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Das obere Schwarzatal, von Schwarzburg aufwärts bis zur Quelle bei Scheibe, ist ein breites, heiteres Tal, durch das die Schwarza sanft ihre klaren Wellen rollt wie durch eine Ebene, denn Scheibe liegt nur 300 Meter höher als Schwarzburg und die Entfernung zwischen beiden Orten beträgt 34 Kilometer. Wenig Felsen, nur zahme, mäßig ansteigende Waldberge. Das Schönste, was dieses Tal bietet, sind die Wälder und das Merkwürdigste die Art, wie die Menschen hier ihr Brot erringen. Beides darf man nicht auf der Landstraße suchen. Und so bin ich nur ab und zu von einem Dorf zum andern gegangen, meist aber gefahren und lieber durch die Wälder gelaufen.
Das ist das richtige Waldland; wie der schönste Schmuck der Landschaft ist der Wald auch der beste Freund, der Schützer und Ernährer dieser armen, hart ringenden Menschen. Sein bescheidener Segen ist ihnen geblieben; andere, lockendere Gaben hat ihnen die Natur nur wie zum Hohn gespendet und wieder entzogen. Wie es den Leuten mit dem Gold der Schwarza ging, habe ich bereits erzählt; nichts Besseres erlebten sie mit dem Gold der Felsen. Verfallene Schachte trifft man hier oft; auf dem Tännig ob Schwarzburg, bei Glasbach, Goldisthal, Reichmannsdorf usw. Ein unheimlicher Anblick: wie Riesengräber, die noch ihres Inhalts harren, starren einem die Schlünde entgegen, aber sie haben ihn längst erhalten – wieviel Hoffnungen sind hier versenkt und wieviel Goldbarren; hundertmal mehr als je herauszuholen wären. Denn goldhaltig ist ja zweifellos der Quarz des Schwarzatals, nur eben in so winzigem Maße, daß er den Bergbau nicht lohnt. Durch fünf Jahrhunderte ist's immer wieder versucht worden, zuweilen mit gewaltigen Mitteln, so 1596 von Nürnberger Kaufleuten auf dem Tännig, dann 1770 von einem österreichischen Oberstleutnant von Domnitz in Goldisthal. Er baute hier einen stattlichen Herrensitz; fremde und heimische Arbeiter hatten reichen Verdienst, bis nach vier Jahren das Kartenhaus zusammenbrach. An die einstigen Träume von Gold und Reichtum mahnen nur die Namen der Dörfer: Goldisthal, Reichmannsdorf, und sie klingen heut wie Hohn, denn es sind die ärmsten im Tal. Man wird hier sonst nie von Einheimischen angebettelt, nur von fahrenden Leuten: in Goldisthal allein streckte mir zuweilen ein blasses Kind das Händchen entgegen, und auch für diejenigen, die's nicht taten, bettelten die abgezehrten Glieder und die hungrigen Augen. Vielleicht ergriff mich das Schicksal des Dorfes deshalb doppelt, weil es mich an das gleiche erinnerte, das eine mir sehr teure Landschaft getroffen hat; im südwestlichen Winkel der Bukowina habe ich einst schöne Monate verbracht. Hier wie dort ein goldhaltiger Fluß – ich habe ihn bereits genannt: die Bistrizza – und Gold im Quarz und beide zu wenig und nach kurzem Rausch Armut ohne Ende. Das Schicksal liebt oft solche Parallelen bis zum äußersten zuzuspitzen; hier wie dort war's ein ehemaliger österreichischer Offizier, und auch sein Herrensitz ist, wie der von Goldisthal, nun ein armseliges Gasthaus. Armselig ist alles in Goldisthal, nur die kürzlich erbaute gotische Kirche nicht. Sie ist hübsch, das Werk desselben, vielleicht nicht allzu begabten, aber grundtüchtigen Mannes, der seit Jahrzehnten das meiste im Fürstentum gebaut hat, aber anderswo hätte sie mir besser gefallen. Ich bin kein Feind von Gotteshäusern – wahrlich nein; und gerade arme, von der Sorge erdrückte Menschen bedürfen am meisten einer Stätte, wo ihnen Trost und Hoffnung quillt; aber es wäre doch vielleicht besser gewesen, das alte Kirchlein zu restaurieren und statt des Neubaus eine Fabrik zu bauen, etwa eine Holzwarenfabrik, wie sie nun in Glasbach, das vom gleichen Schicksal getroffen war, den Leuten Brot gibt. Besser und – wie soll ich's nur ausdrücken? – zweckdienlicher; denn Menschen, die ohne ihr Verschulden ihre Kinder hungern sehen, werden nicht so leicht an die Allgüte und Allgerechtigkeit Gottes glauben, und predigtet ihr sie ihnen mit Engelszungen...
Tauchte der Goldglanz bloß wie Irrlichtschein auf, so war ein anderer Segen nur eben zu früh erschöpft. Seit grauen Tagen bis ins 17. Jahrhundert hinein lohten hier die Rennfeuer; sie gewannen aus dem Erz direkt schmiedbares Eisen wie etwa heute die Völker Innerafrikas. Dann bauten sie Blauöfen, dann regelrechte Hämmer, aber der Eisengehalt war für lohnenden Betrieb zu gering; das Eisen Westfalens, um die Hälfte billiger herzustellen, schlug das thüringische tot. Und Tausende waren brotlos.
Anders, sagt ich schon, der Wald; er bleibt stetig wie das Grün seiner Tannen, und was er den Ahnen spendete, gewährt er nun den Enkeln. Wer die Forste in der Nähe der Dörfer durchstreift, trifft immer auf Leute, die hier dem Erwerb nachgehen, und vieles ist noch so wie vor Jahrhunderten.
Wie im Mittelalter ziehen auch nun im Morgengrauen des Montags die Köhler in den Hochwald, meist ihrer drei, den Sack auf dem Rücken, in dem sich für sechs Tage Proviant findet, ein schwerer Packen, denn es sind nur Kartoffeln drin und etwas Mehl. Die Arbeit beginnt mit dem Fällen der Stämme; es folgt das Stockmachen, das Zerkleinern in möglichst regelmäßige Scheite, dann werden diese zum halbkegelförmigen Meiler geformt, mit Erde und Kohlenschutt bedeckt und angezündet. Nicht dem Auge, aber der Nase verrät sich der rauchende Meiler weithin, oft auf eine Stunde Weges. Einmal bin ich ihm nachgegangen. Die Leute waren eben beim Essen, guckten mich mit erstaunten Augen aus den abenteuerlich berußten Gesichtern an und gaben Bescheid, nicht unfreundlich, aber spärlich. Ob das schwere Arbeit sei? Leichte nicht, namentlich das Stockmachen. Aber dann brenne es doch von selber? Ja, wenn man den Luftzug recht geregelt habe, nicht zu viel und nicht zu wenig. Wieviel Taglohn sie hätten? Sie sahen einander an und schwiegen, endlich sagte der Älteste: »Nicht zu viel!« – die Summe nennt kein Arbeiter in der ganzen Welt gern. Was sie da äßen? Darauf die freundliche Einladung zu kosten. Einer wischte seinen Holzlöffel manierlich an einer Handvoll Gras ab und reichte ihn mir hin. Ich holte mir aus dem Napf eine Probe; es war eine dünne Mehlsuppe mit Schwämmchen, die höllisch scharf schmeckte. Als ich den Mund verzog, lachten sie unbändig: »Das ist ja aber was Guts.« Es war Brennesselsuppe. Dann gab's als zweiten Gang gebratene Kartoffeln ohne Salz und Schmalz, und zum Nachtisch zog einer ein Stückchen harten Kornbrots hervor und teilte es mit den Genossen, dabei leuchteten ihre Augen auf; das war der Leckerbissen. Ob sie nie Schmalz und Salz zu den Kartoffeln täten? Schmalz nie, Salz wohl, aber heut sei Sonnabend, sie hätten sich's nicht gut eingeteilt; »wenn du praßt – du nichts hast!« verstand ich den Spruch, bin aber dessen nicht gewiß, denn der Dialekt der einsamen Waldleute war mir schwer verständlich. Ob sie Fleisch äßen? Ja, aber nur daheim an den höchsten Festtagen, da gäbe es Schweinefleisch. Zum Schluß erlebte ich mit den armen, rohen Menschen etwas, was mich ordentlich rührte. Ich fragte, ob sie auch rauchten. Freilich, wenn sie Tobak hätten. Ich zog meine Zigarrentasche hervor, es waren noch zwei Stück drin, die reichte ich ihnen. Aber davon wollten sie nichts wissen; bis ins Tal sei ein weiter Weg, und da ich's gewohnt sei, so würde ich's entbehren; ich möge die eine behalten und die andere »mit ihnen rauchen«. Wie das gemeint war, sollte ich bald erfahren. Sie baten mich, anzurauchen, ich ließ aber dem Ältesten die Blume. Nachdem er eine Minute wohlig aus der Zigarre gepafft, gab er sie dem zweiten, dieser dem Jüngsten, und der wieder wollte sie mir reichen. Da empfahl ich mich, meine Zeit sei um. Nun ja, feine Formen haben die Köhler im Schwarzatal nicht, aber ein gutes Gemüt.
Ein ähnliches hartes Leben führen die Holzfäller, aber nur anscheinend das gleiche wie einst; in Wahrheit ist's mit der geregelten Forstkultur nur immer beschwerlicher geworden. Einst durften sie die Stämme am Waldrand oder in der Nähe der Bergbäche schlagen, seit zweihundert Jahren schon sucht der Förster die Bäume aus. Denn Thüringen hat die älteste Forstkultur in Deutschland, eine ältere als Preußen, wo sie erst Friedrich der Große begründete, und im Fürstentum, wo der Wald etwa die halbe Bodenfläche bedeckt, wird sie besonders gepflegt. Das Fällen ist die geringere Arbeit als der Transport ins Tal. Vom November bis zum März sausen sie in Schlitten hinunter, im Frühling und Herbst müssen die Wildbäche, durch Schleusen gestaut und geregelt, die Arbeit tun. Unglücksfälle, wird mir gesagt, kommen nicht häufiger vor als in anderen Berufen; der Wäldler weiß mit seinem Wald Bescheid.
Auch Pechhütten gibt's noch im Schwarzatal, aber weniger als einst, denn das Lachten (Schälen), den Harz zu gewinnen, schadet der Tanne; es ist ja gleichsam das Blut, das ihren Wunden entquillt. Hier habe ich keine Pechhütte gesehen wie vor zehn Jahren um Ilmenau so viele. Hingegen mehr Holzleserinnen als anderswo. In den Morgenstunden ist der Wald oft wie besät mit roten, blauen und schwarzen Punkten; das sind die Kittel der jungen Mädchen und der Großmütterchen, welche die abgefallenen Äste in die Tragkörbe tun. Die Lese ist jetzt nur an zwei bestimmten Wochentagen gestattet, aber es kommt vor, daß so ein junges Ding sich den Tag nicht merkt. Auch darf man natürlich nur Äste lesen, die bereits herabgefallen sind, aber es kommt vor, daß man ihnen zum Abfallen verhilft. Vollends besteht bezüglich der Dicke der Äste, die man mitnehmen darf, zwischen den Förstern und den Leserinnen große Meinungsverschiedenheit. Es ist ja in Zentimetern vorgeschrieben, aber das kann man sich nicht merken; so hält man sich daran, daß ein Ast höchstens so dick sein darf wie ein Arm oder eine Wade, und die sind doch von verschiedener Dicke. Nur daraus ist es auch zu erklären, daß die Förster die Äste junger Leserinnen viel seltener ob ihrer Dicke bemängeln wie die der alten. Es wird eben der mitgebrachte Maßstab billig berücksichtigt.
Auch an Tagen, wo kein Holz gelesen wird, trifft man im Wald solche buntröckige Vögel, die zuweilen ein Liedchen piepsen, immer aber, wenn es ihrer zwei sind, schwatzen. Denn die Sommerfrischler, die in fast allen Dörfern des Tals sitzen, wollen Waldblumen und zahlen dafür. Das also ist, wie überall so auch hier, ein neuer Segen des Waldes, aber er wird hier verständnisvoller aufgenommen als anderwärts. Denn diese Leute lieben ihren Wald samt allem, was drin blüht, und wundern sich nicht wie zum Beispiel die im Salzkammergut über die närrischen Fremden, die Blumen hübsch finden; das tun sie selber. Freilich die Topfpflanzen gefallen ihnen viel besser; selten ein Haus, das nicht sein blühendes Fensterbrett hätte: »Origele und Nägele« (Aurikeln und Nelken), daneben Rosmarin, der getreue Geleiter des Wäldlers von der Wiege bis zum Grabe. Ein Zweiglein der stillen Blume liegt auf dem Polster des Täuflings, wenn er zur Kirche getragen wird; es wird ebenso ängstlich darauf geachtet, wie es vermieden wird, daß an dem Tage ein Grab in der Gemarkung offen stehe. Aus Rosmarin (und Preiselbeerenkraut) ist der Kranz gewunden, mit dem die Schwiegereltern die Braut schmücken, wo ihn nicht die neumodische Myrthe verdrängt hat; uralte Mode aber, die ewig jung bleibt, ist, daß viele ohne grünes Kränzlein im Haar zur Kirche gehen. Der Bräutigam hingegen – o Björnson, wo ist dein Handschuh? – trägt auch in solchen Fällen den Rosmarinstengel am Rock, ebenso die Brautführer. Auf dem Sterbekissen aber liegt wieder ein Rosmarinstengel, und auch das Geleit trägt diese Blume. Mit dem Hausgarten steht's lange nicht so gut wie mit dem Fensterbrett, aber selbst der dürftigste hat einen Strauch Rosen. Sie sind unentbehrlich, schon als Orakel. Will das Mädchen erfahren, ob's der Geliebte ernst meint, so setzt sie zwei Blättchen als Kähne in den Bach, das erste ist sie selber und das zweite er. Ist er nun eifrig hinter ihr her, »wie der Mönch hinter der Nonne« (so sagen die Slawen, und, seltsam genug, sagen sie's auch hier, obwohl sie nun seit vier Jahrhunderten keine Klöster mehr haben), so ist's gut; wo nicht, so läßt sie – zwei andere Rosenblättchen auf dem Bach schwimmen.
Ein neuer Erwerbszweig ist auch das Sammeln von Beeren: Erd- und Himbeeren, Heidel- und Preiselbeeren. Es ist vergnügliche Arbeit für die rotbackigen Dinger; wie die Bachstelzen hüpfen sie auf nackten Sohlen schwatzend durch den Wald und bergen den Fund zum Teil im Mund, zum Teil im Korb. So kann man ihnen schon an den frischen Lippen ansehen, welche Gattung von Vaccinium sie gelesen haben, die schwarze Heidel- oder die rote Preiselbeere. Um über die volkswirtschaftliche Seite der Sache ins klare zu kommen, habe ich die Hübschen unter ihnen darnach gefragt; die Häßlichen hätten's mir ja vielleicht auch sagen können, aber man muß sich das Studium möglichst angenehm machen. Die Hübschesten waren zwei blutjunge Dinger, die ich bei Katzhütte traf; sie sahen so verschieden aus, wie Kaukasier überhaupt untereinander sein können. Die eine schlank, blondhaarig, blauäugig, mit einem schmalen Gesicht, die andere klein, Aug und Haare schwarz, das Gesicht rundlich und breit wie die Gestalt. So verbildlichten sie mir zugleich sehr angenehm die beiden Menschentypen des Tals, deren Grenzlinie etwa der Katzebach ist; von dort bis über Goldisthal hinauf sitzt der kleinere schwarze, abwärts aber bis zur Mündung der längere blonde Schlag. Mischlinge zwischen Deutschen und Slawen sind sicherlich beide, nur schlägt bei den Blonden das germanische, bei den Schwarzen das slawische Blut mehr durch; es stimmt dazu, daß diese ihre Friedhöfe mit lebendigem Fichtenzaun umhegen, wie man's zuweilen am Balkan trifft; es sieht anmutig und tröstlich aus. Mit diesen beiden nun, weil sie die Hübschesten waren, veranstaltete ich die gründlichste Enquete; sie waren blutrot, lachten, steckten auch die Pfötchen in den Mund, gaben aber Bescheid. Die Ergebnisse meiner Forschung sind die folgenden: Erdbeeren waren bis zum vorigen Sommer nur für die Fremden zum Essen da; dies Jahr sind, ohne daß diese wichtigste Verwendung aufgehört hätte – »sie fressen's immerzu gar gern« –, zwei neue Sachen aufgekommen durch eine Berliner Familie. Die Köchin, Auguste heißt sie – »kennen Se se 'leicht, 'ne Dicke, Blonde?« –, macht Erdbeeren ein; sie hat's auch der Frau vom »Wurzelberg«-Wirt gezeigt, wie man's macht, und diese anderen; das wird man nun nachtun und ein kleines Versandgeschäft beginnen wie schon früher mit eingemachten Himbeeren. Die zweite neue Sache hat Augustens Fräulein aufgebracht – aber da platzten sie los, und es währte fünf Minuten, bis ich's endlich erfuhr: das Fräulein also macht aus den Erdbeeren einen Brei und schmiert sich ihn vorm Schlafengehen übers Gesicht. Warum sie das täte, fragte ich. »Weil sie geel (gelb) is un gar gerne rodhe Backen kriegen dhäte.« Ob sie das auch nachtun wollten? Und da sagten die beiden Dingerchen wie aus einem Munde, indem sie mich aus blauen und schwarzen Augen gleich schalkhaft anblitzten: »Wenn Se glauben, daß mer's nötig haben dhäten!« Ja, so sind sie – und wenn's nur sechzehnjährige Beerenleserinnen sind und vor ihnen steht ein angegrauter Mann, der im Schweiße seines Angesichts die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schwarzatals ergründet, kokettieren müssen sie. Was aber die Himbeeren betrifft, so werden sie nicht bloß den Fremden frisch verkauft und als Eingemachtes versendet, sondern man macht seit zwei Jahren auch Himbeersaft daraus; der Krämer hat eine Presse, verlangt aber für die Benutzung »ein Sündgeld«, und daher baut jetzt der Knöpfchehannes selbst eine Maschine; der will's billig tun. Die Heidelbeeren wieder werden nicht eingemacht, nicht gepreßt, sondern teils essen's die Fremden, teils verkauft man sie in Körben »wie 'n Häusche« an die Weinhändler; »dadervon wird der Win sehre guet!« sagten diese ahnungslosen Geschöpfe. Schließlich die Preiselbeeren, die würden meist eingemacht gegessen; dann verkaufe man sie auch an die Branntweinbrenner, die machten den feinsten Schnaps daraus; ob ich noch kein Beerenwasser getrunken hätte. Ich mußte verneinen; in Likören bin ich überhaupt erbarmungswürdig schwach. Nun das Letzte: wieviel sie wöchentlich verdienten, da haperte es; »acht Groschen«, sagte die Hanne, »zwanzig« die Marie, beide ganz gedankenlos; das Geld bekam eben Mutter. Damit war der Kursus beendet; das ehrlich verdiente Honorar nahmen sie nur nach langem Zureden, obwohl sie doch sichtlich sehr arm waren; das erwiesen die geflickten Kittelchen. Für den Sonntag hatten sie wohl ganze; auch Schuhe, ein Schnürmieder und ein Halstuch, aber sicherlich nichts mehr von der alten Tracht. Die sieht man nur noch selten und dann an betagten, wohlhabenden Bauern. Außer im Erfurter Museum habe ich in den zwei Wochen, wo ich hier bin – denn nun sind's sachte so viel geworden –, diese Tracht ein einziges Mal gesehen, an einem behäbigen Paare in Mellenbach, sonntags beim Kirchgang. Er trug einen langen schwarzen Mantelrock, auf dem Kopf einen Dreimaster, im Haar den Bleikamm, der's zusammenhielt; sie einen schweren dunkelblauen Rundmantel über bauschigen Röcken; das greise Haar deckte eine schwarzseidene Mütze, deren Bänder unter dem Kinn gebunden waren. Nur diese sehr kleidsam Bandmütze sieht man noch oft, ab und zu auch das gestickte Mieder, aber die sieben Röcke übereinander – wie im Museum – sind vernünftigerweise verschwunden. Das war ja auch eine Tracht, die namentlich zur Sommerszeit außer dem Auge mindestens noch einen der vier anderen Sinne gröblich beleidigen mußte. Heute tragen die Frauen Blusen und Röcke, die sich nur durch die grellen Farben und den plumpen Schnitt von der städtischen Tracht unterscheiden; die Männer blaue Kittel und Mütze am Wochentag, sonntags Jägerrock und Hut oder Rock und Hose wie die Handwerker in den Marktflecken. Nur Zylinder habe ich noch nicht gesehen.
»Es ist anscheinend seltsam, in Wahrheit wohl begreiflich«, hat ein bekannter englischer Romandichter vor einigen Jahren nach zweitägigem Aufenthalt in Berlin an die »Times« berichtet, »daß die Berliner Droschkenkutscher zweiter Klasse dünne, die erster dicke Männer sind; diese verdienen eben mehr.« Ich würde vermutlich einen Ausspruch von derselben Richtigkeit leisten, wenn ich behaupten würde: »Die Beerenleserinnen im Schwarzatal sind jung, die Schwämmeleserinnen alt, denn dazu gehört mehr Erfahrung.« Die Wahrheit ist, daß die Frauen, die ich Schwämme sammeln sah, zufällig sämtlich alt waren. Die Ausbeute war groß, denn so reich an eßbaren Pilzen aller Art sind wenige Wälder Deutschlands; es ist eben der richtige Boden: sandig, mit Moos bedeckt, mit Nadelholz bestanden. Ganze Butten voll Morcheln, wilden Champignons, Steinpilzen und Pfefferlingen schleppten die alten Weiblein zu Tal. Ob sie so viel brauchen könne, fragte ich eine besonders eifrige Sammlerin. Du lieber Himmel, wenn's nur so viel wäre, das wäre schlimm! Jetzt, im Hochsommer, komme sie täglich dreimal. Was sie damit anfinge, fragte ich. Nun wollte sie sich gar ausschütten vor Lachen. »Man machet Feuer dadermit an«, neckte sie, »und stopfet's in die Bettpfühl, oh, da lieget man gut und drocken!« Dann aber, ob ich nicht wüßte, daß das »zum Fräßen« wäre, »zum Äßen« verbesserte sie sich manierlich, aber auch nicht ohne Ironie. Einiges verkaufe man an die Fremden, einiges esse man selber, das andere werde gedörrt oder eingemacht, das verkaufe man an die Händler oder bewahre es zum eigenen Gebrauch auf; das sei ein rechtes Labsal beim »äwigen Kartoffelfräßen; da därf man schon Fräßen sachen, das därfen Se glauben.« Ich glaubte es gern; die Schwämme sind den armen Leuten die einzige Würze ihrer dürftigen Alltagskost; von Kartoffeln allein werden sie ja satt, und das kann einem so ein langes Leben durch wirklich zuviel werden, auch wenn man's – und das ist freilich das Beste dran – nicht anders gewohnt ist und trotz aller Künste der Zubereitung. Die Kartoffeln werden abwechselnd gebraten, gekocht und geschmort, dann wieder gibt's Kartoffelbrei, zuweilen auch Zämpe (geschnittene, in Schweinefett gekochte Kartoffelstückchen) oder gar Pfannkuchen aus Kartoffeln (Scharbs), aber Kartoffel bleibt schließlich Kartoffel. Abwechselung in diese Alltagskost kommt nur am Sonntag, da gibt's bei den Wohlhabenden Bratwurst oder Hering, bei den Ärmeren zum mindesten Heringslake; auch bringt der Sonntag immer frisches Kornbrot, zumeist mit Fenchel oder Würze wie in Tirol, aber wie dort so geht es auch hier in der Woche häufig genug aus. »Fleisch mag ech nech«, sagte die muntere Alte auf meine Frage, »denn wenn ech's mächt, hätt ech's do nech!« Rindfleisch habe sie zuletzt vor zwei Jahren bei einer Hochzeit gegessen, Lammfleisch in den letzten Ostern bei einer Taufe, aber Schweinefleisch habe sie zu den höchsten Festtagen auch im eigenen Hause; ihr Sohn sei in der Fabrik und ein guter Mensch, und sie selbst verdiene durch das Schwämmelesen auch was. Sei's damit nichts, so sammle sie die »geele Blume«, die gebe, mit Branntwein aufgesetzt, das beste Heilmittel für Wunden. Sie meinte – ich ersah's dann aus Regels »Thüringen«, nebenbei bemerkt, einem so trefflichen Buche, wie wir es über wenige deutsche Landschaften haben – die Arnica montana, die der Älpler Mutterwurz nennt und ebenso verwendet. Auch für Tannensamen gäbe es ab und zu einen Groschen, freilich fielen selten brauchbare Zapfen herab, und wie ein Zapfensteiger könne sie's nicht machen; die kletterten auf die Tannen. Ich meinte, obwohl ich Widerspruch voraussah, das Leben müsse doch jetzt leichter sein als in ihrer Jugend; die Fabriken gäben guten Lohn, aber auch die Fremden brächten etwas Geld ins Land. Da kam ich aber schön an. Wer denn was von den paar Fremden hätte? Die Wirte und die Fleischer, und die wären auch früher schon in ihrem Fett erstickt. Und die Fabrikanten? Man schinde sich für sie das Mark aus den Knochen, und da sollten sie nicht zahlen? Sie wolle nicht so weit gehen wie ihr Sohn, der sage geradezu, das wären – mit Verlaub zu sagen – »Borschiss«, aber gute Menschen wären die Fabrikanten gewiß nicht. Nach einigen Hin- und Herreden wurde mir klar, daß sie »Bourgeois« meinte und damit allerdings einen üblen Begriff verband; ihr war's ein deutsches Wort und das entschuldigende »mit Verlaub« nicht überflüssig. Im Gegenteil, fuhr sie fort, in früheren Zeiten sei das Leben leichter und schöner gewesen, man habe vielleicht weniger verdient, aber das Geld sei mehr wert gewesen, ein Groschen soviel wie heut eine Mark. Und wieviel leichter, schöner Verdienst habe in dieser neuen, harten Zeit ganz und gar aufgehört. Ihre Mutter habe noch manchen guten Groschen für Zündschwamm eingenommen, jetzt sei er alle geworden, und wenn er noch aufzutreiben wäre, so gebrauche doch jeder die verdammten Zündhölzchen. Und dann der Handel mit Haaren! Sie selbst habe ihr Haar einem wandernden Friseur um zwei Taler verkauft, allerdings sei es »geel g'wesen wie Gold und lang wie drei Kuhschwänz« – die Frau erzählte davon, als wäre dieser Handel der Glanzpunkt ihres Lebens. Jetzt aber, seufzte sie, böte sich armen Mädchen kein solches Glück mehr. »Warum nicht?« fragte ich. Weil die Welt immer schlechter werde, war die Antwort; früher hätten die Stadtfrauen doch mindestens falsches Menschenhaar getragen, jetzt aber Wolle und Werg, und darüber zögen sie ihre eigenen »armseliche Ratteschwänzchen«. Zum Schluß aber bewies das scharfzüngige Weiblein doch sein gutes Gemüt. Wenn ich mich irgendwo im Wald setzte, möge ich ja darauf achten, daß mich keine Otter beiße, deren gebe es hier gar viele. Ich fragte, ob sie nie gebissen worden sei. »Nee«, sagte sie, »ech hab doch den Spruch!« Und weil sie gutherzig war, teilte sie ihn auch mir mit. Wenn man an eine Stelle kommt, wo man Ottern vermutet, so sagt man vor sich hin:
Otter, Otter, beiß mech nech, Ech breng der o viel Beeren met. |
Das muß man dann aber auch tun und einige Beeren für sie hinlegen. Ich dankte und fragte dann möglichst ernst, ob die Ottern diese Beeren auch äßen, denn meines Wissens seien sie sonst mehr für Mäuse und ähnliches Getier. Worauf das Weiblein mit schlauem Augenzwinkern: »Aber 's is ja o (auch) nur so 'n Zooberspruch!«