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Die gesamte Menschheit hängt heute nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig und sogar seelisch zusammen. Die großen gebildeten Völker haben durch Übersetzungen, durch Museen und Sammlungen sich die bedeutenden geistigen Werke aller Völker der Welt bekanntgemacht, nicht bloß der, welche man zu den gebildeten rechnet, sondern auch der, welche man früher als roh und barbarisch ansah, und sie verfolgen mit Aufmerksamkeit die geistigen Bewegungen, welche gegenwärtig bei ihnen stattfinden. Die kleineren Völker, welche sich an die großen anschließen, erhalten von diesen die Mitteilungen; man kann ganz deutlich sehen, welche Völker von Deutschland, von Rußland, von England und von Frankreich ihre Mitteilungen über die geistigen Zustände der übrigen Welt bekommen.
Natürlich muß das eine gegenseitige Beeinflussung ergeben. Die Völker entwickeln sich geistig und seelisch nicht mehr rein aus sich heraus – was ja wohl freilich immer sehr selten geschah – und durch Beeinflussung des einen und andern fremden Volkes; sondern man kann sagen, daß die Menschheit ungefähr einen Zustand erreicht hat, in welchem eine gemeinsame geistige Entwicklung stattfindet, die bei den einzelnen Völkern je nach ihrer besonderen Art immer nur eigentümlich gefärbt ist.
DieBeobachtung des neuen Zustaudes ist ja schon frühzeitig gemacht. Er trat in der Dichtung am auffälligsten in Erscheinung; Goethe prägte für ihn das Wort »Weltliteratur«; er hat selber den Übergang erlebt. Wer heute eine deutsche Literaturgeschichte schreibt, der kann genau den Zeitpunkt angeben, wo der Übergang zur europäischen Literaturgeschichte beginnt. Die Romantik ist schon eine europäische Erscheinung.
Gerade in der Romantik aber finden wir auch schon die merkwürdige Gegenströmung, denn in allen Ländern betont sie das Völkische. Gleichzeitig mit der gegenseitigen geistigen Durchdringung aller Völker und dem Beginn einer einheitlichen Völkerentwicklung fängt die scharfe Betonung der völkischen Unterschiede und Gegensätze an.
Die Erscheinung ist ja durchaus verständlich, sie ist nichts weiter als gesund; sie ist lediglich ein Ausgleich, durch welchen die Ebenmäßigkeit hergestellt werden soll. In einer Übersichtsform ausgedrückt, hat der Mensch drei Schichten: er ist Mensch, er ist Volksangehöriger und er ist Einzelwesen. Die inneren Kräfte dieser drei Schichten müssen in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß sie sich ausgleichen; sobald eine ein Übergewicht bekommen will, müssen die andern sich zur Wehr setzen. Im Mittelalter hat niemand ein besonderes Gefühl dafür, daß er einem bestimmten Volk angehört; er braucht es einfach nicht zu haben, denn sein Volkstum wird ja in keiner Weise bedroht; es gibt keine Eisenbahn und keine Zeitung, ein Jeder lebt so, wie die Vorfahren gelebt haben, und das Volk erhält sich von selber in seiner bestimmten Art. Man denke an die Ähnlichkeit mit der heutigen Hervorhebung des Einzelwesens. Der Mensch war immer ein Einzelwesen, aber er beginnt diesen Umstand erst dann hervorzuheben und unter Umständen zu verteidigen, wenn die Gleichmacherei von Staat und Gesellschaft auf einem gewissen Entwicklungspunkt ihn dazu zwingen. Das, was wir den modernen Individualismus nennen, ist genau ebenso eine Gegenwirkung wie das neuere völkische Bewußtsein.
Die Tatsache solcher Gegenwirkungen hat nun aber weitere Folgen, die sehr merkwürdig sind.
Im Mittelalter hätte niemand etwas gegen das Bild eines Weltreiches gehabt. Man glaubte ja sogar an ein solches Bild, indem man zeitweilig den römischen Kaiser und deutschen König für den Weltherrscher hielt. Die Ursache war, daß eine solche Weltherrschaft immer nur ein Bild sein konnte, daß in Wirklichkeit eine Reihe von kleinen und kleinsten staatlichen, halbstaatlichen und scheinstaatlichen Gebilden nebeneinander waren, in denen das völkische Leben wie das Leben des Einzelnen sich ungehindert bewegen konnte. Heute ist die tatsächliche Möglichkeit eines Weltreiches vorhanden, durch die innige Verkettung aller geistigen und leiblichen Bedürfnisse und Leistungen der Völker; ja, man kann sagen, alles drängt dazu, ein solches Weltreich notwendig zu machen; aber alle Menschen, ausgenommen natürlich die, welche zu dem herrschenden Volk gehören würden, sträuben sich dagegen, daß es eingerichtet wird, und selbst der kleinste Volksplitter im Balkan oder an der Ostsee will das, was er seine Selbständigkeit nennt, behalten.
Wer von Bild und Gedanken ausgeht, der kann hier leicht zu Irrtümern kommen. Nietzsche hatte eine große Schätzung für Napoleon, die wohl von einer falschen Voraussetzung über seine bewußten Absichten ausging. Das Napoleonische Weltreich hätte ja doch Europa staatlich geeinigt, das ohnehin geistig und wirtschaftlich zusammengehört, und da alsdann das Wettrüsten und der gegenwärtige Krieg nicht eingetreten wäre, so hätte eine märchenhafte Blüte des Geistes sich entfalten können. Napoleon war schlau genug, ein solches Bild in den weinerlichen Äußerungen zu hinterlassen, die von Sankt Helena aus von ihm nach Europa kamen. Heute, in diesem fürchterlichen Krieg, wird das, was damals geschah, wieder wichtig und neu. Der Gedanke Nietzsches wird heute wieder von Männern, die man achten muß, aufgenommen. Je nach der Veranlagung kann man ja schwere und weniger schwere Folgen des Krieges für Europa annehmen, und bestechend wirkt jedenfalls das Bild, das uns gegenüber solchen Zukunftsbefürchtungen entrollt wird.
Aber Nietzsche sowohl wie seine Schüler vergessen, daß eine solche Weltherrschaft für die Europäer seelisch unmöglich zu ertragen war. Ganz abgesehen von der Unzulänglichkeit Napoleons, dessen ganze Kunst der Menschenbehandlung darin bestand, daß er auf die Gemeinheit, im besten Fall auf die Selbstsucht rechnete, bei welcher Rechnung man wohl weit kommt, aber nie das Höchste erreichen kann; denn das Höchste erreicht man nur durch selbstlose Hingabe; ganz abgesehen von der Unfähigkeit der Franzosen, eine solche Weltherrschaft erträglich zu machen; der seelische Selbsterhaltungstrieb der europäischen Völker machte das Reich unmöglich. Mit Recht weist man auf die Ähnlichkeit der Zerfleischung des heutigen Europas mit der Selbstzerfleischung Griechenlands hin. Aber man sollte die Geschichte nicht Hofmeistern; wenn die Griechen damals keinen Einheitsstaat bildeten, dann konnten sie ihn nicht bilden; und wenn die Europäer nicht in einem Weltreich aufgehen wollten, dann konnten sie es nicht; sie hätten die gleichmachenden Kräfte überschätzt; »der Mensch« wäre zu stark geworden etwa gegenüber dem »Deutschen«, und durch das gestörte Gleichgewicht wäre eine seelische Erkrankung gekommen von der Art, wie wir sie im Römischen Reich sehen. Wer die Aufzeichnungen der Besseren aus der napoleonischen Zeit liest, der wird finden, daß die allgemeine Klage ist, daß die Menschen unsittlich gemacht werden. Solchen Erfahrungen müssen wir glauben; die Wirklichkeit muß immer unser Bild verbessern.
Gewiß steht der Mensch höher als der Deutsche oder Franzose, und auf den höchsten Höhen des Geistes vergessen wir die völkischen Unterschiede. Wir wissen nicht mehr, daß Dante ein Italiener war, und Milton ein Engländer. Aber deshalb dürfen wir nicht vergessen, daß Dante nur als ein Italiener werden konnte, und daß der Mensch nur sein kann als Deutscher, Franzose oder Angehöriger eines sonstigen Volkes. Wir dürfen nicht den Dehler begehen, in den Denker so leicht verfallen, daß sie die Überordnung des Denkens verwechseln mit der möglichen Gestaltung der Wirklichkeit. Grob ausgedrückt wäre das so, als wenn wir die Tatsache, daß uns nur Dantes Geist wichtig ist, uns so vorstellten, als ob Dante nicht hätte auch essen und trinken müssen. Ganz gewiß ist alles Völkische nur Begrenzung, und gegenüber der völkischen kindlichen Eitelkeit kann man ganz ruhig hervorheben, daß einer seinem Volk angehört durch seine Schwächen: aber in der Begrenzung leben die Menschen nun einmal, außer ihr können sie nicht leben, und es ist ein richtiges Lebensgefühl, daß die Begrenzung erhalten wird. Deshalb haben junge und gesunde Völker, wie etwa die Serben, ein so starkes Volksgefühl, das uns ja ganz mit Recht komisch vorkommen mag, weil noch gar Keine Leistungen vorliegen, auf welche es sich stützen kann.
Es geschieht viel Unglück in der Welt dadurch, daß die Gesetze des Lebens der Menschen so viel weniger bekannt sind als die Naturgesetze. Sehr viel erscheint als bewußter Wille und Ergebnis von Überlegungen, was eine so notwendige Gegenwirkung ist, daß sie unter allen Umständen eintreten muß. Der Einzelne, welcher in die Jahre kommt, wird weise, das heißt, er lernt einsehen, daß nicht Zufall und Willkür im Leben herrschen, sondern daß wir allgemeinen Gesetzen unterliegen, die wir ahnen können, denen wir gehorchen müssen, zwischen denen wir uns auch gefahrloser bewegen können, wenn wir von ihnen wissen. Die europäischen Völker sind alle jung, sie haben noch nicht die Erfahrungen des Alters, wie sie etwa das weise chinesische Volk hat; sie führen ihr Leben deshalb noch unbefangen. Aber vielleicht ist es möglich, daß die mangelnde Erfahrung und Weisheit der Älteren bei unserer so ausgezeichneten wissenschaftlichen Schulung zu einem gewissen Grad einmal ausgeglichen wird durch wissenschaftliche Erkenntnis dieser Gesetze. Eines dieser Gesetze ist dieses, daß zwischen allgemein Menschlichem und Völkischem immer ein bestimmtes Verhältnis bestehen muß, und daß eine stärkere Entwicklung des allgemein Menschlichen eine stärkere Reizbarkeit des völkischen Gefühls erzeugt. Der tätige Staatsmann würde vor mancher Überraschung bewahrt bleiben, wenn er das sich immer klarmachte. Etwa bei den früheren russischen Randvölkern wird heute ein um so heftigeres Volksgefühl entstehen, je mehr sie durch den Zerfall Rußlands und ihre nunmehrige Freiheit in den allgemeinen europäischen Strom hineingeraten. Eine Unterdrückung, wie die russische war, wird im Verhältnis eine viel schwächere völkische Gegenwirkung erzeugen als die Einfuhr von heutigen Fabrikwaren, die Entwicklung der wirtschaftlichen Kräfte des Landes, und das, was wir die allgemeine Bildung nennen. Wir haben Beispiel und Gegenbeispiel schon vor dem Kriege gehabt in den rumänischen Teilen Österreichs und Rußlands. Die Österreicher haben sich redlich bemüht, ihre rumänischen Bewohner zu heben, und die Folge war, daß sie alle von Österreich fort wollten; die Russen haben ihre Rumänen niedergehalten, und die Folge war, daß sie ruhig blieben. Man klagt dann bei solchen scheinbaren Unbegreiflichkeiten über Undankbarkeit, zieht den Schluß, daß man mit Gewalt leichter regiere als mit Milde, folgert einen mangelhaften Volkscharakter, der eben Unterdrückung verlange, und ähnliches: die Ursachen liegen durchaus in allgemein gesellschaftlichen Gesetzen.