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Sacht wächst die bewaldete Anhöhe des Steiger aus dem wenigen Land empor und erstreckt sich dann weithin gegen Süden, meilenweit. Auch die der Stadt zugekehrte Nordseite ist so breit und mit so zahlreichen Aussichtspavillons besetzt, daß ich den Kutscher fragte, wo's denn den schönsten Ausblick gebe. »Vom Restaurang«, erwiderte Christoph Martin Wieland mit solcher Innigkeit, daß ich ihm glaubte; ich will auch nicht behaupten, daß er log, es war aber eine individuelle Ansicht; vorm »Steigerhaus« kann man wirklich nur gefüllte und leere Bierkrüge sehen. Ein stattliches Hotel, ein riesiger Biergarten, daneben andere große Wirtschaften, »Felsenkeller« genannt; die Keller so groß, daß man die Felsen nicht sieht; aber mindestens ebensoviel Zeichen gesunden Durstes weist jede deutsche Stadt auf. Nicht jede aber hat einen so schönen Park dicht am Weichbild; herrlicher, auch prächtig gehaltener Hochwald, Laub und Nadel in buntem Gemisch, namentlich Eichen und Edeltannen, wie man sie selten findet, auch viel wohlgepflegtes Gesträuch und vor allem entzückende Blumenbeete – der Steiger ist ein Park, wie er dieser Gartenstadt würdig ist. Von schattigen Wegen und Pfaden durchzogen, bietet er, eben weil der Hügel sanft, aber stetig zu ziemlicher Höhe ansteigt, eine Fülle leicht erreichbarer und schöner Ausblicke. An künstlerischem Schmuck ist nur eine Säule vorhanden, welche die Kaiserin Augusta in guter Absicht stiftete und die nun ein bescheidenes Denkmal der verewigten Fürstin ist – aber wie dekoriert hier die Natur!
Ich bin an jedem meiner Erfurter Tage einige Stunden im Steigerwald gewesen, habe täglich Neues gesehen und doch gewiß im ganzen nur weniges von all dem Schönen. Wie malerisch ist der Ausblick gegen Westen, auf das Hochheimer Tal; steigt man höher, so sieht man bei sinkender Sonne in der Ferne eine langgestreckte, rötlich schimmernde Wolkenwand den Horizont begrenzen; sie liegt dem Aug bald näher, bald ferner, flammt auf und wird dunkler, zittert wohl auch in den Lüften und zerrinnt doch nie; es sind die Höhen um Friedrichroda bis Liebenstein. Ähnlich wenn man bis zu dem »Waldhaus« im Süden geht; nur ist die Wand, von dort aus gesehen, weiter geschwungen und schimmert dunkler, vom satten Blau bis ins tiefe Schwarz, je nach dem Sonnenstand und der Trockenheit der Lüfte: das sind die Höhen des Thüringer Waldes von der Wartburg zur Linken bis an die Höhen des Saaletales zur Rechten. Aber am schönsten ist der Ausblick nach Norden, auf das Geratal und die Stadt Erfurt.
Um etwas zu erkennen, zu erfassen, hatte ich dies Bild gesucht, aber ich will's nur sagen: als ich's zuerst sah, grübelte ich über gar nichts, sondern da hatte ich nur eben meine helle Freude dran. Welche bunten, heiteren Farben: rot die Dächer, weiß die Häuser, grün die Gärten, golden die Äcker und blau die Flüsse, und welche Häufung anmutiger oder doch besonderer Formen, die vielen Hügel und die unzähligen Türme: Erfordia turrita, wie die Humanisten ihre stattliche Heimstätte nannten, das vieltürmige Erfurt... Was mir dann zunächst in die Augen stach, war ein Stück Feldes im Westen zwischen dem Cyriaks- und dem Petersberg, von dem ich lange nicht wußte, was es sein könnte; das schimmerte nur so von Farben, und selbst mit dem Feldstecher besehen, war's wie ein Regenbogen, der dort vom Himmel gesunken und nun festgebannt auf der Erde lag – so aus der Ferne ein phantastisches Bild, aber noch wundersamer aus der Nähe; es sind die Blumenfelder vor dem Brühler Tor... Dann der Dom; ich hatte ihn, ehe ich die Höhe des Steigers erreichte, schon vom Vesperplatz aus gesehen, sie haben dort eine Schneise ins Eichenlaub geschnitten, und in der steht nun, ähnlich wie man durch die Schneise bei der »Hohen Sonne« ob Eisenach die Wartburg sieht, scheinbar einsam aus tiefem Wald aufragend, das graue, gewaltige Münster; auch dies ein märchenhaftes Bild, aber schon von dieser Höhe noch schöner, wo man den Dom aus der alten Stadt zu seinen Füßen emporwachsen sieht, und am schönsten vom Domplatz.
Erst nun, nachdem ich das Gesamtbild und vieles einzelne betrachtet hatte, suchte ich mir Antwort auf meine Fragen. Was die Menschen an einen Ort gezogen hat, ist oft schwer, zuweilen unmöglich zu erkennen, weil es auch Städte gibt, die gleichsam gegen den Willen der Natur, nur durch die Kraft der Menschen und durch das Erblühen eines Staates groß geworden sind; das merkwürdigste Beispiel dafür ist Berlin. Anders Erfurt; hier war's der Wille der Natur, eine große Wohnstätte zu schaffen; vom Steiger aus läßt sich dies klar erkennen.
Vor allem, dieser Kessel zwischen Waldbergen ist überaus fruchtbar, es schimmert nur so von Obstgärten, Blumen- und Gemüsebeeten; nur im Norden, wo der Kessel in die Ebene übergeht, wogt ein Ährenmeer; sonst ist der Boden für Getreide zu kostbar. Gewiß hat der Fleiß der Menschen dazu mitgewirkt, aber »so prangt eine Flur«, um mit dem alten Gellert zu sprechen, »nur durch Gottes Odem«. Der Naturforscher drückt es eben nur anders aus, wenn er uns belehrt: dieser Kessel war einst ein Seebecken, der Boden ist Muschelkalk, von einer dicken Humusschicht überzogen; und in diesem ergiebigsten Boden, den man wünschen kann, finden sich zudem auch Salzlager eingesprengt. Dazu der Fluß, die Wälder. Also Holz, Wasser, Brot und Salz in reichster Fülle, wie sonst kaum irgendwo in Thüringen – schon darum muß hier früh eine Siedelung entstanden sein.
Aber noch mehr: dieser Kessel war eine der frühesten menschlichen Wohnstätten in Europa; und er ist, was fast ein Unikum bedeutet, immer besiedelt geblieben. Dies freilich erkannte ich erst in den Sammlungen am Hospitalplatz, die mir Christoph Martin Wieland mit feinem historischen Sinn vor allem zu besichtigen empfohlen hatte. Mit den Funden aus der Steinzeit fängt ja wirklich die Geschichte Erfurts an, nur haben diese »Arforder« nicht vor »dausend« Jahren gelebt, sondern vor zehn- oder zwanzig- oder dreißigtausend Jahren, bestimmt kann uns das der gelehrteste Anthropologe nicht sagen. Denn die ältere Steinzeit, dies wirkliche Altertum der Weltgeschichte, wagt niemand aufs Jahrtausend abzumessen, die Zeit, da der Mensch, fast selbst noch ein Tier, in den Pausen von einer Vergletscherung zur anderen im Kampf mit dem anderen Getier, mit Mammut, Höhlenlöwe und Hyäne, sein Dasein fristete, und zudem verständigen sich die Gelehrten eben erst mit wuchtigen Höflichkeiten darüber, welcher Epoche der Steinzeit die hiesigen Funde angehören. Ich habe so viel davon verstanden, daß es sich um die Patina dieser Schaber aus Feuerstein, um die Form dieser Beile aus Bärenkiefern handelt, aber warum die Herren gar so grob zueinander sind, ist mir nicht klar geworden; oft wußte ich beim Lesen ihrer Abhandlungen nicht, handelte es sich noch um den alten Höhlenbären, den ursus spelaeus, oder um den neuesten, den ursus academicus. In der neueren Steinzeit aber waren die Abhänge des Kessels sicherlich schon besiedelt; diese ältesten unzweifelhaft nachweisbaren Erfurter hatten bereits Pferd und Rind gezähmt, waren Jäger und Ackerbauer zugleich, schliffen ihr Stein- und brannten ihr Tongerät. Auf Funde dieser Art trifft man auch anderwärts, die hiesigen sind nur eben durch Zahl und Form merkwürdig; sie erweisen, daß die Siedelung ununterbrochen durch all die Jahrtausende dieser Ära des Mittelalters der Menschheit bestand; an der Keramik läßt sich das Wachsen der Kunst von der einfachen Schnur- zur reichen Bandverzierung, an den Gräbern die Veredlung der Bestattung von der Verscharrung im Erdboden bis zum Sarg und der gemauerten Gruft, von ihr zur Leichenverbrennung verfolgen; ja, so weit waren sie schon um 2 000 vor Christus, wir sind's noch heute nicht. Und dabei blieb's bis heute; als fast beispiellose Erscheinung, sagt ich schon, ist zu verzeichnen, daß die Menschen diesen Boden niemals mehr verließen. Alle Abschnitte des Mittelalters der Menschheit: der Bronze-, der Eisenbronze- (Hallstatt-) Kultur und der Höhepunkt derselben, die La-Tène-Kultur, sind hier vertreten; anderwärts folgen sich die Geschlechter wie Blätter im Sturmwind; wird eines durch den Anprall des Hungers oder den anderer Menschen von seiner Scholle weggefegt, so bleibt diese oft durch Jahrhunderte verödet; hier folgen sie sich wie im Meer Welle auf Welle – hier hungerte niemand; der Boden war zu fruchtbar, um ungenutzt zu bleiben. Mit der La-Tène-Periode, wo sie Waffen aus Eisen, Gerät aus Kupfer und Glas, Schmuck aus Gold und Edelsteinen formten, sind wir in die Zeit gelangt, die uns in der Schule als »Altertum« bezeichnet wurde; in Wahrheit ist's die neueste Zeit der Menschheit. Nun läßt sich auch aus den Skeletten der Typus der Bewohner feststellen: der »altthüringische«; vermutlich Kelten. Ihnen folgte das germanische Volk der Hermunduren; auf dem Petersberg erhob sich ihre Wallburg, und auf dem Marienberg, wo heut der Dom prangt, opferten sie ihren Göttern. Nach ihnen kommen die Warnen, die Thüringer und ihre harten Besieger, die Franken; aber sie alle ziehen auch aus diesem Kessel ihr Brot. So ist Erbesfort – der Name ist unaufgeklärt – bereits zur Zeit, da der Angelsachse Winfried, dann Bonifacius genannt, der frömmste und ehrgeizigste Priester seiner Zeit, nach Thüringen kommt, das Evangelium zu predigen, die stattlichste Stadt des Landes; hier gründet er darum 741 ein Bistum und baut, nachdem er den heiligen Hain auf dem Marienberg gefällt, an seiner Stelle ein Kirchlein. Eine »Stadt der Ackerbauer« nennt er Erfurt ausdrücklich, wie um es zu charakterisieren, und eine bessere Bezeichnung läßt sich auch nicht finden bis auf den heutigen Tag, denn »Stadt der Blumen« will ja im Grunde dasselbe sagen. Anderwärts verliert sich allmählich die Bedeutung. des Bodens für die Entwicklung einer Stadt; hier erhielt sie sich stets und sogar stets als das Wichtigste.
Aus der Fruchtbarkeit dieses Kessels, aus ihr allein kam Erfurt die Kraft, die unsäglichen Stürme zu überdauern, die es gleichfalls nicht bloß nach dem Willen der Menschen, sondern auch nach dem Willen der Natur ereilten. Denn sie hat Erfurt wie zur »Stadt der Ackerbauer«, zur »Stadt der Blumen«, so auch zur Festung gemacht.
Auch dies läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Der Kessel ist im Süden, Westen und Osten von stattlichen, steilen, anfragenden Vorbergen des Thüringer Waldes umschlossen, nur nach Norden offen. Aber auch hier fehlt ihm der natürliche Schutzwall nicht: vom Westen her kommt die ungestüme Wilde Gera geströmt, durchbraust den Kessel in breitem, gegen Osten ausgeschwungenem Bogen und rollt dann in scharfer Biegung die weißlich-blauen Wogen gegen Norden. Der Mensch brauchte bloß den Kranz steiler Vorberge mit Zitadellen zu krönen, gegen Norden den schäumenden, reißenden Bergfluß auch durch Wälle zu befestigen. Und dies ist früh geschehen. Über ein Jahrtausend eine Stadt mit Wall und Graben, ist Erfurt nicht viel kürzer die bedeutendste Festung Mitteldeutschlands gewesen, »Schild und Pforte Thüringens«. Erst im geeinigten Reich konnte der Panzer fallen, vor einem Vierteljahrhundert erst. Ein Panzer schützt, aber er drückt die Glieder wund, den Schwertstreich wehrt er ab, den Blitz zieht er an. Einiges wenige Gute und viel großes Unheil hat diese Gabe der Natur über Erfurt gebracht.
Aber die dritte ihrer Gaben war der Stadt wieder nur zum Heil; auch zur Handelsstadt, zum Knotenpunkt der Verkehrswege hat die Natur und nicht der Wille der Menschen, nicht das Schicksal der Staaten Erfurt gemacht, und dies enthüllt sich gleichfalls vom Steiger aus mühelos dem Blick. Die Straße vom Westen nach Osten mußte durch diesen Kessel gelegt werden; jede andere wäre ein Umweg oder der Wegebaukunst des Mittelalters unmöglich gewesen. Und ebenso muß hier durch, wer von Süden nach Norden, vom Thüringer Wald nach dem Kyffhäuser und dem Harz will, aus Franken nach Sachsen. Die Bahnlinien, die sich hier oder im nahen Neudietendorf schneiden, folgen uralten Handelsstraßen, gewiß älter als unsere Zeitrechnung.
Noch mehr, auch die Gliederung der Stadt, ihr Werden und Wachsen läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Was heut vor allem ins Auge sticht, die beiden kühn und schön geformten Berginseln im Westen, hat bereits vor Jahrtausenden die Menschen zuerst in Bann genommen. Darum weihten sie diese Felskuppen den beiden Gewalten, in deren Schutze sie hier wohnen wollten, den Göttern und der eigenen Kraft; auf dem Marienberg, der den Dom trägt, rauschte schon in uralten Tagen der Donarshain; den Petersberg krönte schon damals eine Wallburg wie heute die Zitadelle. Sie sind der Kern von Erfurt. Zu ihren Füßen, aber ehrfurchtsvoll durch einen großen Zwischenraum von ihnen geschieden, erwächst die Stadt und füllt allmählich den weiten Bogen der Wilden Gera voll, übervoll aus. Auf drei Seiten vom Fluß und dem ihn begleitenden Wall, auf der vierten von der Zitadelle geschützt, ist sie zugleich von ihnen umschnürt; wie dicht sind die hohen Häuser geschart, wie eng die Gäßchen, wie klein die Plätze. Um dieses alte Erfurt schießt nun von allen Seiten das neue empor: im Westen und Süden das Villenviertel, im Osten und Norden Fabriken, Arbeiter-, Schlacht-, Lager- und Krankenhäuser. Und endlich als Rahmen dieses Stadtbildes die Blumen- und Gemüsefelder.
In dieser Reihenfolge beschloß ich die Stadt zu besehen. Aber schwer war ich auf den Steiger gekommen, noch schwerer sollte ich hinunter. Als ich in den Biergarten kam, erkannte ich, daß mein Kutscher gleich seinem berühmten Namensvetter Anakreontiker war, aber in seiner Art; er war sternhagelvoll besoffen. »Das Bier is gar sihre gued«, sagte er zu seiner Entschuldigung und reichte mir freundlich sein Glas zum »Probiehren«... Ich äußerte meine Zweifel, ob er sich auf dem Kutschbock werde halten können. »Passiehren dhud nischt! Eech bin dooch von Gudhe her gewohnt, Bierfässer zu fahren!« Und in der Tat brachte er sich und mich heil auf den Friedrich-Wilhelm-Platz, wie der Domplatz offiziell heißt.
Die Erfurter gebrauchen keinen dieser Namen, ihnen heißt der Platz: »Vorm Grähden.« – »Warum?« fragte ich einen Barbier am Platze. »Ich find's in keinem Buch!«
Er sah mich erstaunt an. »Weil es so heeßt«, erwiderte er, und ein »Herr Doktor« titulierter Kunde lächelte ironisch über den seltsamen Fremden: »So was steht doch in keinem Buch!« Ich versuchte es nun mit einem Schuster; das sind ja die richtigen Grübler und Sinnierer. In der Tat traf ihn die Frage nicht unvorbereitet. »For gewiß«, sagte der wackere Meister bedächtig, »weeß man's nicht, aber hier duht man viel Fische äßen, besonders die Ghadolschen, und ghadolsch is ja die Girche, und Fische dhun viel Grähden ha'n; ob's nech dadervon kohmen dähte?« Es kommt nicht davon, sondern ist – ein seltener Fall in Mittel- und Norddeutschland, ein häufiger an Rhein und Mosel – die Verballhornung des einstigen lateinischen Namens: Forum ad gradus hieß der Platz im Mittelalter; es gibt also doch Bücher, in denen »so was« steht. Der »Platz an den Stufen«, denn eine mächtige Freitreppe führt von hier die Höhe des Marienbergs zum Dom empor. Der Platz ist wohl der größte Deutschlands – ich wenigstens kenne keinen größeren –, und des darf sich der Beschauer freuen; so ist ihm die richtige Perspektive für eines der herrlichsten Architekturbilder gegönnt, die wir in Deutschland haben, und das will gottlob was sagen. Als ein majestätisches Bauwerk wirkt der Dom, von wo immer gesehen, am schönsten erscheint er von der Ostseite dieses Platzes. Über riesigen steinernen Höhlungen steigt von hier aus dem Auge, alles andere deckend, das prächtige Chor empor; auch wer das Straßburger Münster oder St. Stefan zu Wien genau kennt, wird entzückt sein; dieser Teil des Doms gehört zu dem Edelsten und Feinsten, was die Gotik auf deutschem Boden geschaffen hat. Rechts vom Chor, über der Freitreppe, wird das reiche, edle Hauptportal sichtbar, und noch weiter zur Rechten schließen die drei spitzen, metallen schimmernden Türme der Severikirche das Bild ab. Wer es sieht, wird es nie vergessen.
Immer wieder, sooft ich den Dom oben genau besehen hatte, kehrte ich zu diesem Standort zurück, mir den vollen, reinen Eindruck wiederzugewinnen. Denn aus nächster Nähe sind nur einzelne Teile schön, aber andere nicht; weniges stimmt zusammen, und immer wieder drängt sich in die Freude des Genießenden eine Frage. Zwar welchen Zweck das Riesenwerk der »Gefahden«, wie die Erfurter sagen, der zyklopischen Steinbogen (cavatae) erfüllt, ist leicht einzusehen: der Hügel bot eben für ein großes Chor keinen Raum mehr, und so mußte der Boden künstlich erweitert werden; aber warum stößt das Chor in unschönem spitzen Winkel aufs Schiff? Das Chor (um 1350 erbaut) ist ja an sich herrlich, namentlich auch das Steinfiligran der Fenster von bewunderungswürdigem Reichtum der Phantasie, aber daß es, ohnehin viel breiter und höher als das Schiff, obendrein zu diesem schief steht! Auch die drei gewaltigen romanischen Türme aus dem 12. Jahrhundert, der älteste Teil der Kirche, wirken für sich betrachtet wuchtig genug, aber wer kann sie so betrachten? Sie erheben sich über der Stelle, wo Chor und Langhaus zusammentreffen, also gerade über dem spitzen Winkel, und recht sieht man sie nur von der Severikirche aus. Das Seltsamste aber, was man an der Außenseite des Domes gewahrt, ist zugleich ihr schönster Schmuck: das Hauptportal, das »Triangel«; an der Ostseite springt ein Dreieck hervor, in dem sich rechts und links eine Eingangstür öffnet. Beide Portale sind ganz herrlich, sie gehören zu dem Edelsten, was alte deutsche Bau- und Bildhauerkunst geschaffen hat, beide sind im Aufbau gleich; unter dem mit Rosenornamenten überkleideten Giebel die nach innen abgestuften Spitzgewölbe; verschieden sind nur die kleineren Ornamente und die Bildsäulen; am linken Portal die zwölf Apostel, am rechten die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen und, um die Symmetrie zu wahren, die triumphierende Kirche und die besiegte Synagoge. In den kleinen Zieraten welche Fülle der Erfindung, in den Bildsäulen welche Kraft der Charakteristik; für die frühe Zeit, das 14. Jahrhundert, von wunderbarer Lebendigkeit des Ausdrucks; die Verzweiflung im Antlitz der törichten, der Jubel in dem der klugen Jungfrauen, der Stolz der Kirche, die dumpfe Trauer der Synagoge – wie hat der alte Meister dies alles verbildlicht! Aber es stört sehr, daß die beiden Portale zueinander und zum Schiff schief stehen, und sagt man sich, dieses Rätsel müsse sich eben aus dem beschränkten Raum, aus der Baugeschichte erklären, so hört doch die Empfindung nicht auf die Vernunft. Andere Rätsel wieder bleiben es auch für die Vernunft. Warum haben sie zwischen die alten Bildsäulen des Chors solche von gestern gestellt, warum wirkt von dem neuen Schmuck so weniges künstlerisch? Auch der Eindruck jenes riesigen Mosaikbildes, dessen goldiger Schein mir so unauslöschlich im Gedächtnis haftete, ist von hier aus kein reiner. Es schmückt den Westgiebel. Von tiefblauem Rahmen umgeben ein mächtiger Goldgrund, von dem sich in fünffacher Lebensgröße die Madonna in blaurotem Gewand, das Jesuskind auf dem Arm, abhebt. »Äächtes Gold«, sagen die Erfurter stolz, und daran zweifle ich nicht, aber mir war zumut, als müsse das grelle, gleißende Riesenbild dem feinen, altersgrauen Ornament des Giebels wehe tun. Offenbar eine Nachahmung des uralten Madonnenbildes an der Marienburg, aber derlei Experimente sind immer bedenklich; wir haben andere Nerven, andere Sinne. Ich denke, es ist nicht zu bedauern, daß kein anderer deutscher Dom sich neuerdings solchen Schmuck angetan hat.