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Die Bezeichnung des vorliegenden Bandes als »Tagebuch eines Dichters« erscheint vielleicht merkwürdig. In der Form des Tagebuches begegnen wir gewöhnlich einer Abfolge von zwanglos aneinandergereihten Tatsachenberichten und von stimmungsgetragenen, gefühlsbewegten wie gedanklichen Persönlichkeitsäußernngen. Paul Ernst jedoch, unter seinen Zeitgenossen einsam und im Wesentlichen kaum verstanden, pflegte sein Erleben und Erfahren überpersönlich zu betrachten, im Zusammenhang mit unserem gemeinsamen Schicksal und unseren Aufgaben zu sehen, und so entsprach es ihm, daß er gewissermaßen ein öffentliches Tagebuch fährte, in dem er Gedanken und Erlebnisse seiner Tage in Zeitungsaufsätzen ganz allgemeinen Inhalts festhielt. Zu diesen größtenteils im parteilosen roten »Tag« erschienenen Aufsätzen war die äußere Veranlassung meist geringfügig, oft nur eine Buchbesprechung oder eine Tagesbegebenheit, aber durch die Art, wie der Dichter eine aufgenommene Frage mit seiner Wirklichkeitsanschauung erfüllt und bis in ihre Tiefen treibt, gibt er ihrer Erörterung etwas über den Einzelanlaß und die eigene Zeit hinaus Bedeutsames. Von diesen »Tagebuchaufzeichnungen« gilt einerseits das gleiche, was Ernst in dem Aufsatz »Dichtung und Nation« an Gogols Briefen hervorhebt, nämlich daß sie nicht von persönlichen Angelegenheiten handeln, sondern eigentlich Aufsätze über die verschiedenen Angelegenheiten seines Volkes sind; andrerseits sind sie persönliche, meist in einem Zug und fast ohne Verbesserungen niedergeschriebene Äußerungen, eine Art Selbstgespräch, also weder wissenschaftliche Abhandlungen noch schöngeistige Versuche, sondern, um es mit einem heute üblichen philosophischen Ausdruck zu sagen, »existentielle« Äußerungen eines deutschen Dichters aus dem für uns so bedeutungsschweren zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts.
Ein geistig freier, wesensadliger Dichter, nicht ein an gesellschaftliche oder parteiliche Vorurteile gebundener Schriftsteller, verfaßte diese Aufsätze. Als Angehöriger seines Volkes und als religiöser Mensch ringt der Dichter um das Bild dessen, was wir sein können, erlebt die verschiedentlichen Wandlungen und Spannungen dieser Zeit zwischen menschlicher Vornehmheit und bürgerlichem wie proletarischem Massentum, zwischen Innerlichkeit und Macht, zwischen Maschinenarbeit, Natur und Höherbildung der Seele oder zwischen westlichem und östlichem Geist, und erahnt die Wege des neuen religiösen, volklichen wie menschlichen Werdens. Aus dieser Grundhaltung des Dichters ergibt sich die Ausdrucksweise: vor allem geht es Ernst um das Aussprechen seiner ursprünglichen, natürlichen Empfindung, an zweiter Stelle erst steht das verwendete Tatsachenbeispiel, der logische Beweisschluß oder das Einzelurteil. Im Gespräch äußerte Ernst einmal, daß unsere geistige Welt durch die wenigen Manschen eigener Art und Wirkungskraft lebe, und daß die Urteile eines bedeutenden Menschen, mögen sie auch für sich betrachtet manchmal einseitig und überschärft erscheinen, beim steten geistigen Ausgleichskampf im Leben seines Volkes dennoch wegweisend wirken. Solche wegweisenden Urteile enthält auch dieses Buch.
Die Auswahl und Anordnung der vorliegenden Aufsätze traf Paul Ernst auf seinem Gut Sonnenhofen bei Königsdorf in Oberbayern, wo er von 1918 – 1925 lebte. Im Herbst 1931 übergab er auf seinem späteren Wohnsitz in St. Georgen an der Stiefing die Sammlung, die neben einigem Ungedruckten aus Zeitungsabdrucken bestand, dem jetzigen Herausgeber zur endgültigen Druckvorbereitung und bat ihn, bei der Durchsicht auf noch vorhandene, gut zu verdeutschende Fremdwörter, auf Verschreibungen und auf Zeitbedingtes, das nicht mehr unmittelbar verständlich sei, zu achten. Der Dichter starb, bevor er einige Zweifelsfragen entscheiden und zum endgültigen Text seine Zustimmung geben konnte, doch wurden nun vor der Veröffentlichung die Aufsätze mit Frau Else Ernst, die mit dem Schaffen ihres Gatten vertraut war, einzeln durchgesprochen. Eine Reihe von Fremdwort-Verdeutschungen erfolgte, wobei die vom Dichter später geübte Ausdrucksweise berücksichtigt wurde; die Streichungen blieben auf ganz wenige, nichts Wesentliches berührende Fälle beschränkt, da es sich ja um freie, in der geschichtlichen Zeit stehende Äußerungen handelt. – Die noch vorhandenen handschriftlichen Vorlagen sowie die mit eigenhändigen Verbesserungen des Dichters versehenen Abdrucke werden in St. Georgen aufbewahrt.
Karl August Kutzbach.