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Idealismus und Realismus in der Kunst

(1913)

In Jean Pauls »Kometen« gibt es eine reizende Schilderung der Kunststadt Lukasstadt. In dieser sind zwei Malerschulen, die niederländische

und italienische; die italienische Schule wird bezeichnet durch: »Kolorit, Karnazion, Projekzion, perspektivische Vorgründe, Gruppierung, Idealismus und erhabenes Pittoreskes, und tiefen Faltenwurf und höhere Seele in allem«; und in der niederländischen Schule gibt es einen Maler, der den berühmten Balthasar Denner noch übertrifft, denn dieser soll ein altes Gesicht so gemalt haben, daß man alles Feine erst durch ein Mikroskop recht erkennen konnte, der Lukasstädter aber malte einem Alten das Vergrößerungsglas gleich in die Hand, durch welches man jedes Schweißloch des Kopfes gleich vergrößert sehen konnte.

Diesen Kunstzuständen in Lukasstadt entspricht heute noch die volkstümliche Vorstellung von den künstlerischen Dingen, während die Kunstkritik und Kunstwissenschaft längst von den Künstlern eine richtigere Auffassung gelernt haben. Die literarische Kritik aber steht heute leider sehr viel tiefer als die Kritik der bildenden Kunst, und in ihr finden wir denn auch noch ganz unbekümmert diese Lukasstädter Vorstellungen.

Idealismus und Realismus sind überhaupt keine Begriffe, die man auf Kunstwerke anwenden kann. Auch wenn man von dem kindlichsten Inhaltlichen absieht; und selbst in der sich für ganz ernsthaft haltenden Kritik wird noch heute ein Werk mit einem antiken Vorwurf wie die Iphigenie etwa einfach durch den Vorwurf für etwas ganz anderes genommen als eines mit einem Vorwurf aus der Gegenwart, wie etwa der Baumeister Solneß: und dabei ist die Iphigenie sicher »realistischer« als der Solneß – und nur das Handwerkliche betrachtet: Verallgemeinerung oder Verpersönlichung der Gestalten und Vorgänge und Abziehung oder Einzelausführung werden von den Künstlern doch nicht so einfach nach einem Schema vorgenommen, sondern ergeben sich aus den Gesetzen, unter denen sich ein jedes Kunstwerk bildet; sie richten sich nach dem Ziel, das der Künstler verfolgt, wenn er sein Werk schafft; dieses Ziel ist nämlich nicht, wie man in der Literaturkritik immer noch glaubt, eine Persönlichkeitsäußerung, sondern die Erzielung einer Wirkung auf Andere, die allerdings von einer Persönlichkeit ausgeht.

Wenn man in ein durchschnittliches Museum kommt, so führt etwa rechts eine Tür, überschrieben »Italienische Schule«, in eine Anzahl von Sälen mit italienischen und links eine Tür, überschrieben »Niederländische Schule«, in Säle mit niederländischen Bildern. In genau derselben Weise sind da aufgehängt Bilder, die für einen Altar bestimmt waren, vor dem gläubige Menschen betend niederknieten, die in Schlössern hingen, wo eine festlich gekleidete Menge unter ihnen wogte, oder in dem Zimmer eines einsamen Mannes, der zuweilen einen ruhigen Blick auf eine schöne Malerei werfen wollte, wenn er von seinem Schreibtisch aufsah. Wir können noch wunderlichere Dinge sehen. Glasgemälde, die für Fenster eines Domes bestimmt waren, wo sie mit anderen Glasgemälden zusammen dem Frommen einen mystischen Schauer erwecken sollten, sehen wir in ein Museumsfenster eingelassen und mit hellen Glasscheiben umgeben, in einem Licht, das durch andere helle Fenster einfällt; Steinfiguren, die man zehn Meter hoch über sich sehen sollte, erblicken wir auf meterhohen Sockeln und erstaunen über die langen Körper und die überhängenden großen Köpfe.

Man macht heute bescheidene Versuche, diese alte Museumsbarbarei zu beseitigen; diese Versuche können natürlich nie weit gehen, denn wenn man folgerichtig sein wollte, so müßte man die Museen überhaupt abschaffen und die Kunstwerke wieder in die Aufstellung und Umgebung und vor die Beschauer bringen, für die sie bestimmt sind. Jedenfalls weiß man aber heute in der Kunstwissenschaft und Kunstkritik, daß ein Kunstwerk als Kunstwerk nur in der richtigen Beziehung zu seinem Beschauer besteht, und außer dieser nur Gegenstand einer an sich überflüssigen Wissenschaft ist.

Bei der Beurteilung von dichterischen Werken weiß man das aber nicht.

Ein Drama von Shakespeare ist für die Aufführung auf der damaligen englischen Bühne, eines von Sophokles für die Aufführung auf der damaligen griechischen bestimmt gewesen. Aus dieser Bestimmung ergaben sich die Gesetze ihrer Handlungsführung, Charakteristik, Versbehandlung und so fort. Da zu den damaligen Bühnen auch die damaligen Zuschauer gehören, so sind diese Werke auf ewig aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissen.

Die Werke, welche wir in den Museen betrachten können, haben auch in der falschen Umgebung doch immer noch etwas an sich, das eine Beziehung zum Beschauer ermöglicht, desto mehr natürlich, je geringer die Gebundenheit an ihren Ort ist. Die Sixtinische Madonna wirkt noch immer, das herrlichste Glasfenster wird im Museum immer nur als eine Art kunstgewerblicher Arbeit erscheinen. So machen auch die großen Dichtungen der Vergangenheit immer noch ihren Eindruck: freilich oft einen falschen, und genau, wie man alle Bilder, die nichts miteinander gemeinsam haben, als daß sie mit Öl oder Tempera gemalt sind, in ein einziges Haus hängt, so macht man es mit den aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissenen Dichtwerken.

Die Lage wird noch erschwert dadurch, daß in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Kunst überhaupt keine natürliche Stelle hat. Man spricht und schreibt viel mehr von ihr als früher, aber das ist nur Geräusch; was wir heute von Kunst haben, das führt ein durchaus unnatürliches Leben; jeder wirkliche Künstler lebt in Wahrheit heute gänzlich einsam, schafft seine Werke ohne Hinblick auf einen Platz, für den sie bestimmt sind, und erwartet entsagend die sogenannte Anerkennung nach dem Tode, nämlich ein Museumsdasein. Dieser Zustand erscheint den Leuten, weil sie in ihm leben, als natürlich, und so fördert dieses abgezogene Arbeiten des heutigen Künstlers die abgezogene Betrachtung der Kunstwerke.

Raffael malte Bilder, welche auf einen Altar in einer schlechtbeleuchteten Kirche gestellt werden sollten; vor ihnen bewegte sich ein Priester, der heilige Handlungen verrichtete, knieten die Chorknaben mit den Weihrauchfässern; dann kamen die Stufen des Altars, dann vielleicht noch ein freier Raum, dann stand da die fromme Menge. Velasquez malte das Bildnis eines Papstes, das in einem kleinen Raum an der Wand hing, in einer Beleuchtung, die er sich aussuchen, auf die er sich verlassen konnte, für wenige vornehme und feingebildete Männer. Natürlich sehen die heutigen Maler, welche überhaupt an keine anderen Bedingungen denken können für ihre Arbeit, wie die des Velasquez-Bildes sind, in Velasquez ihren Ahn und nicht in Raffael; das ist sehr verständig von ihnen; aber man fragt sich vergeblich, was das eine eigentlich mit Idealismus, das andere mit Realismus zu tun hat, oder weshalb Raffael »überwunden« ist?

Wenn man das heutige Theater überhaupt als Kunsteinrichtung will laufen lassen, so hat es immerhin noch am ersten Ähnlichkeit mit dem Theater der Elisabeth-Zeit. Natürlich sehen die heutigen Bühnenschriftsteller, so mäßig sie auch sein mögen, ihren Ahn in Shakespeare; über das griechische Schauspiel hat man, wohl aus eingewurzelter Achtung für das Altertum, nicht solche Albernheiten gesagt wie über Raffael, aber immerhin gilt das Typisieren doch als »überwunden«.

Schon dieses Wort »überwunden«, welches so recht aus dem Wortschatz der heutigen Großmannssucht genommen ist, zeigt die falsche Stellung zu diesen Dingen. Ein Kunstwerk ist da und ist in seiner Art entweder gut oder schlecht. Wer es nicht mag, der braucht es ja nicht anzusehen; aber wenn einer sagt: der heutige Mensch mit seiner empfindlichen Psyche usf. – dann überwindet er nichts, sondern er sagt nur, mit einigem Selbstlob verbrämt, daß er dieses Werk nicht mag.

Indem unsere Zeit nun für die Kunst überhaupt keine natürlich gegebenen Bedingungen hat und den Künstler in völliger Einsamkeit für eine erträumte Nation arbeiten läßt, schafft sie aber etwas völlig Neues; wer heute wirklich Künstler ist, der muß nicht nur sein Werk schaffen, er muß sich auch die Bedingungen selber vorstellen, für die es geschaffen sein soll; seine Werke werden einmal das Museumsdasein bekommen wie die Werke früherer Künstler, aber sie haben nie die lebendige Wirkung, die jene zu ihrer Zeit hatten. Dadurch nun sind sie von allem Kleinen befreit, das nun einmal immer aus der Wirklichkeit kommt; wenn heute ein Künstler eine sehr große Begabung hätte, so könnte er, freilich mit einer bedeutenden künstlerischen und sittlichen Anstrengung, reinere und freiere Werke schaffen wie irgendein Künstler vor ihm. So frei wie der heutige Künstler ist noch nie ein Mensch gewesen: es bekümmert sich niemand um ihn, er kann tun, was er will.

In früheren Zeiten wurde naturgemäß jede Begabung auf den ruhigen Weg der bestehenden Bedingungen der Kunst gelenkt, wo dann die Persönlichkeit sich mehr oder weniger angemessen äußern konnte; heute wird der Künstler seinen Weg nur aus seinem Persönlichkeitsdrang heraus suchen. Damals ergab sich ein einheitliches Bild der Kunst einer Zeit und eines Landes im wesentlichen aus den allgemein gleichen Bedingungen;

heute kann ein solches einheitliches Bild nur entstehen durch gegenseitige Beeinflussung, Nachahmung und Übertragen von Vorstellungen; da diesen nur die geringeren Persönlichkeiten unterliegen, so werden die bedeutenderen also außerordentlich weit auseinandergehen; und etwa wenn früher der sogenannte Idealismus und Realismus sich zur gleichen Zeit und im gleichen Land ziemlich ausschloß, kann er heute sich gleichzeitig und im gleichen Lande finden.

Hier nun ist die Einordnung nicht mehr bloß irreführend für den Kunstliebhaber, sondern sie wird für die Kunst selber schädlich. Was eine Angelegenheit des Handwerks ist, die eigentlich niemand angeht wie den Künstler selber, wird zu einer allgemeinen Angelegenheit der Zeit gemacht, als welche sich ja die Kritiker gern empfinden. Zu allen den Schwierigkeiten, welche die heutige Kunst ohnehin schon hat, tritt dann noch die Einwirkung durch die Kritiker hinzu.


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