vorwärts kommen, ändert sich im Laufe eines Menschenlebens wenig oder nichts; der Blick des Greises sieht genau dieselben Türme, Mauern und Fassaden wie einst der des Knaben; wie anders spricht ein solches Stadtbild zum Gemüt seiner Bewohner, um wieviel inniger verwächst es mit ihrem eigenen tiefsten Leben als an Orten, wo alles neu ist und das Alte kaum noch zu erkennen! Es ist unmöglich, daß der Kattowitzer oder Oberhausener dasselbe für seine Heimatstadt empfindet wie der Zerbster, und dem Berliner oder Leipziger ist dies auch nicht möglich. Aber, wird man mir einwenden, Liebe zur Vaterstadt bedeutet doch nicht allein Pietät für ihre Vergangenheit; mindestens gleich schön oder noch schöner erweist sie sich im rüstigen Erschaffen einer besseren Zukunft, und neben der sentimentalen Liebe, die das Tote erhalten möchte, gibt es gottlob auch eine fröhliche, die neues Leben schafft. Ja, erwidere ich, gottlob, die gibt es. Wie aber, wo es mit dem Erschaffen des Neuen nur langsam vorwärts geht wie in Zerbst oder gar nicht wie in Ferrara? Da erschöpft sich eben die Sorge um die Zukunft in der Erhaltung der Vergangenheit; ist nicht viel neuer Glanz zu gewinnen, so soll doch der alte nicht verbleichen. Und inniger als die fröhliche ist die leidvolle Liebe, das gilt nicht bloß von der Liebe der Menschen zueinander, sondern auch von der zu ihrer Heimat. Wer dies recht erkennen will, gehe nach Städten wie Ferrara oder Zerbst; der Besuch wird ihn, und sei er noch so sehr für die »fröhliche Liebe«, nachdenklich stimmen und nicht schlechter noch oberflächlicher machen.
Indes, ich möchte den Vergleich zwischen der gewaltigen, verödenden Stadt am Po und unserem lieben, alten, engen Nest an der Nuthe nicht allzuweit ausspannen. Vieles stimmt, aber noch mehr stimmt nicht. Auch Zerbst war einst mehr als heute, durch lange, lange Jahrhunderte mehr als Berlin, aber so viel für Deutschland wie Ferrara für Italien war es niemals. Es ist eine uralte, wie der Name erweist, von den Wenden begründete Siedelung, schon im 10. Jahrhundert ansehnlich, im 12. gewiß bereits eine bedeutende Stadt. Es kam empor, weil ihm zunächst die beiden Mächte hold waren, die das Schicksal einer Stadt bestimmen: die günstige Lage inmitten einer fruchtbaren Ebene am Knotenpunkt wichtiger Straßenzüge und die Art seiner Beherrscher; diese ersten »edlen Herren von Zerbst« (aus Alsleben) hatten eine starke Hand. Aber wichtiger als die Lage ist die Tüchtigkeit der Fürsten; das hat Berlin zu seinem Besten erfahren und Zerbst zum Gegenteil. Solange über beide (über Zerbst seit 1307) Askanier herrschten, wenn auch aus verschiedenen Zweigen, blieb Berlin dürftig und Zerbst eine stattliche Stadt, die aber doch zu keiner solchen Entwickelung gedieh, wie ihre Anfänge hatten erwarten lassen; es war seit dem 14. Jahrhundert die Residenz eines Zweiges der anhaltinischen Askanier, wuchs langsam, wenn dieser Zweig seinen Besitz durch Erbschaft mehrte, kam ins Stocken, wenn er ihn durch Erbteilung zersplitterte. Ich möchte mich nicht in den unberechtigten Ruf besonderer Gelehrsamkeit in anhaltinischer Geschichte bringen; ich entnehme die Tatsachen einer kleinen Geschichte des Herzogtums, die ich mir gestern hier kaufte, um selbst einigermaßen orientiert zu sein. Der gutgesinnte Verfasser lobt alle Fürsten; immerhin scheinen nach dem, was er von ihnen anführt, diese älteren Zerbster von anderem Schlag gewesen zu sein als die jüngeren des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie waren fromm, hielten Frieden und machten aus ihren Halb- und Ganzwenden Deutsche; erst 1316 wurde in Zerbst die wendische Sprache vor Gericht abgeschafft; aus Klosterschule und Kirche wurde sie erst weit später verbannt. Aber auch unter diesen tüchtigeren Zerbstern war keiner, der über das Mittelmaß an Charakter, Geist und Kraft hinausgereicht hätte. Ich mußte, während ich die ebenso trockene wie servile Geschichtssalbaderei überlas, immer nur an eines denken: Zerbst gehörte kirchlich zu Brandenburg; es hing im Lauf der Zeiten oft genug an einem Haar, daß es auch politisch dazu gehörte – wie hätte sich dann das Schicksal von Berlin und Zerbst gestaltet?! Dann hätten die starken Begründer der Hohenzollernschen Hausmacht an Zerbst gefunden, was sie so dringend brauchten und sich erst an Berlin schaffen mußten, eine größere, stattliche, wohlhabende, relativ kultivierte Stadt als Haupt- und Residenzstadt, dann wäre Zerbst mit den Zollern groß geworden, und dann hätte ich vielleicht meine erste Station auf meiner Flucht aus der qualmenden Riesenstadt an der Nuthe in dem kleinen Kölln an der Spree gemacht. Ich meine das nicht ganz im Ernst, aber doch auch nicht ganz im Spaß; es hätte sehr wohl so kommen können. Das werden nur diejenigen für lächerlich halten, die nicht begreifen, daß das Gewordene einst immer ein Werdendes war und daß ungeheure Schicksale der Städte und Staaten oft durch die winzigsten Fügungen entschieden worden sind.
Nun, Zerbst kam nicht an Brandenburg, und die Zerbster Fürsten waren keine Hohenzollern an Kraft und Kühnheit, und womöglich noch weniger glichen sie den Este, die Ferrara groß gemacht haben, auch im Reiche des Geistes. Daraus ist ihnen aber billigerweise kein Vorwurf zu machen, denn wohl gehört auch Talent zum Mäzenatentum, wie es die Este übten, aber ohne Dichter wie Tasso und Ariost hätte den Fürsten von Ferrara dies Talent nichts genützt. Zerbst hat im geistigen Leben des deutschen Volkes keine größere Rolle gespielt; es stand nur eben brav in Reih und Glied; die Reformation wirkte auch hier anregend, und im einstigen Augustinerkloster, das heute Hospital ist, hat auch Luther gepredigt; die Schulen waren immer tüchtig, aber meines Erinnerns ist kein bedeutenderer Dichtername mit dem dieser Stadt verknüpft, weder durch die Geburt noch durch das Schaffen, und sich Hofpoeten zu halten oder dann, als es wieder eine Literatur in Deutschland gab, mit den Großen des 18. Jahrhunderts Fühlung zu suchen wie der Dessauer Franz, kam den Christian August und Friedrich August nicht in den Sinn. Vom Hofe aber ging damals fast überall und nun erst hier überhaupt nahezu alles aus; darum wird wohl die Zeit von 1570–1586, wo Zerbst die Hauptstadt des ganzen, damals ungeteilten Anhalt war, auch seine Blütezeit gewesen sein. Man lebte vom Hofe oder vom Gemüsebau, von Brägenwurst und Bitterbier, und dann, als es keinen Hof mehr gab, von diesen allein, und gar so viel anders ist es auch heute nicht. Aber man lebte und lebt gut davon; die Stadt macht den Eindruck bescheidener Behäbigkeit. Daß Millionäre hier wohnen, bezweifle ich, aber Bettler habe ich nicht gesehen, und selbst in den ältesten und dürftigsten Vierteln ist alles sauber, was man wahrhaftig nicht oft sagen kann, auch von vielen deutschen Städten nicht, die in der Sonne des Erfolges stehen. Schon dies deutet auf eine gewisse Tüchtigkeit der Bewohner; es stimmt dazu, daß die Stadt jetzt wenigstens aufwärts klimmt. Von den mehr als 100 000 Einwohnern, die Ferrara unter den Este zählte, fehlt heute manches Tausend, ja manches Zehntausend; Zerbst aber wird, nach seinem Umfang zu schließen, einst auch in seinen berühmtesten Zeiten sicherlich nicht mehr Einwohner gehabt haben als 1895, wo es rund 17 000 Seelen zählte; jetzt sind's um etwa 1 000 mehr, die in rund 2 000 Häusern wohnen. (Ich entnehme diese Ziffern dem Zerbster Adreßbuch, dem einzigen zerbstischen Quellenwerk, das ich einsehen konnte. Merkwürdig aber bleibt mir unter diesen Umständen, daß ich in Zerbst keinen einzigen Neubau sah; freilich fand ich auch keine einzige leerstehende Wohnung angekündigt.) Das wären neun Köpfe aufs Haus, und mindestens die Hälfte der Häuser sind recht stattlich; man sieht, hier leben die Leute nicht zusammengepfercht, sondern hübsch geräumig. Nun ist aber noch obendrein in diese Seelen- und Häuserziffer die starke Garnison mit ihren beiden Kasernen inbegriffen; wie mag sich da erst in Wahrheit dies Verhältnis stellen! Freilich ist derlei bloß in sanitärer Beziehung erfreulich, und in der Tat können in Zerbst nur sieben Zivilärzte leben (wäre Brot für mehr, sie wären gewiß zur Stelle); materiell bedeutet es immer das Fehlen des Reichtums, der ja heutzutage ohne größere Betriebe und überfüllte Arbeiterhäuser in einer Stadt nicht mehr denkbar ist. Aber, sagt ich schon, auch die Armut fehlt. »Wir leben«, sagte mir ein wackerer Sattlermeister am Frauentorplatz, »vom Handwerk, von der Wurst, von dem Bier; unsere Gurken sind auf dreißig Meilen berühmt; von unseren Kartoffeln, lieber Herr, müßten Sie eigentlich auch schon gehört haben, und wenn die von Calbe nicht wären, so wären wir auch in Zwiebeln die Größten.« Auf die von Calbe war er darum fast ebenso schlecht zu sprechen wie auf die Dessauer, und als ich darüber erstaunt war, da ihn als Sattler doch die Zwiebeln nichts angingen, erwiderte er: »Aber unser Zerbst geht mich an; es ist doch wegen der Stadt!« Und dies lenkt mich auf den Punkt, wo die Tüchtigkeit der Zerbster am stärksten zutage tritt: ihren Gemeinsinn, ihre werktätige opferfreudige Pietät. Wie wahren diese Handwerker und Gemüsebauer die alten Zierden ihres Weichbildes, wie eifrig sind sie nach ihren bescheidenen Mitteln darauf aus, neuen Schmuck hinzuzufügen, und vor allem, wie pflegt hier jeder sein eigenes Haus. Derlei trifft man äußerst selten, auch auf hundert Meilen in der Runde nicht; das glaube man einem, der auf seinen Vortrags- und Erholungsreisen immerhin an die zweihundert deutsche Städte gesehen hat.