Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Auf der Rückfahrt, bei kühleren Lüften und im Rot der sinkenden Sonne, sah die bescheidene Landschaft hübscher aus als auf dem Hinweg, aber sicherlich nicht deshalb waren alle Gesichter in dem überfüllten Coupé heiter, und das fröhliche Gesumme wollte nicht verstummen; das war der Nachklang von Wörlitz. Auch heute fiel's mir im Park auf, und meine Dessauer Bekannten sagen, das sei immer so. Kein Wunder, zu allem übrigen ist Wörlitz auch sehr amüsant, und jeder Geschmack, vom feinsten bis zum leutseligsten, findet dort seine Rechnung... Nur ein Antlitz war düster, und vielleicht fiel's mir zunächst nur des Gegensatzes wegen auf, dann aber bannte mir auch die Schönheit der Züge und eine Ähnlichkeit den Blick. Eine liebe junge Frau in tiefster Trauer, blond und der Gabrièle d'Estrées ähnlich, soweit ein keusches, ins tiefste Herz getroffenes Weib überhaupt an eine lachende Buhlerin erinnern kann. Ihr Gatte, ein schneidiger Herr mit kühnem Haby-Schnurrbart, sprach unablässig von all den heitern Sächelchen von Wörlitz; sie nickte zuweilen, so, um seinen guten Willen zu ehren, aber die tiefen Winkel des rührend blassen Mündchens hoben sich nicht, und der Blick blieb starr. Solche Trauer erfüllt ein so junges Weib nur um einen Verlust. Er erzählte von Interlaken, wo sie übermorgen sein würden, und dann könne sie nach Luzern, an den Genfer See, wohin sie wolle... Mann, dachte ich, du meinst's ja gut. Aber sieh doch ein, wie vergeblich jetzt noch das alles ist. Und liefest du mit deinem armen jungen Weib die Welt zu Ende und zeigtest ihr alle irdischen Paradiese, vor ihrem Blick steht doch immer nur ein einziges Stücklein Erde: das kleine Grab auf dem Friedhof der Weltstadt, wo ihr einziges Kind so ganz allein schläft...

Des Abends saßen der Kunsthistoriker und ich noch ein halbes Stündchen im Garten des »Goldenen Beutel« beisammen... »Magdeburg, Halberstadt bis Halle«, entwickelte er sein morgiges Programm. »Und Sie?« Ich wolle in Dessau bleiben, sagte ich, die Sammlungen ansehen. »Und übermorgen wieder nach Wörlitz!« meinte er lächelnd. »Ich hab's Ihren Augen angesehen, der selige Schoch hat's Ihnen angetan. Jedoch ich warne Sie: alte Kunst ist ewig jung; Claude Lorrain, Ruisdael, aber veraltete Natur – brr! Diese strotzenden Bäume sind dennoch tot, auf diesem grünen Rasen liegt Staub. Und schreiben können Sie ohnehin nichts darüber! Glauben Sie, es ist Zufall, daß man nie was über Wörlitz liest? Es würde die Leute nur langweilen...« Und fort war er, zum Zug nach Magdeburg. Ich aber blieb noch lange, sehr lange allein sitzen, und während ich immer noch eins trank unter den kühlen, rauschenden Bäumen, versank ich in tiefes Grübeln über ihn, über Wörlitz und über mich. »Sieh«, sagt ich zu mir, »dieser Mann hat ja nur für sein Teil recht. Wie der Schnecke ihr Haus, ist ihm ein Automobil neuester Konstruktion angewachsen, in dem muß er nun dahinsausen. Im Automobil kommt man auf seltsam verschnörkelten Wegen schlecht fort, und den stillen Hainen, dem feinen Muschelkies der Pfade tut wieder das Automobil weh. Dir aber ist – leider oder gottlob, aber so ist's – nichts dergleichen angewachsen, nicht einmal ein hohes Roß unter dem Gesäß; du bist von Natur ein bedächtiger Fußgänger; vielleicht verträgst du dich mit Wörlitz besser. Vielleicht – schon in den wenigen Minuten, da du es heute mit sehnender Seele belauschtest, kam dir flüsternde Antwort. Versuch's also, aber dann auch recht. Wer um das Tiefste eines Kunstwerks wirbt, um seine Seele, darf nichts wollen als dies und an nichts anderes denken, nicht an sich selbst und noch weniger an den Fahrplan und am wenigsten, ob sich dann ein Aufsatz daraus machen läßt. Und um ein Kunstwerk handelt sich's hier; das weißt du schon, oder richtiger, um eine ganze Galerie von Landschaften desselben Künstlers. Denn was die ›alte Kunst‹ und die ›veraltete Natur‹ betrifft, so darf dir dies schon jetzt nach dem wenigen, was du in Wörlitz gesehen hast, mehr als ein Schlagwort der Automobilästhetik, von der heute die Welt voll ist, denn als eine Wahrheit erscheinen – aber du wirst ja mehr, wirst alles sehen... Bis dahin aber glaube dir, daß auch hier ein Künstler zu dir reden wird, und bereite dich vor, ihn mit Andacht und Verständnis anzuhören.« Wenn ich einem Dichter gegenüber in gleicher Lage bin, wenn ich einzelnes von ihm mit innerer Teilnahme gelesen habe und nun nach seiner Gesamtausgabe greifen will, so suche ich immer vorher einiges über sein Leben zu erfahren, über die Einflüsse, die ihn erhoben oder hinabzogen. Nie hat mir dies die Unbefangenheit des Genießens behindert; im Gegenteil, vieles ist mir erst dadurch ganz aufgegangen. Nur das Gewordene gilt, das Werk, wie es ist, entscheidet, aber kann man ahnen, wie es wurde, so geht's einen näher an. Und darum beschloß ich, es mit diesem fürstlichen Gartenkünstler ebenso zu halten.

Dies habe ich denn auch getan, so gut es gehen wollte. Auf der Dessauer Bibliothek ließ ich mir gestern vormittags einiges über Wörlitz und seinen Schöpfer geben; viel Treffliches war nicht darunter. Denn so unglaublich es klingen mag, eine ordentliche Biographie des Herzogs Franz haben seine Nachfolger bis heute nicht veranlaßt; ein in seiner Art wirklich einzig dastehender Fall... Donnerwetter, dafür wäre ja, da es sich um einen so würdigen und dabei höchst interessanten Fürsten handelt, ein bedeutender Historiker auch ohne Subvention zu gewinnen, es würde also nicht einmal etwas kosten, nur denken müßte man daran... Auch die Literatur über Wörlitz scheint mir nach flüchtiger Durchsicht qualitativ nicht reich. Nun, ich suchte nur Tatsachen, überschlug absichtlich die Urteile; was ich brauchte, fand ich notdürftig in der Schrift von Propst Reil über den Herzog (1845), von Rode über Wörlitz (1818). Gestern abend aber fuhr ich mit dem letzten Zuge von Dessau hierher, übernachtete hier und war heute von der roten Frühe bis zum letzten Tagesschimmer in den Gärten – die Mahlzeiten natürlich abgerechnet, denn ich habe ja keine Spezialmission.

Und das will ich auch gleich im Ernst wiederholt haben. Dieser Aufsatz soll keine Lücke in der Literatur unserer Tage ausfüllen. Diese Lücke besteht freilich; es ist wirklich ein Rätsel, warum wir heute über entlegene Täler Norwegens mehr hören als über diese in ihrer Art einzige Schöpfung von höchstem kulturgeschichtlichen und hohem künstlerischen Wert. Aber dazu würde die erschöpfende, systematische Arbeit eines Kultur-, eines Kunsthistorikers und eines Botanikers gehören; die Mitwirkung eines Literarhistorikers, eines Archäologen und eines Ethnographen wäre zudem auch fast unentbehrlich. Denn dies Wörlitz mit seinen vier Gärten, seinen sieben gewaltigen Kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen ist ja eine Welt für sich, ist ja tatsächlich das Spiegelbild, der Inbegriff eines reichen, nach allen Richtungen tapfer ringenden oder doch rührend tastenden Jahrhunderts. Ich aber bin nur ein Schriftsteller, der nie vergißt, wie winzig klein der Kreis ist, innerhalb dessen er etwas weiß und kann, und wie ungeheuer groß alles andere. Und darum will dieser Aufsatz nichts sein als ein Spiegelbild meiner persönlichen Eindrücke an den beiden Tagen, aber wenn er nur ein Teilchen von der Erbauung, der Freude und dem Spaß widerspiegelt, die ich da hatte, so ist er doch in seiner Art, die keine Ansprüche erheben darf und keine erhebt, nicht ganz unberechtigt. Ich erzähle also von meinem zweiten Tage, wie ich's vom ersten getan habe.

Natürlich lag mir zunächst daran, mir die Pläne und den gestern zusammengerafften Notizenkram durch die Anschauung zu beleben, und so fuhr ich heute in aller Gottesfrühe in einem Wägelchen, das ich mir schon gestern abend bestellt hatte, rings um den Park. Dies schien mir zur Erreichung meiner Absicht ein angenehmes und zweckdienliches Mittel, aber ungewöhnlich war es wohl; das erkannte ich schon gestern abend an den verblüfften Mienen der Hotelleute; nun aber, bei der Ausfahrt, wurde ich wieder daran erinnert, wie Unerhörtes ich plante. Die von den Anlagen ausgefüllte Fläche hat die Form eines unregelmäßigen Vierecks; die längste, die Nordseite, wird durch den Elbdeich, die kürzeste, die Südseite, durch die Straßen von Wörlitz, die Westseite durch die Chaussee nach Coswig, die Ostseite durch eine von Wörlitz nach Gehöften der Elbauen auslaufende Feldstraße gebildet. Da nun die Gasthöfe im Süden liegen, so hielt ich's für gleich, ob wir nach Westen oder Osten ausfuhren, und befahl die Richtung nach Coswig. Der Kutscher, ein junger Mensch mit drolligen Pausbacken, glotzte mich aus seinen wasserblauen Augen sprachlos an. »Was ist's denn?« fragte ich. »Sollen wir lieber umgekehrt gegen Riesigk zu beginnen?« – »Nee!« – »Dann vorwärts!« Wir fuhren aus, am See entlang, über dem noch die dichten Nebel wogten, am Eisenhart vorbei, dessen verwitterndes Erz im Widerschein der roten Sonne magisch glühte, während die prächtigen Eichen- und Tulpenbäume des Neumarkischen Gartens wie in Flammen standen. Es war ein schönes Bild, und der Garten erschien in diesem Licht so fremdartig, daß ich, der ich ihn vorgestern nur bei Nachmittagssonne und von der Seeseite gesehen hatte, den Kutscher fragte, wie diese Partie heiße. Er wandte sich nach mir um, besah mich wieder nachdenklich eine lange Weile und sagte dann: »Der Neumärkische Garten.« (So sagen alle Wörlitzer, sogar die Pläne der Hotels haben diesen Umlaut.) »Woher kommt der Name?« fragte ich, obwohl ich's wußte. »Weil in die Neumark lauter solche Gärten sind!« Man sieht, die Wörlitzer überschätzen die Gartenkunst zwischen Friedeberg und Arnswalde und – ach, was ist der Ruhm! Neumark hieß ein Gärtner des Herzogs; der liebenswürdige Fürst ehrte ihn wie Schoch, indem er seinen Namen für ewige Zeiten mit seiner Schöpfung verknüpfte. Indes, Neumark war nur ein Gärtner, aber in der nach Johann Gabriel Seidl genannten Seidlgasse zu Wien erhielt ich auf meine Frage die Antwort: »Weil ja da vier Wirtshäuser sind und also viele Seidel getrunken werden!«, und in der (übrigens damals noch unbebauten) Fontanestraße in Rixdorf erwiderte mir ein Arbeiter: »Weil hier mal 'ne Fontane herkommen soll – 'n Springbrunnen«, half er meinen Sprachkenntnissen nach. »Aber«, fügte er bei, »bis die Rixdorfer was machen, kann man lang warten!«, und in diesem besonderen Falle hat er gewiß recht... Aber ich habe ja noch zu erzählen, wie mich mein Kutscher ehrte. Als er mit dem heimlichen Kopfschütteln und Anschielen gar nicht enden wollte, zog ich eine Zigarre hervor. »Hier, Willem, aber nun ehrlich: was wundert Sie so an mir?« Er grinste verlegen. »Weil Sie so kutt deutsch räden, lieber Här, akk'rat wie ein Deutscher!« – »Aber ich bin ja kein Ausländer!« – »Im Gasthof sachten se: 'n Engländer!« Mir ging ein Licht auf. »Dort sagten sie wohl, ich müßte ein verdrehter Engländer sein, weil ich sonst nicht rings um die Gärten fahren wollte?« Er nickte. »'s dhut's ja ooch sonsten keener!«

Nun, verrückt komme ich mir selbst dieser Fahrt wegen auch jetzt nicht vor. Sie erfüllte meinen Zweck und war auch, so in der Frühe eines herrlichen Sommertags, an sich vergnüglich. Freilich, als wir die Westgrenze entlang, die schnurgerade Chaussee gegen die Coswiger Elbfähre zu trabten, war die nächste Umgebung nicht eben schön. Links Acker und Heide, aber auch auf der rechten, der Parkseite, große Getreidefelder. Da hatte ich gleich eine Probe von dem künstlerischen Grundsatz des Herzogs: den Park nirgendwo abzugrenzen, ihn möglichst zwanglos in die Umgebung verlaufen zu lassen, während sein Rivale Pückler-Muskau ebenso starr das Gegenteil durchführte. Als ich gestern Rodes Verteidigung des Wörlitzer Prinzips überflog, dachte ich, es komme doch wohl auf die Gegend an; in reizloser Landschaft ist der stark markierte Abschluß vorzuziehen, und nur in reizvoller, die das Material dazu bietet, der allmähliche Übergang in die freie Natur. Was ich vorgestern von der Umgebung von Wörlitz gesehen hatte, weckte mir die sehr naheliegende Befürchtung, daß hier ein an sich bestechendes ästhetisches Prinzip in der Ausführung gescheitert sei. Dies Getreidefeld sprach nicht dagegen, und ich habe den gleichen Eindruck auf der ganzen Rundfahrt gehabt: der Herzog hat auf die vorgeschobenen Büsche, Baumgruppen und umsäumten Sümpfe unendlich viel Kraft, Geld und Zeit gewendet und doch Hübsches nie, Passables selten und zumeist das Gegenteil seiner Absicht erreicht. Daß einige anders denken, kann mich, der ich immer nur meinen persönlichen Eindruck geben will, nicht hindern, dies zu sagen. Diese Vorposten scheinen mir wie Schönheitspflästerchen, und die heben nur ein hübsches Gesicht; ein unhübsches machen sie erst recht häßlich. Jedoch auch auf einen Grundzug der ganzen Anlage weist uns schon dies Detail hin: Herzog Franz war ein echter Künstler von nicht eben eng begrenztem Können, aber eigensinnig war er und hatte – wie die meisten Talente seiner Zeit auf allen Gebieten – viel zuviel Theorie im Leibe.

Freilich, in der roten Frühe ist selbst ein Getreidefeld schön, und vollends hoben an seiner Grenze die Pinien und Platanen in Schochs Garten ihre Wipfel wie Flammen in den Himmel; so rot war noch der Ton in den Lüften, daß das große rote Backsteinhaus, auf das wir zufuhren, wie gelb erschien. Es ist die Hofgärtnerei, und da die Gewächshäuser gerühmt werden, stieg ich ab, sie zu besichtigen. Aber im Hofe fand ich nur eine mürrische junge Magd, die Geschirr wusch, und die bedeutete mich, die Gehilfen seien schon weg, der Herr Hofgärtner noch nicht zu sprechen, auch würden die Treibhäuser nicht jedem gezeigt. So ging ich denn auf eigene Faust weiter, guckte durch die Glaswände und bedauerte, so wenig von Botanik zu wissen. Denn wohl hatte ich immerhin einige Freude, hier an stolz und kühn geschwungenen Blättern, dort an einer Blüte von seltsamer Farbenpracht, aber nur so ein bißchen Freude, rechten Genuß hat man nur von dem, was man versteht, wofür der Blick geschärft ist. Besser schon ging's mir zwischen den Blumenbeeten, da waren doch meist alte Bekannte beisammen, freilich im Feiertagsstaat, während man sie in den gewöhnlichen Gärten nur im Werktagskleid sieht; welch herrliche Rosen und Geranien, Lilien und Narzissen! Auch eine hübsche Spielerei ist da zu sehen: ein ganzes bunt schimmerndes, betäubend duftendes Blumentheaterchen. Mitten zwischen den heimischen Pflanzen stand eine Kaktee von unerhörter Seltsamkeit der Formen; ein alter Gärtnerknecht arbeitete dicht daneben, ich fragte ihn nach dem Namen der Fremden. »Das kann ich Sie leider nich sagen«, erwiderte der gute Alte, »aber«, fügte er wichtig bei, »sie hat 'nen lateinischen Namen, dadruff kännen Sie sich verlassen, lieber Här!« Ich zwang mich zu einer erstaunten Miene. »Warum einen lateinischen?« – »Weil sie doch«, erläuterte er, »aus Asien is, wo die Neger wohnen!« Nun wußte ich's und konnte weiter zum Floratempel gehen.

Das ist ein nettes, freundliches Tempelchen, wohl irgendeinem spätrömischen Vorbild und sicherlich en miniature nachgebildet; mit solchen Nippes gaben sich die Römer nicht ab. Indes, auch die Umgebung ist leidlich dazu abgetönt, und so gibt das Ganze wieder ein sauberes Kupfer, pseudoantik wie Wielands »Musarion«. Auch im Innern bin ich gewesen. Die untere Halle ist gähnend leer: der Herzog starb, eh er sie füllen und dekorieren konnte. Die obere Halle erreicht man auf einem künstlichen Felsenwege. Hu! welch schauerliche Felsen; ich hielt sie für Schweizerkäse, aber es sind wirklich Granitblöcke, die man in Fünfkilopaketen versenden könnte. Auch die fast lebensgroße »restaurierte« Statue der Flora, die in der Halle aufgestellt ist, zwingt uns ein Lächeln ab: ein Arm ist antik, alles andere neu, und weiß Gott, wozu dieser eine echte Arm gehörte... Wie erklärt sich diese arge Geschmacklosigkeit? Der Herzog sei, sagte ich schon, im Gefühl für die Antike trotz engen Anschlusses an Winckelmann nicht ganz sicher gewesen; daneben aber wurde ihm bei dieser wie einigen anderen, freilich nicht gleich argen »Restaurierungen«, denen wir im Schloß begegnen werden, gerade die Pietät für den großen Stendaler zum Unheil. Als Winckelmann 1768, von dem Bildhauer Cavaceppi begleitet, die Heimreise nach Deutschland antrat, war Wörlitz beider Hauptziel; in Wien kehrte Winckelmann bekanntlich in einem Anfall dunkler Schwermut um und endete dann in Triest durch das Messer eines Banditen; so kam Cavaceppi allein nach Wörlitz, vom Herzog als das lebendige Vermächtnis des über alles verehrten Freundes mit offenen Armen empfangen, durch größtes Vertrauen ausgezeichnet. Aber sei's nun, daß es Cavaceppi an künstlerischem Ernst oder dann, nach Winckelmanns Tode, an der Führung fehlte, er hat sich in Wörlitz durch sonderbare Denkmäler verewigt, unter denen diese »Flora« das sonderbarste ist... Da sind die Wandmalereien des Tempelchens noch vorzuziehen, ganz brave Arbeiten im Zopfstil. Das relativ Beste aber in dieser kleinsten der sieben Wörlitzer Sammlungen sind die Blumenstücke eines sonst kaum genannten Malers, Johann Drechsler.

Auf dem Rückweg zu meinem Wagen kam ich wieder an der Magd des Hofgärtners vorbei; träge und verdrossen spülte sie nun ein großes Kaffeeservice. Strafe muß sein, dachte ich, und trat auf sie zu. »Minchen«, sagte ich vorwurfsvoll, »vorgestern war der Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin, und heute spülen Sie die Tassen! Minchen, das kann mir nicht gefallen!« Puterrot, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde starrte das Mädchen den wildfremden Mann an, der ihren Namen und sogar ihre Sünden kannte. Noch als ich weiterfuhr, stand sie auf demselben Fleck... Ich fürchte, ich werde in Wörlitz nicht bloß als Kommissionsrat und als verrückter Engländer, sondern auch als Hexenmeister fortleben.

An der Stelle, wo die Coswiger Chaussee den Elbdeich durchschneidet, stieg ich aus, um den Deich, die Nordgrenze des Parks, zu begehen. Der mit schattigen Bäumen bepflanzte, mit allerlei hübschen oder doch amüsanten Bauten geschmückte Deich ist an sich ein angenehmer Spazierweg, aber das Beste daran ist die Galerie schöner, abwechselnd weiter und begrenzter und immer malerischer Bilder, die er bietet. Dies gilt von der Park-, also bei meinem Gang der rechten Seite; zur Linken sieht man freilich nur die sumpfigen Elbauen mit den »Schönheitspflästerchen«, aber darüber hinaus die dunklen Forste am linken Stromufer. Zur Rechten jedoch – da hat man wirklich immer, immer, bei jedem Schritt und Blick seine Freude: hier eine heitere, dort eine düstere, dort wieder eine mild-ernste Landschaft, oder hier ein kleiner See, dort nur ein gewundener Kanal, und zwischendurch immer der ganze Park und See, an einzelnen Punkten darüber hinaus ein weites Stück Ebene mit ihren Wäldern, Helden und Dörfern bis Oranienbaum hin. Überflüssig zu sagen, daß all diese Bilder und Bildchen Erzeugnisse der Kunst sind, und welcher fleißigen, mit unsäglicher Geduld und Hingebung geübten, mit Wissen und Erfahrung gepaarten Kunst! Natürlich dient dem Endzweck, dem Wanderer hier oben die da unten geformten Bilder so zu zeigen, wie sie am malerischsten wirken, jede Fußbreit des Deichs; kein Zoll seiner scheinbar willkürlichen Windungen, seiner Erhöhungen und Senkungen ist zufällig und absichtslos; auch jedes hohe Gebüsch an seinen Rändern, das die Aussicht ganz hemmt, jedes niedrigere, das sie nur unter Verdeckung des nächsten Vordergrundes gestattet, ja jeder einzelne Baum dient dem einen Zweck. Aber Hand in Hand mit dieser Nebenarbeit mußte ja die Hauptsache vollbracht werden: das Stellen und Formen der Bilder, und sie mußten ja auch jedes an sich, da unten besehen, schön sein.

Mit dem Gartenkünstler verglichen hat's jeder andere leicht; zwar nicht er allein gestaltet seine Werke aus lebendem Material, das zunächst den Gesetzen seiner eigenen Triebkraft folgen muß, das trifft auch vom Theaterregisseur zu – aber er allein kann nicht bloß während des Schaffens, sondern lange Jahre, nachdem er geschaffen, nur kraft seiner Phantasie, seines Wissens ahnen, wie sein Werk aussehen wird; zunächst sind ja die Bäume nur Setzlinge. Was alles muß er vorausberechnen: den Raum für jeden einzelnen Baum, die Höhe, die er erreichen, die Form, die er annehmen, die Farbenwirkung, die er erzielen wird – und jeder Baum ist ein lebendiges Wesen; der eine wächst so, der andere anders. Aber nun sind ja überall Gruppen zu pflanzen, zumeist Gruppen verschiedener Bäume; wie werden sich ihre Wurzeln unter der Erde miteinander vertragen, wie ihre Form, ihre Farbe, ihre Höhe über der Erde! Und wie eingeengt ist die künstlerische Freiheit seines Schaffens durch die Eigenart des Bodens und des Klimas und die tausend Zufälle, die den Untergang oder, was fast ebenso schlimm ist, das übermäßige Gedeihen eines Setzlings bewirken! Dazu zwei Besonderheiten von Wörlitz. Erstlich die starke Verwendung fremder, bis dahin in Europa oder doch auf dem Kontinent nicht kultivierter Baumarten (zum Beispiel von 117 Spezies Nadelhölzern etwa zwei Drittel fremde!); dies sichert den Gärten ihren breiten Platz in der Geschichte der Botanik, ihre ungemeine wirtschaftliche Bedeutung für die Entwickelung des Gartenbaus in Deutschland, aber auch die malerische Wirkung dieser Bilder, namentlich die überaus feine Nuancierung der Farben in Laub und Nadel, wird hauptsächlich dadurch bewirkt – und der Herzog konnte dies Material, als er es verwandte, nur aus Abbildungen kennen! Ferner aber: jeder Gartenkünstler, der über kupiertes Terrain verfügt oder sich ein solches künstlich schafft, strebt der doppelten Aufgabe nach, die einzelnen Teile an sich schön und von bestimmten Punkten schön zu gestalten, aber das sind dann eben einzelne Aussichtspunkte; hier ist's ein Aussichtsweg von zwei Kilometer Länge; das hat meines Wissens kein anderer versucht. Kurz, diese Bilder, nebenbei bemerkt wunderbar gepflegt und erhalten, sind zweifellos eine Lebensarbeit, und tatsächlich ist ein halbes Jahrhundert (1768–1817) unausgesetzt daran geschaffen worden.


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