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In unserer vorklassischen, noch im Anfang unserer klassischen Zeit, war in unserer Dichtung der Gedanke eines Nationaltheaters verbreitet. Man machte sich eine dunkle Vorstellung von dem antiken und Elisabethischen Theater, ohne sich bewußt zu werden, daß diese beiden nichts miteinander zu tun haben, und nicht auf Grund irgendwelcher Tatsachen, sondern aus einem gesteigerten geistigen Nationalgefühl heraus nahm man an, daß nun auch wir Deutschen ein solches Theater haben müßten.
Unser Nationalgefühl war geistiger Art, es lebte auch nur in einigen wenigen geistigen Menschen: vor allem in Dichtern, dann in Philosophen, Schriftstellern und auch Gelehrten, und war vorhanden, ohne daß überhaupt eine Nation bestand.
So muß man sich denn nicht wundern, wenn solche Gedanken wie der vom Nationaltheater auftauchen konnten, die durch nichts Wirkliches begründet waren: das deutsche Nationaltheater war ja nicht unwirklicher als die deutsche Nation selber, vielleicht konnte es damals einem verständigen Mann sogar als weniger unwirklich erscheinen.
Im Lauf der Zeit hat sich nun herausgestellt, welche der damaligen Wunschbilder verkörpert werden konnten und welche nicht. Aber es ist nicht so einfach, das einzusehen, denn Wunschbilder werden nur zu gern von den Menschen mit beinahe gewollter Selbsttäuschung betrachtet; und wenn man heute auch nicht mehr von einem Nationaltheater spricht, so hat man doch die Vorstellung, daß wir gegenwärtig immerhin etwas dem, was damals ersehnt wurde, Entsprechendes haben.
Diese Vorstellung ist die Ursache von vielen Albernheiten der öffentlichen Meinung und von Leiden der jedesmaligen Dichter gewesen. Indem man treuherzig glaubte, ein wertvolles Theater zu haben, erhob die öffentliche Meinung jedesmal den mehr oder weniger mittelmäßigen Schriftsteller, der gerade die Bühne beherrschte – er brauchte sie gar nicht uneingeschränkt zu beherrschen, und es war ganz günstig, wenn ein noch mittelmäßigerer den größten Teil des Publikums für sich hatte – zu einer Art von Nachfolger Goethes oder Schillers; und wenn gerade ein wirklicher Dichter zu der Zeit lebte, dann hatte der zu dem Groll über sein ja notwendiges Verkanntsein noch die Bitterkeit über die Lobpreisungen und Einnahmen der andern.
Der Grund ist, daß die bestehende Bühne, die nach ihrer ganzen Lebensform gar nichts mit der Dichtung zu tun hat, beständig den Schein erweckt, als sei sie mehr als sie ist, indem sie Werke unserer Klassiker aufführt.
Es ist so, als ob etwa ein Panoptikum neben die Wachsfiguren, welche den letzten Mörder, den ertappten Apfeldieb oder den Kaiserschnitt darstellen, einige je nachdem bestaubte oder buntangestrichene Gipsabgüsse klassischer Standbilder stellen würde. Das Panoptikum ist ehrlich; wenn es wirklich solche Abgüsse aufstellen sollte, so wird es doch niemals so tun, als seien diese Abgüsse die Hauptsache, und Mörder, Apfeldieb und Kaiserschnitt seien nur aus trauriger Notwendigkeit des Geldverdienstes zugenommen. Das Panoptikum hat nie eine Ideologie gehabt und hat nie mit Hilfe dieser Ideologie Geldgeschäfte gemacht. Die Bühne aber, welche so vielfache Zuschüsse und Unterstützungen braucht, erhalt bewußt die Täuschung, daß sie etwas Höheres sei; und sie kann das, weil die Ideologie aus der Zeit unserer Vorklassiker noch nicht als falsch eingesehen ist. Es soll dabei nicht verhehlt werden, daß dieser Zustand auch seine gute Seite hat. In allen andern Ländern wird das Theater längst als ein Vergnügungsort für die mehr oder weniger gemeine Menge aufgefaßt; vielleicht verdanken wir Deutschen diesem Glauben an das Theater, daß wir heute das einzige Volk sind, welches noch ein lebendiges Drama hat; es kommt ja zwar nicht auf die Bühne, aber – so denken die Dichter immer – es müßte oder könnte doch auf die Bühne kommen. Aber vielleicht ist diese gute Wirkung auch nur ein Irrtum, wird den Dichtern auch nur die Tatsache verhüllt, daß unser Drama heute an einem ganz andern Art lebt als auf der Bühne.
Im Jahre 1825 sagte Goethe einmal zu Eckermann: »Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja, ich hatte den Wahn, als könne ich selber dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen. Ich schrieb meine ›Iphigenie‹ und meinen ›Tasso‹und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich auch ein ganzes Dutzend Stücke wie die ›Iphigenie‹ und den ›Tasso‹ geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, uns dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen.«
Mag eine Selbsttäuschung vorliegen oder nicht, jedenfalls hatte Goethe damals die Vorstellung, es habe am Theater gelegen, daß er nicht mehr große Dramen geschrieben hat. Jedenfalls wissen wir von Grillparzer, Kleist und Hebbel, wieviel Kraft ihnen verlorengegangen ist durch die beständige Theaterenttäuschung. Wäre es nicht möglich, daß unsere dramatische Literatur heute reicher wäre, wenn unsere Dramatiker von vornherein sich sagten, daß das Vorgeben des Theaters, der Dichtung zu dienen, rein lügenhaft ist? Welcher Gewinn wäre es für uns, wenn wirklich Goethe noch ein Dutzend Werke wie »Iphigenie« und »Tasso« geschrieben hätte! Wir sind durch unsere klassische Dichtung und Philosophie erzogen; wäre es nicht sehr wertvoll, wenn unsere Kämpfer heute noch mehr große Werke zu lesen hätten wie »Faust«, »Iphigenie« und »Tasso«?
Das Drama bekommt seine Form durch die Aufführungsbedingungen, also durch das Theater. Aber wir sehen oft in der Kunst, wie der Anlaß, der ursprünglich die Form gab, zurücktritt und nun Kunstwerke geschaffen werden, die mit diesem Anlaß gar nichts mehr zu tun haben. Musiker haben Tänze geschrieben, nach denen man nicht tanzt, und das Bild, das über dem Altar stand, hat durch die Maler endlich einen Sinn bekommen, daß wir nicht mehr an den Altar denken. Gewiß ist diese Entwicklung künstlich, und es liegen in ihr Gefahren der Entartung; aber unsere ganze Zeit ist so, daß alles von seinen natürlichen Bedingungen entfernt wird: ob das eine günstige Entwicklung ist oder nicht, das haben wir nicht zu prüfen; wir können ihr nur gehorchen, und wir tun weise, wenn wir ihr ohne Murren gehorchen; denn wenn ein Mann auch seine Ansichten nach seiner Kraft vertreten soll: was über Menschenkraft geht, das kann nur ein Narr versuchen, der sich selber aufzehrt und andern nichts nützt. Das dichterische Drama ist heute Buchdrama, und von der langsamen Wirkung des Buches muß der heißblütige Dichter erhoffen, was er sonst von der schnellen Wirkung der Bühne erhoffte. Hätte sich Goethe das klargemacht, so hätte er – immer angenommen, daß er sich nicht über sich selber täuschte – uns mehr große Werke hinterlassen, hätte er seine Aufgabe an seinem Volk und der Menschheit besser erfüllt.
Die Ideologie des Theaters hat immer weiter getrieben, und immer neue unhaltbarere Verhältnisse sind dadurch entstanden, daß man nicht entschlossen ein Ende mit ihr machte. Durch die Sozialdemokratie bekamen die Arbeiter ein bürgerliches und menschliches Selbstbewußtsein, das sie zuvor nicht gehabt hatten. In gerader Nachwirkung der Vorstellung vom Nationaltheater begründeten sie eine Volksbühne, welche ihrer Nennung nach das bedeuten sollte, was jenes Nationaltheater für die ganze Nation gewesen wäre. In Wirklichkeit kam zunächst ein Verein zustande, der Aufführungen der bestehenden Bühnen seinen Mitgliedern zu billigen Preisen vorführte und auch selbständig Stücke zur Darstellung brachte, welche den sonst aufgeführten Stücken durchaus ähnlich waren; später baute der Verein dann ein kostspieliges Theater, nahm eine große Schuld zu dem Zweck auf, die verzinst werden mußte, und erzielte damit, daß die Ranghöhe seiner Aufführungen nun endgültig festgelegt war. Man wird ja den Arbeitern gönnen, daß sie sich in derselben Weise vergnügen wie die höherbezahlten Leute, aber mit der Dichtung hat auch die Volksbühne nichts zu tun.
Die letzte bedeutende Literatur Europas war unsere deutsche klassische Dichtung. Die Romantik und der Naturalismus, welche auf sie folgten, haben sie nicht erreicht, sondern stehen unter ihr. Auch Dostojewski, der doch gewiß der bedeutendste der neueren Dichter ist, steht doch tief unter der geistigen Freiheit unserer Klassiker. Wir sehen bei Goethe und Schiller in dem, was man Humanitätsideal nannte, die Anfänge für die Erhebung eines neuen, geistigeren Christentums, das den Wurzeln unserer christlichen Religion näher gewesen wäre als unsere heutigen kirchlichen Lehren, während Dostojewski in unfreier Weise die –- wie man will: zurückgebliebenste oder entartetste – christliche Kirche der Gegenwart aufzwingen will; bei dem freier fühlenden Tolstoi spürt man schon den Zusammenbruch dieses, auf einer tiefen Lüge wurzelnden russischen Evangeliums. Die Frage der Religion ist für den Dichter eine Frage der dichterischen Form; nur im Drama sind die höchsten Dinge der Menschheit zu gestalten. Woran eigentlich unsere klassische Dichtung scheiterte, ist auch heute noch nicht klar; vielleicht lag der Fehler schon in der vorklassischen Zeit, als man im berechtigten Widerstand gegen die Franzosen sich zu tief in Shakespeare einließ und über seinem Studium die eigentlichen Formfragen des Dramas vernachlässigte. Jedenfalls ist auch das spätere Drama tief unter unserem klassischen Drama geblieben; Ibsen in seinen früheren Werken ist ein romantischer Nachkömmling und in seinen wertvolleren späteren Arbeiten kommt er nicht über die Aufgaben hinaus, zu denen etwa der deutsche Pietismus vor unserer klassischen Zeit gekommen war. Wenn es den Dichtern bei uns gelänge, sich von dem Blendwerk des Theaters fernzuhalten und Dramen zu schaffen, unter den Bedingungen, die allein in der heutigen Gesellschaft möglich sind, so wäre eine Fortführung unserer klassischen Dichtung vorhanden.
Trügt nicht alles, so liegt aber den Deutschen ob, diese Fortführung zu geben. Dieser Krieg muß uns doch mit dem Selbstgefühl erfüllen, daß wir das Volk sind, durch das Gott jetzt seine Taten tun will, denn wenn er einen Sinn hat, so bedeutet er die Verbreitung des Weltbildes unserer Klassiker auf die übrigen Völker.