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Schon ein so stattliches, schönes, prächtig erhaltenes Rathaus haben sehr wenige Klein- und Mittelstädte Deutschlands. Wie eine rechte deutsche Bürgerburg, wie ein Wahrzeichen, daß diese Stadt, vom Schicksal an Stillstand und Niederlage eines schwächlichen Fürstengeschlechts gekettet, immer auch eigene Kraft besaß, blinkt es dem Beschauer entgegen, gewaltig hoch und tief und gewaltig breit, eine ganze Seite des großen Häuserrechtecks, des Marktes, ausfüllend, aber bei aller Massigkeit zugleich schön, weil fein und gefällig gegliedert. Es ist an achthundert Jahre alt, aber in währendem Zeitenlauf immer wieder umgestaltet, erweitert, nach Zerstörungen durch Feuersbrunst wiederhergestellt worden, zuletzt erst 1892, als im Jahre zuvor ein Brand den Hintertrakt nach der Nikolaikirche zu vernichtete. Also wahrlich kein einheitlicher Bau, im Gegenteil fast eine Musterkarte deutscher Baustile, und dennoch schön. Denn die Zerbster haben Glück gehabt, sie fanden immer Baumeister, die alt und neu trefflich zu verschmelzen wußten. Aber »Glück«? – nein! Die Zerbster haben ein prächtiges Rathaus, weil ihnen dafür gute Meister und gutes Material nie zu teuer waren. Von dem ältesten Teil, aus dem 12. Jahrhundert, sind nur am linken Seitentrakt Reste zu gewahren, plumpes, zyklopisches Mauerwerk, wie hier am Glockenturm oder an den Regensburger »Streittürmen«. Der eigentliche Bau stammt im Kern aus dem 15. Jahrhundert (um 1480), wurde aber zu Beginn des 17. (1616) umgestaltet, namentlich die dreigiebelige Fassade, ein schönes Stück deutscher Renaissance. Einzelnes an dem Bau mahnt noch heute daran, daß er ursprünglich in deutscher Backsteingotik hergestellt war; die Rückseite, der neue Trakt, zeigt wieder starke Anklänge an den gotischen Stil in seiner modernen Prägung. Diese bewegte Baugeschichte tut, wiederhole ich, der Gesamtwirkung keinen Abbruch; zudem ist ja die Fassade ganz einheitlich.
Vor dem Rathaus stehen zwei Wahrzeichen Zerbsts: der Roland von 1415, also nur elf Jahre jünger als der von Bremen, aber so vortrefflich erhalten wie meines Wissens kein anderer, bekanntlich das Sinnbild der städtischen »Freiheit« (Gerichtsbarkeit), und die goldene Butterjungfer, die mir schon der Wurstgreis in Güterglück verheißen hatte, eine kaum meterhohe weibliche Figur, die etwas Beckenähnliches im Arm hält, zwar in Wahrheit nur aus Messing, aber wohl noch älter als der Roland und ein Sinnbild – ja wessen? Als ich mir, den Kopf im Nacken, den Feldstecher vor den Augen, das seltsame Ding besah – denn die Butterjungfer ist auf einen Zahnstocher gespießt, eine sehr hohe, sehr dünne, sehr häßliche Holzsäule –, trat ein Schutzmann an mich heran und erläuterte: »Dieses ist eine alte heidnische Göttin, welche bedeutet, daß hier schon damals auf den Märkten eine gute Ordnung war.« Also eine marktpolizeiliche Göttin. Der Gemüsebauer hingegen meinte: »Diese ist eine Prinzessin, welche immer nur Zerbster Butter gegessen hat, weil es keine bessere auf der Welt gibt.« Aber ich glaube, hier gilt in Wahrheit das Wort des Herrn Kastellans: »Dieses ist nicht aufgeschrieben.« Und da selbst Baedeker meint, die Bedeutung sei ungewiß, so ist auch Raum für den Flügelschlag meiner eigenen Hypothese. Ich also glaube, die Butterjungfer ist ein Gedenkzeichen der vermutlich wie überall so auch hier nicht leicht errungenen Markt- und Messefreiheit der Stadt. Solche Gedenkzeichen finden sich wenigstens in süddeutschen alten Städten, wenn auch in anderer Gestalt. Ein drittes uraltes Wahrzeichen, das mir alle zu besichtigen empfahlen, habe ich leider übersehen, aber das ist nicht meine, sondern Hänschens und Ernstchens Schuld. Vor dem Rathaus erwischten sie in mir wieder ihre Augenweide, und teils weil ich die stolze Freude, als Sehenswürdigkeit zu gelten, sonst nie genossen habe, teils weil man das Unabänderliche doch mindestens benützen soll, nahm ich sie als Führer auf, aber die Brüderkreuze haben sie mir nicht gezeigt; vermutlich balgten sie sich eben. Es sollen drei Kreuze an der Stadtmauer sein, wo die bekannten drei feindlichen Brüder begraben liegen, die sich gegenseitig ganz und gar umgebrungen haben. Denn die Sage ist sehr verbreitet, nur der Gegenstand des Streites wechselt; dort ist's ein schönes Weib und anderwärts ein vergrabener Schatz, hier aber nur ein Kümmelbrot. Wenn es doch wenigstens eine Brägenwurst wäre!
An Denkmälern aus neuerer Zeit besitzt die Stadt eine hübsche Erzbüste Moltkes auf granitnem Sockel in der Breiten Straße; das Werk eines mir unbekannt gebliebenen Meisters, dessen sich auch eine weit größere Stadt nicht zu schämen brauchte, nur frappiert das Jugendliche des Kopfs; Moltke und Kaiser Wilhelm gehören ja zu den Gestalten, die sich die Phantasie freiwillig nie jung vorstellt; mit Bismarck ist es anders. Hingegen ist das Kriegerdenkmal von 1872 in den Anlagen nur eben die übliche, mit den Namen der Gefallenen bedeckte Sandsteinsäule; auch die Inschrift: »Den Toten zur Ehre, der Nachwelt zur Lehre« findet sich nicht hier allein. Schlicht ist auch die Granittafel an einem Haus gegenüber dem Rathaus (Markt 2): »In diesem Hause wohnte der Sänger und Held der Freiheitskriege Theodor Körner * 23. IX. 1791 † 26. VIII. 1813«, aber sie erscheint mir rührend und für den Geist dieser Stadt bezeichnend. Ich habe ja kein Buch hier, in dem ich nachschlagen könnte, aber meines Erinnerns hat Körner nie in Zerbst gelebt; es ist vielleicht kein Zufall, daß das Datum seines Aufenthalts auf der Tafel fehlt; er war wohl nur sehr kurz hier. Aber gleichviel, daß ein Dichter hier war, haben sie nicht vergessen und dankbar geehrt. Man sieht, in Zerbst könnte auch ein Dichter von mittlerem Wuchs eines Denkmals gewiß sein, er brauchte hier nur geboren zu werden, aber, sagt ich schon, es ist bisher kein irgend nennenswerter Poet so schlau gewesen, und der einzige Lyriker, der nach meinen Erfahrungen als Redakteur gegenwärtig hier die Lyra zwickt, verdient kein Denkmal, sondern daß man ihm tue wie er seiner Lyra.
Von den Kirchen der Stadt habe ich nur St. Trinitatis von innen gesehen, aber der Bau (von 1591) lohnt nur äußerlich den Blick, auch dies nicht allzusehr. Das gleiche gilt von der Nikolaikirche, die ein Jahrhundert älter ist; hier aber wäre mir das Innere interessanter gewesen; der Altar ist mit einem schönen Bild aus Dürers Werkstatt geschmückt. Sonderbar genug war auch hier nur der Turm zugänglich; auch hier stellte man mir »die schönste Landschaft« in Aussicht; auch hier wurde mir der frühere Herr Kreisdirektor als Beispiel vorgehalten; das scheint ja ein sehr rüstiger Beamter von weitem Horizont gewesen zu sein. Aber wenn auch eine Vogelschau immer hübsch ist, so widersteht doch ein erfahrener und wohlbeleibter Mann im Hochsommer leicht der Versuchung, zumal ein solcher Blick nur in einer größeren Stadt zum Verständnis des Stadtbilds unentbehrlich ist. So flüchtete ich lieber in die kühlen Kreuzgänge des alten Barfüßerklosters, wo jetzt das Francisceum, das Gymnasium der Stadt, untergebracht ist, und schwelgte dort nicht bloß in Kühle und architektonischen Freuden – die Kreuzgänge sind wirklich trefflich erhalten –, sondern auch in Jugenderinnerungen; in einer solchen Klosterschule habe ich meine ersten Schülerjahre verbracht. Oh, was waren meine Patres Dominikaner für gestrenge Herren, und auf welchem Umweg suchten sie unsere Geistes- und Herzensbildung zu fördern, denn der Körperteil, auf den sie am emsigsten einwirkten, liegt von Herz und Hirn ziemlich weit ab. Und dennoch, wie ich so durch die ewig dämmerigen Gänge schritt und in die Klassenzimmer guckte – genau solche hatten wir auch –, schien mir diese Zeit die schönste meines Lebens. Es ist doch gut für uns beladene Menschenkinder eingerichtet, daß unserem Gemüt im Rückblick auf die Vergangenheit alle Schatten erbleichen und nur das Sonnige bleibt.
Aber dies tröstliche Gesetz der Menschennatur gilt nicht bloß von der eigenen Vergangenheit, und gewiß steckt darin mit ein Stück des Zaubers, den alte Städte üben. Aber nicht darin allein, wenigstens hier nicht. Man soll große Namen nicht eitel nennen; Nürnberg ist an Kunstschätzen und, soweit das Alte noch vorhanden ist, auch im Straßenbild einzig; Rothenburg wirkt wie ein schöner Traum aus den Tagen der Renaissance, aber auch das verschollene, von niemand besuchte Zerbst bietet in seiner Art Unvergeßliches: das wohlerhaltene, fast durchaus einheitliche Gesamtbild einer Stadt aus einer allerdings weit dürftigeren Zeit, etwa der zwischen dem Beginn des Dreißigjährigen und dem des Siebenjährigen Krieges, aber eben ein Gesamtbild, wie ich wenigstens es noch nirgendwo gesehen habe. Von mancher Zerbster Sehenswürdigkeit habe ich schon erzählt, die größte bleibt doch die Stadt selbst. Schon ein Rundgang um die innere Seite der lückenlos erhaltenen Stadtmauer bringt Bilder von malerischem und noch mehr von kulturhistorischem Reiz; zur einen Hand immer die graue, gewaltige, mit Pfeilern und turmartigen Anbauten besetzte, von Schießscharten unterbrochene Mauer, zur andern Hand freilich hier, am Rande des Weichbilds, nur kleine, dürftige Häuser, aber wenige jünger als zweihundert bis dreihundert Jahre, manches auch nur noch ein mühselig gepflegter, durch ein neues Stelzbein auf den Füßen erhaltener Invalide, manche wieder, als wären sie vor zehn Jahren erbaut. Dieser Reiz aber wächst, wenn man den Straßenzügen folgt, die im Innern von einem Tor zum andern oder zum Marktplatz führen – ich nenne nur die Heide, die Alte Brücke, die Breite Straße, die Kirchgasse, obenan aber steht natürlich als Prachtstück der Markt –, und sich in das Gewirre der Gäßchen dazwischen verliert, wie in der Gegend des Klosterhofs oder der Jüdenstraße. Schon das geruhige Leben und Treiben der Menschen lenkt von der Gegenwart ab; ein Blick in die Werkstätten mit offenstehenden Türen, wo Meister, Gesell und Lehrling behaglich schaffen, der Meister seine Kanne Bitterbier neben sich, der Gesell sein Kännchen, während der Lehrling, um bei der Hitze auch seine Erfrischung zu haben, bald von dem einen, bald von dem andern bei den Ohren erwischt wird – oder ein Lugen in die Wohnstuben, wo Urväterhausrat steht: riesige Schränke, breite behagliche Kommoden, die wie freundliche dicke Tanten anmuten, und Kanapees mit unmöglich hoher und steifer Rückenlehne. Sind aber die Fenster verhangen, so sind sie's mit Filetgardinen, wirklichen, wahrhaftigen, mit der Hand gearbeiteten Filetgardinen; die scheinen jetzt in Zerbst das Modernste; wenn nicht der Leser, so wird doch die Leserin durch dieses einzige Detail daran erinnert sein, wo wir sind. Wo? In einer hübschen friedlichen, freundlichen Mittelstadt um das Jahr des Heils – sagen wir – 1683, als der schlimme Türke die Kaiserstadt Wien berannte, und zwar wohlgemerkt in einer deutschen, echt deutschen Stadt. Und dagegen spricht doch wahrlich auch die Zahl der vielen kleinen Wirtschaften nicht, richtiger die Unzahl, über die noch ein Wort zu sagen sein wird... Aber am meisten reißt doch das Straßenbild, die Bauart der Häuser den Wanderer aus dieser lärmvollen Zeit um zwei Jahrhunderte zurück. Große, monumentale Bauten aus den Tagen der Renaissance und des Zopfstils kann man ja oft genug sehen, sogar gewiß größere und schönere als hier, aber wie damals die Bürgerhäuser aussahen, wie eine Straße und wie eine Stadt, das lehrt uns Zerbst wie sehr wenige Orte in Deutschland. Da findet sich noch ab und zu, etwa ähnlich wie in den alten Ostseestädten, ein Ziegel- oder Fachwerkbau, der als Typus der Gotik in ihrer eigentümlichen Ausbildung für norddeutsche Profanbauten gelten kann, dann aus den Tagen der Renaissance ganze Zeilen von Giebelhäusern; viele mit hohem, den Dachfirst weit überragendem Giebel, einige mit polychromem, leider zumeist verblaßtem Schmuck; endlich Fachwerk, das mit jeder Etage mehr vorneigt oder zurückfliegt. Kurz, man kann mehrere Minuten lang dahinwandeln, ohne aus der Täuschung gerissen zu sein, man sei in Nürnberg oder Rothenburg, bis sich Häuser dazwischenschieben, wie man sie dort nicht findet: Barockbauten, meist hübsch und stattlich, Spuren höfischen Glanzes, kleine Palais, die dem Adel oder einem hohen Ministerio als Wohnstätte dienten, soweit die Herrschaften nicht, wie die Damen an der Schloßfreiheit, durch ihr Hofamt an die nächste Nachbarschaft des Schlosses gebunden waren. Namentlich nachdem die Sonne gesunken war, als alle Fenster sich öffneten, die Bürger vor ihre Häuser traten und miteinander plauderten, ward mir wieder zumut wie einige Stunden zuvor im Schloßpark. Ich horchte absichtlich nicht auf, als ein dicker Mann ärgerlich eine Standrede hielt und andere wieder sich freuten; so konnte ich glauben, der Dicke eifere gegen den türkischen Erbfeind und die anderen jubelten über die Entsetzung Wiens durch den tapferen Sobieski. Der Ärger wird wohl den Agrariern gegolten haben und die Freude dem morgigen Vogelschießen, aber gleichviel, wer hier nicht wenigstens auf Minuten sein 20. Jahrhundert ganz los würde, müßte ein Mensch ohne Phantasie und Stimmungsfähigkeit sein...
Und die vielen Kneipen, sagt ich schon, stimmen zum Stadtbild. Die alten Deutschen tranken immer noch eins; auch daran halten die Zerbster treulich fest – alle Wetter, was müssen die für einen Durst haben! Das wimmelt nur so von Bier- und Weinstuben, von Herbergen und Gasthöfen; jedes fünfzehnte Haus ist ein Wirtshaus; das hab ich all meine Tage noch nicht gesehen. Ja, jedes fünfzehnte! Das Adreßbuch verzeichnet 44 Gasthöfe, 18 Wein- und 90 Bierwirtschaften (in vielen wird wohl auch edler Branntewein zu finden sein); in summa also 152 Troststätten für durstige Kehlen – und nicht ganz 2 000 Häuser gibt es. Wie könnten diese 152 Wirte leben, wenn nicht der alte Herrgott den Zerbstern, die er liebt, zu allem anderen auch einen besonders schönen Durst beschert hätte! Rechnen wir von den 18 000 Seelen 1 000 Soldaten, die wenig aus ihren Kantinen herauskommen, ab, veranschlagen wir von den restlichen 17 000 dann die Frauen nur mit der Hälfte – die kneipen doch nur ausnahmsweise mit! – und subtrahieren wir von den nun verbleibenden 8 500 Mannsleuten nur 3 500 als solche, die noch nicht oder nicht mehr ins Wirtshaus gehen können, so entfallen also auf jeden Wirt bestenfalls 37 Zecher; die müssen dann natürlich durch Eifer ersetzen, was an der Zahl fehlt. Aber 37 – das wäre für viele Wirte noch eine herrliche Ziffer. In Wahrheit haben die einen sehr viele und die anderen fast keine Gäste; der schöne Rephunsche Garten vor dem Tor zum Beispiel sieht an Konzerttagen, wie mir ein Kellner stolz erzählte, viele Hunderte von Gästen; ob der Musik, ob des Bieres, ob des Gemeinsinns wegen, weiß ich nicht. Denn mit dieser Wirtschaft hat es eine besondere Bewandtnis, die schwerlich irgendwo ihresgleichen findet; was es so alles auf diesem kuriosen Planeten gibt! Ein Wohltäter der Stadt, der verstorbene Kammerherr von Rephun, hat ihr das schöne Anwesen mit der Bestimmung vermacht, daß der Pachtzins kapitalisiert und dann, sobald der nötige Betrag erreicht ist, zum Bau eines neuen Kranken-, eines Pfründenhauses usw. verwendet werden soll – und je stärker der Konsum, um so höher die Pachtsumme. »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci!« – die Zerbster dürfen das wahrlich von sich sagen! Anderswo muß die Kommune die Steuerschraube anziehen, daß den Bürgern die Schwarten krachen – und diese glücklichen Leute saufen sich in aller Gemütlichkeit die großartigsten Wohltätigkeitsanstalten zusammen. Ich bin überzeugt, bei diesem Durste wird Zerbst in zehn Jahren eine Musterstätte der Philanthropie sein. Sobald dies erreicht ist, denken sie wohl auch an die kleinen Wirte mit wenig Gästen; bis dahin müssen sich diese Leute aus eigener Kraft helfen, und das tun sie auch. Soll bei geringem Einspruch das Bier süffig bleiben, so muß der Wirt es trinken; und das geschieht. Weiß der Himmel, ich bin doch von meinem heimatlichen Halbasien her schöne, lebhaft kolorierte, stattlich entwickelte Trinkernasen gewöhnt, aber solche Prachtexemplare wie an zwei Zerbster Bierwirten habe ich noch nie vorher anstaunen dürfen. Betrunken aber waren die Leute nicht. Ich habe in diesen zwei Tagen nur einen einzigen Betrunkenen gesehen; er johlte just vor dem Rathaus, an dem doch der Spruch von 1541 geschrieben steht: »Wer hierrein nicht will, der halt sich ehrlich und still.« Nun, er kam auch »hierrein«. Aber wie rücksichtsvoll die beiden Schutzmänner ihn faßten, ordentlich höflich! Alle dreizehn Schutzmänner von Zerbst sind höflich. Sind keine Schutzmannsposten in Berlin frei?
Was mich betrifft, so habe ich, um bei dem feuchten Kapitel zu bleiben, von wegen Brägenwurst und Bitterbier Schulzen gegenüber der Nikolaikirche in Nahrung gesetzt. Nicht ohne Bangen betrat ich das Lokal, das mir ja schon mein Gönner in Güterglück empfohlen hatte. Aber ich bin in wichtigen Dingen vorsichtig, und darum fragte ich vor St. Nikolai einen Mann, der von ungefähr des Wegs daher kam und mir durch seine Nase den Eindruck eines Sachverständigen machte, wo das beste Bitterbier geschenkt werde. »Gut ist's überall«, erwiderte der Mann, ein Handwerker. »Aber... was sind Sie denn?« Ich sah ihn verblüfft an; auch der Schlächtermeister hatte ja aus diesem Anlaß zunächst nach meinem Stande gefragt! »Warum?« – »Weil wir hier«, erwiderte dieser immerhin schon gebildete Mann, »Ordnung halten, dafür sind wir berühmt. Die Kaufleute gehen dorthin, die Krämer dorthin, die Schüler dorthin, die Handwerksmeister dorthin, die Gärtner dorthin (er benannte jedesmal das Lokal und wies nach der Himmelsrichtung, wo es lag), und die Richter und Ärzte gehen zu Schulzen.« – »Wohin gehen denn die Zeitungsschreiber?« fragte ich. – »Wir haben hier«, erwiderte er, »zwei Zeitungen, die ›Zerbster Extrapost‹ ist amtlich, die ›Zerbster Zeitung‹ ist unabhängig. Ich weiß nicht, wo die Herren kneipen, aber – das kann ich Ihnen sagen – in demselben Lokal gewiß nicht.« – »Ich bin selbst von diesem Fach«, sagte ich. »Was raten Sie mir?« Er zuckte die Achseln. »Riskieren Sie's bei Schulzen!« Ernst schritt er von dannen; ich sah ihm lange nach... Dann riskierte ich's; man hat mich nicht nach dem Stand gefragt. Mein Urteil über die beiden berühmten Zerbster Erzeugnisse aber fasse ich wohlerwogen wie folgt zusammen: Brägenwurst ist gut; Bitterbier ist sehr gut. Brägenwurst will ich gern essen, wenn ich wieder einmal nach Zerbst komme, aber Bitterbier möchte ich auch in Berlin trinken. Ein starkes, nahrhaftes, würziges Bier.
So gestärkt, machte ich einen Spaziergang um die Außenseite der Stadtmauer. Der Stadtgraben ist zum Teil zugeschüttet, ebenso die Wälle teilweise nivelliert. So ist der Raum für stattliche Anlagen gewonnen worden. Der Blick geht hier ins Grüne, dort auf die düstere Mauer mit den ragenden Zinnen. Es ist ein hübscher Spaziergang.
Mitten in diesen Anlagen liegt die Vogelwiese. Das heutige Fest warf dort natürlich schon am Morgen seine Schatten voraus; einige Buden mit Lebkuchen und viele mit Bier und Wurst, eine »dickste und schönste Dame der Welt«, Kraftmesser, Schnellphotographie usw. Aber es war noch nichts fertig, nur die »schönste Dame« ausgenommen, die es bereits ganz war. Ein wildbärtiger Herr mit märchenhaftem Schmerbauch, den ich anfangs für ihren Konkurrenzriesen hielt, entpuppte sich als Festordner. »Unsere Schützengilde«, sagte er mir stolz, »ist mehr als fünfhundert Jahre alt, und zur Königskette haben sogar russische Zaren beigesteuert, aber wir gehen trotzdem mit der Zeit... Lesen Sie!« Er reichte mir die heutige »Zerbster Zeitung« mit dem Abschiedsgedicht des abtretenden Schützenkönigs. Einen ungestümen Fortschritt schien es mir nicht zu beweisen; so schlechte Verse hat man schon vor hundert Jahren gemacht, und die durch Sperrdruck hervorgehobenen Zeilen: »Zum neuen Jahrhundert im neuen Zug / Die Königsfahrt war mir beschieden!« waren mir sogar nicht verständlich, obwohl »fahrt« noch obendrein fett gedruckt war. »Aber da steckt's ja eben!« erwiderte der Zerbster auf meine Frage, »durch fünfhundert Jahre ging der neue König vom Schützenhaus zur ›Deutschen Schenke‹, seit 1900 fährt er per Droschke im Zuge; ist das kein Fortschritt?« – »Gewiß«, gab ich zu, »besonders, wenn er dick ist.« – »Er ist dick!« bestätigte er mit Würde. Sollte mir da am Ende gar das Glück beschieden gewesen sein...?
Auch zum Friedhof bin ich auf dieser Wanderung um die Stadt gekommen; er ist nicht »der schönste in Deutschland«, wie gestern mein wackerer Meister in zerbstischer Geschichte und Topographie meinte, aber allerdings auch sehr hübsch, ein rechter »Totengarten«, mit seinen Alleen und Bosketts, Hecken und Grasplätzen, dem Rondell und Wasserbassin einem Park der Zopfzeit ähnlicher als einem Friedhof. Und das ist erfreulich; den Toten ist's auch in einer Sandwüste wohl, in der sich Kreuz an Kreuz drängt, aber für die Lebenden ist's so tröstlicher. Natürlich ist's nicht der älteste Friedhof der Stadt; die lagen gewiß, wie überall, zuerst um die Kirchen oder doch noch innerhalb der Stadtmauer. Wann dieser hier angelegt ist, konnte ich nicht erfahren; die hübsche blonde Gärtnerstochter, welche die Blumenbeete begoß und leise dazu sang, sagte mir auf meine Frage: »Fünfzig Jahre!« Aber so einem Guckindiewelt kann selbst ein Friedhof nicht jung genug sein; er ist gewiß mehr als doppelt so alt. Ich bin lange die stillen schattigen Pfade gegangen und habe die Inschriften gelesen; der Mitteilung wert scheint mir nichts darunter. Eines aber verdient Erwähnung, weil es sich zwar nicht hier allein, aber selten findet; große Steintafeln, deren Inschriften keinem einzelnen Toten gelten, sondern dieser ganzen Friedensstätte. Sie atmen den Geist des Rationalismus. Einige habe ich mir notiert: »Tod ist nicht Tod, ist nur Verwandlung sterblicher Natur.« – »Die Vernunft gibt Hoffnung, die Religion gibt Gewißheit.« Endlich, was mich zumeist erfreut hat, Schillers Vers: »Im Herzen kündet es laut sich an: / Zu was Besserem sind wir geboren, / Und was die innere Stimme spricht, / Das täuscht die hoffende Seele nicht.« Ich glaube nicht, daß dieser Vers heute zu gleichem Zweck, nicht als einzelnes Epitaph, sondern gewissermaßen als Bekenntnis der Gemeinde gewählt werden könnte, glaube es von keiner Konfession. Ach, wie herrlich sind wir seit hundert Jahren vorwärts gekommen!
Zum Schluß berichte ich von der einzigen Unterredung, die ich in Zerbst mit einem gebildeten Manne hatte. Er war, glaube ich, Beamter, ich setzte mich auf dieselbe Bank der Anlagen, wo er saß, und begann Zerbst zu rühmen; die Regierung aber tue wohl nicht genug für die Stadt. »Was soll sie noch mehr tun?!« erwiderte er mit überlegenem Lächeln. »Sie hat die Bahn gebaut, eine Garnison hierhergelegt, ebenso das Haus-, Hof- und Staatsarchiv.« Das hatte ich nicht gewußt und fragte als Autographenhamster eifrig, ob auch alte Urkunden dort wären. »Oh, sehr alte, aus dem zehnten Jahrhundert!« Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Wo das Archiv wäre und ob ich diese Urkunden nicht sehen könnte. »Im Schloß ist's. Was ist Ihr Beruf?« – »Schriftsteller.« – »Die Besichtigung dürfte kaum möglich sein. Es ist ja ein Geheimarchiv.« Das sah ich ein; wie leicht konnte ich durch die indiskrete Veröffentlichung einer Urkunde von 940 das ganze Herzogtum in die Luft sprengen... »Was also hätte«, fragte er, »die Regierung Ihres Erachtens noch für Zerbst tun können?« – »Mancherlei«, meinte ich, »was selbst dem Fremden auffällt. Sie erwähnten vorhin, die Regierung habe die Bahn gebaut. Gewiß, Zerbst ist Bahnstation. Und wer die Linie Magdeburg-Dessau gebaut hat, ob eine Privatgesellschaft, wie ich glaube, oder Ihre Regierung, ist gleichgültig. Denn wer immer bei der Trassierung der Linie auf kostspieligen Umwegen diese Stadt von 18 000 Einwohnern umgangen hätte – der kürzeste und billigste Weg war ja der über Zerbst –, wäre eben ein Narr gewesen. Aber diese Linie wird von der später erbauten Berlin-Wetzlarer, der Kanonenbahn, durchschnitten. Und wo? Nicht in Zerbst, sondern einige Kilometer von der Stadt, in Güterglück, einem Stationshaus auf freiem Felde. Was hätte es für Zerbst bedeutet, wenn es dieser Knotenpunkt geworden, mit Berlin und Thüringen in direkte Verbindung gekommen wäre!« Er lächelte überlegen: »Die Bahn hat ja Preußen gebaut!« – »Gewiß! Aber der Bundesstaat Anhalt hätte dem Bundesstaat Preußen sagen müssen: ›Hier handelt sich's um das Schicksal meines Zerbst! Ist's ein Umweg von einem oder zwei Kilometer‹ – und mehr könnt's nicht gewesen sein, das lehrt die Karte –, ›so trage ich die Kosten.‹ Ist das geschehen?« – Er zuckte die Achseln. »Oh, die Zerbster leben auch so ganz gut! Nein, für Zerbst geschieht viel, namentlich auch durch Verleihung von Hoflieferantentiteln!« – »Ja«, gab ich zu, »das geschieht. Man kann hier bei zwei Hofbuchhändlern Bücher kaufen, bei einem Hoftraiteur speisen, bei einem Hofweinhändler trinken und so weiter... Kurz, ich habe in einer so kleinen Stadt wirklich, das muß ich sagen, noch nie so viele Hoftitel vertreten gefunden!« – »Also das geben Sie zu?« – »Gewiß, aber für meine Meinung scheint mir dies kein Gegenbeweis.« – »Da bin ich neugierig.« – »Weil für derlei Titel reichliche Taxen gezahlt werden und ich doch nicht behauptet habe, daß Zerbst die Regierung zu wenig fördert.« Da empfahl er sich mit einem Abschiedsblick, der nicht etwa bloß »Verruchter!« bedeutete, nein, dieser Blick bedeutete geradezu: »Sozialdemokrat!«
Nun ist auch die Sonne meines zweiten und letzten Zerbster Tages gesunken. Der Schaffner der Pferdebahn wird bald zur Fahrt nach dem Bahnhof klingeln. Es ist der letzte Zug, der heute noch nach Dessau geht. Fahr ich nur bis Dessau und sehe mir Wörlitz an? Oder gehe ich von Dessau gleich nach Bitterfeld weiter und erreiche den Nachtschnellzug nach Frankfurt? Aber bis diese Pferdebahn mich zum Bahnhof gebracht hat, könnte ich ja über eine Weltreise schlüssig werden, geschweige denn über eine solche Frage...
Zerbst, im August 1901