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Wir haben alle auf der Schule die Geschichte von Diogenes und Alexander gehört. Diogenes sitzt in seiner Tonne, und Alexander fragt ihn, ob er nicht etwas für ihn tun kann. Diogenes antwortet: »Wenn du mir vielleicht aus der Sonne gehen möchtest.«
Der alte Erzähler, der die Geschichte überliefert hat, fügt hinzu, daß Alexander darauf gesagt habe: »Wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich Diogenes sein.« Das hat Alexander gewiß nicht gesagt, denn wenn er das hätte sagen können, dann wäre er nicht Alexander gewesen. Der alte Erzähler war ganz und gar nicht seelenkundig, daß er so etwas glauben konnte.
Alexander hat ein großes Reich erobert, er hat, wie man heute sich ausdrückt, ein Weltreich begründet. Diogenes hat in seiner Tonne gesessen und Witze über andere Leute gemacht. Beide Männer haben gelebt und sind gestorben; man erzählt von ihnen noch andere Geschichten als diese und denkt: »Ja, das war nun Alexander und das war Diogenes.«
Aber Alexander und Diogenes sind mehr als zwei zufällige Männer, welche gelebt haben und gestorben sind: sie verkörpern zwei große Willensrichtungen der Menschheit, und ihre Begegnung ist sinnbildlich für große geschichtliche Vorgänge. Es ist kein Zufall, daß ihre Geschichte in einem gewissen Zeitpunkt erzählt wird. Hundert Jahre vorher hätte sie nicht erzählt werden können, erst mußte den Menschen klarwerden, daß hier eine Aufgabe für das Nachdenken und eine Wahl für ihre Sittlichkeit vorlag.
Dieser Krieg hat die europäischen Völker verarmt. Vielleicht wird er noch Folgen haben, die wir heute nicht ahnen können, wenn nämlich die merkwürdige Selbstauflösung großer Reiche, wie Rußland und Österreich waren, fortschreitet. Nachdem die Menschen lange Zeit hindurch die Geschichte von Alexander und Diogenes nur als Anekdote gehört haben, bei der sie sich nichts weiter dachten, werden sie nun die Geschichte wieder selber erleben.
Der Krieg bedeutet einen Kampf der verschiedenen nationalen Kapitalmächte um die Weltherrschaft. Man beurteilt das heutige Kapital sehr häufig noch immer falsch, indem man es als Reichtum auffaßt: es ist nicht Reichtum, sondern Macht. Wenn jetzt Amerika für eine Weile die Weltherrschaft erringt und alle andern Völker ausbeutet, so ist der Drang, der es treibt, genau derselbe wie der Drang Alexanders war; nur die Mittel sind zum Teil andere geworden.
Wir haben alle Ursache, uns einmal zu fragen, was denn die Macht bedeutet; wenn es uns gelingt, eine richtige Antwort zu finden, dann können wir uns auf dem Wege der sittlichen Selbstbestimmung von ihr befreien.
Griechenland war unfrei geworden. Aber war Diogenes unfreier unter der Herrschaft des makedonischen Königs, als da die Griechen einen selbständigen Staat hatten? Diogenes hatte eingesehen, daß alle die Dinge, auf welche sich die Unfreiheit bezieht, gleichgültig für ihn waren, daß er auf sie verzichten konnte. Nachdem er verzichtet hatte, blieb als Rest nur noch das Wesentliche seiner Persönlichkeit zurück, über die kein Mensch eine Macht ausüben kann.
Was bedeutete für einen Mann wie Diogenes die frühere Freiheit?
Das Wort Freiheit hat eine Vieldeutigkeit, wie wenige Worte haben; es bedeutet eigentlich nur die Verneinung des Zwanges, und je nach dem Zwang, welcher gemeint ist, wird es bestimmt. Als die Griechen noch freie Staaten hatten, konnten sie nach Belieben über Krieg und Frieden entscheiden – das heißt, die Mehrheit der Bürger entschied, und die Minderheit hatte sich zu fügen. Wenn Diogenes damals zur Minderheit gehörte, war er da vielleicht frei? Die politische Freiheit des Staates ist etwas ganz anderes als die Freiheit der Persönlichkeit.
Machen wir eine Abziehung, um uns das Verhältnis der beiden ganz klarzumachen.
Diogenes ist persönlich frei, weil er sein Wollen äußerer Dinge auf das Allernotwendigste beschränkt hat; er ist so frei wie der indische Bettler. Lebt er in einem Staatswesen, welches viele Ansprüche an die Bürger stellt, so wird seine persönliche Freiheit durch dieses beschrankt. Der antike Staat machte Ansprüche an seine Bürger, die wir uns etwa vorstellen können, wenn wir das, was heute im Krieg der Staat von uns verlangt, uns noch sehr gesteigert denken: der Staat betrachtete Gut und Blut der Bürger als sein Eigentum und kannte keine Grenze, wo er mit seinen Ansprüchen aufhörte. Nachdem
die politische Freiheit dahin war, als die Griechen unter makedonischer Herrschaft standen, konnte der Staat solche Ansprüche nicht mehr stellen, mußte sich immer mehr auf die bloße Steuerleistung beschränken. Dieser aber war der Arme entzogen, denn er hatte nichts. So kommt es, daß die persönliche Freiheit überhaupt erst entsteht nach dem Verlust der politischen Freiheit.
Man wende nicht ein, daß die Freiheit des Wortes und die sogenannte Freiheit des Denkens nach dem Verlust der politischen Freiheit nicht mehr möglich sind. Sie brauchten mit politischer Freiheit durchaus nicht verbunden zu sein, Rechtsverfahren, welche die Athener über ihre hervorragendsten Männer wegen Gottlosigkeit verhängten, beweisen das; und umgekehrt kann bei politischer Unfreiheit eine sehr große Freiheit im Geistigen herrschen, wenn nur die den Machthabern wesentlichen Punkte geschont werden. Das aber ist lediglich Sache der Klugheit. Im zarischen Rußland herrschte in der Tat eine viel größere Gedankenfreiheit und selbst Freiheit des Wortes als etwa in Amerika.
Wie kommt es nun, daß trotzdem alle edelgesinnten Menschen die politische Freiheit auf das leidenschaftlichste anstreben?
Wir sind persönliche, in sich abgeschlossene Wesen; wir sind aber auch zugleich Angehörige unseres Volkes, das als selbständiger Staat in der Wirklichkeit steht. Das Volk, das sich im selbständigen Staat verkörpert, hat seine Seele und seinen Willen, die entstehen aus den Seelen und den Willen der Einzelnen, nicht durch bloßes Zusammenzählen, sondern auf eine geheimnisvolle andere Weise. Wie wir für uns persönliche Freiheit erstreben müssen, so müssen wir für unsere Gemeinschaftseele die politische Freiheit erstreben.
Dabei müssen wir wissen, daß hier gerade die Höchststehenden zu Kämpfen kommen können. Das ewige Muster dafür, wie solche Kämpfe in edler Weise auszutragen sind, wird Sokrates sein, der, als ihn seine Freunde zur Flucht aufforderten vor dem ungerechten Tod, in seinem Gefängnis blieb, weil er den Gesetzen seines Staates nicht ungehorsam sein wollte.
In seinen Reden an die deutsche Nation hat Fichte in unübertrefflicher Weise den Sinn der politischen Freiheit auseinandergesetzt. Er kommt darauf hinaus, daß nur in politischer Freiheit ein Volk seine eigene Geschichte lebt.
Was kann ein Volk tun, wenn diese Freiheit in Gefahr steht?
Diogenes hat eine ewig gültige Antwort gegeben. Wenn das gesamte griechische Volk aus Männern bestanden hätte wie Diogenes, dann wäre es frei gewesen, dann wäre die persönliche Freiheit mit der politischen zusammengefallen. Macht kann ein Anderer nur über uns ausüben, wenn wir wollen: Macht ist durchaus ein Beziehungsbegriff, Alexander ist nur deshalb der Herr Griechenlands, weil sich die Griechen zu ihm als ihrem Herrn verhalten. Hätten ihm alle Griechen geantwortet wie Diogenes, so war er machtlos.
In noch viel höherem Maße als damals gilt das heute, denn viel mehr als damals ist die Macht heute wirtschaftlich. Amerika kann Europa und mit ihm Deutschland nur knechten durch den Kapitalismus. Ob ein Volk aber sich kapitalistisch unterjochen läßt, das liegt bloß an ihm.
Vor dem Kriege hat in Deutschland der Reichtum geherrscht, und die Bereicherung war das Ziel aller. Hätten wir den Krieg gewonnen, was wäre entstanden? Wir hätten unsere Seele nur noch tiefer versinken lassen im Sinnlichen und Gemeinen. Heute sind wir ein armes Volk geworden, und wir sehen, daß ein Volk auch arm leben kann, wir haben sogar begonnen, den Reichtum zu verachten, seit wir deutlich vor Augen gesehen haben, wie er im Kriege erwuchert werden konnte. Wir sind arm geworden; aber nun können wir ein besseres Ziel haben, als wir vor dem Krieg hatten: wir können uns wieder auf unsre große Zeit besinnen, wo das deutsche Volk die Welt beherrscht hat durch seinen Geist.
Nur an uns liegt es, daß das siegreiche Amerika ohnmächtig vor uns zurückweichen muß. Es wird ebensowenig sagen, wie Alexander es gesagt hat, daß es an unsrer Stelle sein möchte, wenn es nicht an seiner wäre: denn was wäre Amerika, wenn es nicht mächtig wäre? Die Macht wird nie selber zugeben, daß sie ohnmächtig ist, denn damit würde sie ja ihre innere Lüge aufdecken. Aber auch heute selbst, wo wir unsern tiefsten Stand erreicht haben, werden wir Deutschen sagen: wir möchten nicht Amerika sein, wenn wir nicht Deutschland sein dürften.