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Die Leute sind überzeugt, daß ein Baum grün ist. Plötzlich treten Maler auf, welche Bäume in anderen Farben malen, und die Leute stehen etwa vor einem Bild mit einer violetten Blätterkrone. Die Leute sind entrüstet und erklären, je nach ihrer eigenen seelischen Verfassung, die jungen Maler für verrückt, unverschämt, unfähig oder marktschreierisch, nach dreißig Jahren etwa aber haben sie sich an den violetten Baum gewöhnt, wo sie die Natur genießen, machen sie sich gegenseitig auf die Blätterkronen aufmerksam, welche sie sehen.
Was geht da vor?
Der wesentliche Unterschied von Mensch und Tier ist, daß das Tier als Erkenntnisquelle nur die Wirklichkeit hat, der Mensch außer der Wirklichkeit auch noch die Begriffe. Diese Begriffe entwickeln sich in Wechselwirkung mit der Sprache.
Wir ahnen nun nicht, wie ungeheuer viel mehr Erkenntnisse wir durch die Begriffe erhalten als durch die Sinne. Wenn wir einen Menschen vor einen Baum führen und ihn fragen, was er sieht, so wird er sagen: »Einen Baum«. In Wirklichkeit steht da nicht »ein Baum«, sondern dieses bestimmte, einzigartige Ding, das der Mensch unter den Begriff »Baum« unterordnet. Wenn wir ihn fragen, wie der Baum aussieht, so wird er antworten: »er sieht natürlich grün aus«, falls er nicht durch das Sehen neuerer Bilder erzogen ist. Mit andern Worten: der Mensch sieht den Baum gar nicht, der vor ihm steht; das Bild auf seiner Netzhaut erweckt sofort den Begriff »Baum« in ihm, der mit soundso vielen Merkmalen verbunden ist, unter andern dem der grünen Blätter; und dieser Begriff schiebt sich ihm gleich vor: nicht sein Netzhautbild kommt ihm zum Bewußtsein, sondern sein allgemeiner Begriff.
Man versteht jetzt den einen Teil der Aufgabe, welche die Kunst zu erfüllen hat – den Teil, welchen die impressionistische Kunst als ihre Aufgabe überhaupt betrachtet – nämlich den Menschen das Sinnenbild zum Bewußtsein zu bringen und es an die Stelle des Begriffsbildes zu setzen.
Wir wollen jetzt das Beispiel für die bildende Kunst fallen lassen und zu dem viel schwierigeren Vorgang bei der Dichtung übergehen. Weshalb ist es denn nötig, daß man das Sinnenbild an die Stelle des Begriffsbildes setzt?
Ein Bekannter erzählte mir, er habe Kotzebues »Menschenhaß und Reue« in französischer Übersetzung gehört und sei erstaunt darüber gewesen, daß dieses doch durch und durch falsche Stück ganz wahr auf ihn gewirkt habe. Er zog den Schluß, die französische Sprache müsse doch ganz verlogen sein. Nebenbei sei bemerkt, daß der Bekannte ein deutscher Schriftsteller war, dem selber Verlogenheit vorgeworfen wird. Leute, die im Elsaß bekannt sind, erzählen, daß sie oft beobachten, wie zwei Leute, die sich auf der Straße begegnen, zuerst französisch miteinander sprechen und nach einer kurzen Weile deutsch fortfahren. Die allgemeinen Redensarten und Liebenswürdigkeiten, welche nichts bedeuten, und einem sehr strengen Mann als gesellschaftliche Lüge erscheinen mögen, werden französisch abgemacht, wenn aber das Besondere kommt, das, was den Leuten am Herzen liegt, ob die Kuh krank ist und der Wein teurer wird, dann spricht man deutsch.
Das Wort drückt niemals das Ding aus, sondern nur seinen Begriff. Das kann nicht geändert werden. Der Maler – könnte man sich vorstellen, in Wirklichkeit ist das auch unmöglich – kann den augenblicklichen sinnlichen Eindruck eines Baumes genau auf die Leinwand bringen; wenn ich spreche, kann ich immer nur einen Begriff sagen; denn selbst wenn ich etwa einen Satz bilde wie: »Als die Sonne über jenem Berge stand und der Himmel wolkenlos war, erschienen die Blätter der Zitterespe, welche dort im Tal im Halbschatten stand, violett« – so habe ich ja doch immer nur Begriffe zusammengestellt. Der sinnliche Eindruck ist durch das Wort »violett« nicht bezeichnet. Aber wenn das auch nicht geändert werden kann, daß die Menschen durch die Sprache sich immer nur Begriffe mitteilen, so können die Begriffe doch allgemeiner und besonderer, die Worte unbestimmter und bestimmter sein. Die natürliche geistige Trägheit der Manschen im Empfinden und im Wiedergeben bewirkt, daß überall die Neigung vorhanden ist, immer allgemeiner zu werden; wenn man etwa Menschen fragt, was ist das für ein Ding, so werden neunundneunzig sagen: ein Baum, und nur einer antwortet: eine Zitterespe. Die Dichter mit ihrer stärkeren geistigen Kraft wirken diesem Vorgang entgegen. Jedes neue Dichtergeschlecht setzt sich wieder die Aufgabe, Worte und Wortverbindungen zu finden, welche mehr an die Wirklichkeit herankommen. Das wirkt zunächst verrückt, wie sich einmal der doch sehr kluge Lichtenberg über die Stürmer und Dränger ausdrückt: »Es treffen sich bei ihnen Worte, die außer im Narrenhaus sich noch nie zusammengefunden haben«; später wird es angenommen.
Nun gibt es Sprachen, welche diesem Vorgang einen heftigeren Widerstand entgegensetzen als andere. Das nächstliegende Beispiel einer solchen Sprache ist für uns das Französische. In Frankreich hat man sogar eine eigene Behörde, die Akademie, für diesen Widerstand. Wer dessen Ursachen nachwiese – er beginnt mit dem Zeitalter Ludwigs XIV., mit welchem das heutige Frankreich überhaupt beginnt –, der würde die letzten Gründe für das Schicksal Frankreichs aufdecken. Ein neues Dichtergeschlecht in einer solchen Sprache muß natürlich im höchsten Maße umstürzlerisch wirken; man begreift, welche unheilvolle Folgen es haben kann, wenn andere Völker, wie etwa die Deutschen, Schriftsteller haben, welche solche Vorgänge sklavisch nachahmen, die bei uns einen ganz andern Sinn bekommen. Die wirklichen Dichter handeln natürlich nur aus dem Geist ihrer eigenen Sprache heraus; aber bei der heutigen allgemeinen Verwirrung haben diese nicht entfernt den Einfluß, wie die auf dem Markt stehenden Schriftsteller. Der Schwulst, welcher bei uns heute weit verbreitet ist, hat hier seinen Ursprung, wie er ihn im 17. Jahrhundert hatte. Man mache die Probe mit einer entfernter liegenden Erscheinung. Viktor Hugo ist für sein Volk ein Spracherneuerer gewesen; wenn man ihn getreu übersetzt, so kommt oft Albernheit und Schwulst heraus.
Aber das ist eine Abschweifung.
Die Dichter haben zu allen Zeiten behauptet, daß sie »schaffen«. Was bedeutet das?
Wer Tiere genau beobachtet, weiß, daß sie ebensoviel Seele haben wie die Menschen; oft ist man versucht, den höheren Tieren mehr Seele zuzusprechen als den gemeineren Menschen. Aber man wird auch immer fühlen, daß die Tierseele – man kommt unwillkürlich auf den Ausdruck – »gefangen« ist, weil die Tiere ihre inneren Vorgänge nicht ausdrücken können, weil sie keine Sprache haben.
In der heutigen Jugendbewegung fällt neben anderem auf, wie oft von den jungen Leuten betont wird, daß die Sprache unzureichend sei, um auszudrücken, was sie fühlen; daß die Worte alle abgenutzt und falsch seien; daß sie nur stammeln können, und daß man mit ihnen fühlen muß, um zu verstehen, was sie wollen. Auf der höheren Stufe des Menschen wiederholt sich hier, was bei der gefangenen Tierseele geschieht; wie dem Tier die Sprache überhaupt, so fehlt diesen jungen Leuten die ihrem Gefühl angemessene Sprache.
Nun besteht aber eine Wechselwirkung zwischen Sprache und Seele. Seelische Inhalte, welche nicht durch die Sprache ausgedrückt werden können, verflüchtigen sich, wenn man das Wort von dem ohnehin Flüchtigen gebrauchen darf. An ihre Stelle tritt entweder das Geschwätz, oder es bleibt gar nichts. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb ältere Tiere so oft weniger menschlich sind als jüngere: ein Grund freilich, welchen die Wissenschaft schwerlich zugeben wird. Wie für den Maler die sinnliche Außenwelt, so ist für den Dichter – unter anderem – die seelische Welt seines Innern der Gegenstand seiner Darstellung; wenn es dem Dichter gelingt, Inhalte darzustellen, welche in einem Geschlecht unausgesprochen und unaussprechbar vorhanden sind, dann kann man mit einem gewissen Recht behaupten, daß er sie geschaffen hat; mit gewissem Recht kann man behaupten, daß sie mit dadurch sind, daß er sie sagt; denn was sein Geschlecht vorher fühlte, war ja ganz unbestimmt, und ohne ihn wäre es völlig verschwunden.
Es ist ja durchaus nicht nötig, daß das Neue, was so durch die Dichter geschaffen wird, einen »Fortschritt« bedeutet. Inwieweit man bei den Menschen von Fortschritten im wesentlichen sprechen kann, ist wohl überhaupt fraglich. Aber es ist Leben; und durch die beständige schöpferische Tätigkeit der aufeinanderfolgenden Dichtergeschlechter, welche die erstarrende Begriffswelt immer wieder in Fluß bringen, lebt die Menschheit; würde diese Tätigkeit der Dichter aufhören, dann könnten zwar noch immer Menschen geboren werden, die Zahl der Menschen
kann sich sogar vermehren; aber die Menschheit lebt dann nicht mehr: es tritt ein ähnlicher Vorgang ein, wie die christliche Lehre beim Einzelnen behauptet, wenn sie vom »geistlichen Tod« spricht.
Solche Völker sind uns ja zur Genüge bekannt; wir rechnen alle sogenannten Wilden zu ihnen. Sie sind Menschen, die eine bestimmte Stufe der Entwicklung, wie wir es nennen, erreicht haben und nun nicht weiterkommen. In sehr vielen Fällen verschwinden sie von selber, wenn sie Berührung mit höheren Rassen haben, ohne daß man immer genötigt ist, Alkoholismus, ansteckende Krankheiten und ähnliches als Ursache anzunehmen: welche Erklärung ja überhaupt nur ein Zurückschieben des Unerklärlichen um eine Stufe ist, denn warum gehen die höheren Rassen aus solchen Ursachen nicht zugrunde?
Wir Deutschen haben von den heutigen großen Völkern nächst den Russen die wandlungsfähigste und ausdruckreichste Sprache. Vieles, was wir als schwere Unart empfinden, hängt mit diesen Vorzügen – sei es der Sprache, sei es des mit ihr in Wechselwirkung stehenden Nationalcharakters – zusammen, so die häufige Verlotterung und die Fremdwörterei. Jede lottrige Wendung drückt doch etwas Neues aus, jedes Fremdwort sagt doch etwas Anderes als das eigene Wort: wir sollten suchen, den Mißbrauch zu verhüten, vor allem, indem wir die wirklichen Freiheiten unserer Sprache besser untersuchten und indem wir ihre große Fähigkeit, Neuworte zu bilden, besser ausnützten; aber wir sollten uns immer freuen, daß die Möglichkeit der Unarten doch vorhanden ist, denn sie beweist unsere Stärke. Selbst der heutige Schwulst wird doch einmal irgendwie zur Bereicherung beitragen, wie es der Schwulst des 18. Jahrhunderts getan hat.
Die Schicksale der Völker sind uns ja unverständlich. Wir wissen nicht, weshalb die Griechen haben sterben müssen, und weshalb die Inder dem geistlichen Tod verfallen sind, um die zwei bedeutendsten Völker zu nennen, welche bis nun gelebt haben. Alle Erklärungen langen nicht zu, denn ein Volk stirbt nicht durch gesellschaftliche oder politische Ursachen; es stirbt nur, wenn es nicht mehr leben kann.
Eines wissen wir aber sicher: daß dieses Sterben immer irgendwie mit Veränderungen der Sprache zusammenhängt. Das Unheilvollste scheint zu sein, wenn die Sprache des täglichen Lebens nicht mehr die Sprache des höheren Geistes ist, wenn die Dichter die Sprache der Vorfahren sprechen. Wir sehen Beispiel und Gegenbeispiel in den romanischen Ländern Europas: der Verfall währt so lange, als die höhere Sprache das Lateinische ist; sobald die Dichter in der Sprache des täglichen Lebens dichten, beginnt wieder neues Leben. Wir Deutschen haben das ungeheure Glück, daß trotz des künstlichen Ursprungs unserer höheren Sprache ein solches Auseinanderfallen bei uns unmöglich ist; der glücklichste Zustand scheint zu sein, wenn eine Mundart gesprochen wird, neben der die allgemeine Schriftsprache herrscht, wie heute noch in der deutschen Schweiz: hier erfüllen die Dichter ihre Aufgabe besonders gut infolge des Unterschiedes zwischen Umgangsprache und Schriftausdruck, der so gering ist, daß die Sprache doch immer dieselbe bleibt, aber doch so groß, daß die Schriftworte immer frisch gefühlt werden.