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Wir sind Bürger zweier Welten: wir gehören der Welt der von uns sogenannten Wirklichkeit an, in welcher die Notwendigkeit alles zwingt; und wir sind zugleich Bürger der sittlichen Welt, in welcher 225 die Freiheit herrscht. Diese Welten sind wie zwei Kreise, welche sich schneiden, sie haben also jede einen Teil mit der andern gemein. Die Schnittpunkte liegen jedesmal in unserm Innern.
Die zwei sich schneidenden Kreise mit dem gemeinsamen Stück stellen das Verhältnis bildmäßig dar für den durchschnittlichen Menschen. Aber wir müssen uns hüten, dieses Bild für eine durchaus richtige Darstellung des Zustandes zu halten. Es kann Menschen geben, in welchen sich die Welten nicht schneiden; welche ganz in der Welt der Wirklichkeit und welche – das erscheint den meisten heute wohl unglaubhaft, in Zeiten seelischer Hochspannung der Menschheit erscheint es nicht so – welche ganz in der sittlichen Welt leben. Wir müssen uns also sagen, daß das Leben in den zwei Welten nicht eine unentrinnbare Notwendigkeit ist. Je nachdem, was wir für Menschen sind, wissen wir oder wissen nicht, daß wir völlig in der Welt der Sittlichkeit leben können. Dieses Leben in der Welt der Sittlichkeit ist aber eine ganz andere Art Leben, wie das in der Welt der Wirklichkeit: es hat vor allem nichts mit der Zeit zu tun.
Der natürliche Drang der Menschen zur Selbsttäuschung macht sie geneigt, diese Umstände im Dunkeln zu lassen. Wir müssen wissen, daß der erste Schritt zur höheren Menschlichkeit der ist, daß wir erbarmungslos gegen unsere seelische Feigheit werden und diese Umstände, welche so einfach und zugleich so schwierig zu verstehen sind, mit größter Nüchternheit uns darstellen.
Es wird von einem buddhistischen König erzählt, welcher an den Grenzen seines Reiches Säulen aufrichten ließ. Aber auf diesen Säulen stand nicht geschrieben: bis hierher reicht das Königreich dieses Mannes; sondern es stand auf ihnen geschrieben, daß Buddha die Menschen erlöst hat. Auf dem Höhepunkt des europäischen Mittelalters war das Kaisertum eine sittliche Macht; einer der weltlich mächtigsten Kaiser konnte den Beinamen des Heiligen erhalten; und der Name ist nicht im eng kirchlichen oder gar pfäffischen Sinn verdient, sondern er ist im menschlichen Sinn wahr. Die sittliche Welt dieser Herrscher mußte sich darstellen in der ewig sich wandelnden wirklichen Welt, sie hat sich vielleicht nur für kurze Augenblicke ganz rein dargestellt, und der wissenschaftliche Geschichtsforscher wird List, Betrug, Gewalttat, Unterdrückung und andere Ereignisse der wirklichen Welt unter ihrer Regierung so reichlich finden, daß er jene kurzen Augenblicke vielleicht gar nicht sieht. Aber diese Augenblicke bedeuten mehr, als ihnen nach ihrer zeitlichen Ausdehnung zukommt, denn in der sittlichen Welt hat die Zeit keine Bedeutung. Eines jeden Menschen, auch des größten Herrschers Wirkung wird schwächer und schwächer, wie die Kreise eines in den See geworfenen Steines sich verbreiten und flacher werden, bis sie ganz vergehen; aber daß Asoka und Heinrich auf dem Throne saßen, das wirkt noch heute auf uns, wie es zu seiner Zeit wirkte.
In der schlimmsten Zeit der italienischen Renaissance, als die kleinen Staaten Italiens von machtgierigen und gewissenlosen Herrschern geleitet wurden, schrieb Machiavell sein berühmtes Buch. Man hat es verschieden beurteilt: die Einen sahen in ihm ein ruchloses Werk und in dem Verfasser einen Bösewicht; die Andern betrachteten es als den ersten Versuch, die Politik wissenschaftlich zu verstehen, und verehrten den Verfasser als einen kühnen und großen Geist. Man wird heute wohl über die spießbürgerliche Angst vor Machiavell lächeln; aber man muß sich doch klarmachen, daß – bei aller Hochachtung vor dem großen Geist – die Sache nun auch nicht einfach damit abgetan ist, daß man ruhig die wissenschaftliche Auffassung Machiavells annimmt. Man muß sich klarmachen, daß es ein Unterschied ist, ob ich die Wirklichkeit darstelle: das ist stets eine wissenschaftliche Aufgabe; oder ob ich Verhaltungsmaßregeln gebe: das ist eine wissenschaftliche Aufgabe nur so weit, als es sich um Handlungen handelt, die mit dem sittlichen Menschen nichts zu tun haben. Ich lehre etwa die Behandlung des Vergrößerungsglases, oder ich unterrichte in der Denklehre, aber wo ich Verhaltungsmaßregeln gebe, welche den sittlichen Menschen mit angehen, also in der Politik, da übe ich keine rein wissenschaftliche Tätigkeit aus, sondern außer der wissenschaftlichen Mitteilung gebe ich auch noch sittliche Vorschriften. Machiavell hat beides nicht scharf genug auseinandergehalten; es ist ihm als dem Ersten in diesen Untersuchungen kein Vorwurf zu machen; wenn aber heute seine Gedankengänge wieder aufgenommen werden, so muß man sich sehr vor dem Irrtum hüten, in den er damals verfallen ist.
Damals herrschten gemeine und nichtswürdige Kleinfürsten; und wenn man die Politik wissenschaftlich betrachtete, dann mußte man untersuchen, mit welchen Mitteln ein gemeiner und nichtswürdiger Mensch, welcher in einem kleinen Gebiet eine unumschränkte Macht hat und von ebenso gestellten andern gemeinen und nichtswürdigen Menschen umgeben ist, seine Ziele durchsetzt, die ihm eben durch seine seelische Verfassung gegeben sind.
Mit einer solchen Untersuchung aber ist nicht das Geringste gesagt darüber, wie ein sittlicher Mensch sich verhalten soll; und damit denn auch nichts darüber, was nun geschieht, wenn in diese gemeine und nichtswürdige Welt ein sittlicher Mensch eintritt: was denn doch nun wieder eine wissenschaftliche Aufgabe sein könnte. Heute herrschen bei allen Völkern, teils mittelbar, teils unmittelbar, teils offen und teils verborgen die Massen. Es ist ein bekanntes gesellschaftliches Gesetz, daß die Masse diese Herrschaft nicht selber ausüben kann, sondern Beauftragte für den Zweck haben muß; und daß diese Beauftragten wieder nicht von der Masse nach ihrer Würdigkeit ausgesucht werden können, sondern sich selber der Masse vorsetzen, indem sie das, was die Masse dunkel fühlt, aussprechen. Da das, was die Masse dunkel fühlt, immer irgendwelche niedrigen Wünsche sind, denn alles Höhere ist zu verschiedenartig, um Massengefühle zu erzeugen, so kommt tatsächlich die Herrschaft der Masse durch die Beauftragten auf etwas ganz Gleiches hinaus wie die Herrschaft jener alten kleinen Fürsten. Wer diese Zustände wissenschaftlich untersuchen will, der hat die Seelenkunde der Masse zu untersuchen, muß die einzelnen Triebe betrachten, welche man anzuspannen hat, und kann dann etwa zeigen, nach welchem Muster man die Lügen verfertigen muß, welche wirken sollen, wie man Mißtrauen sät, und ähnliches.
Es ist allgemein bekannt, daß die Engländer und in zweiter Linie die Franzosen die politischen Waffen ausgezeichnet gebrauchen, welche sie auf solche Weise schmieden, und daß sie mit ihnen Erfolge erzielen, welche unsere kriegerischen Erfolge wettmachen.
Wenn man genau zusieht, so findet man, daß da gar nicht eine besondere Hexerei im Spiel ist. Man braucht eben nur ein solcher Mensch zu sein, daß man nach seiner Natur solche Waffen anwendet.
Der Schluß, welcher notwendig bei uns gezogen werden muß, ist sehr einfach: wenn wir durchdringen wollen, dann müssen wir dieselben Mittel anwenden wie unsere Gegner. Sie sind ja wirklich nicht so schwierig, daß sie große Geister erforderten. Wir verteidigen uns schon gegen die Lüge, daß wir Fett aus den Gefallenen ziehen. Das ist natürlich dumm; denn bei der Masse haftet der Vorwurf gerade durch seine Tollheit, und die Verteidigung langweilt nur, da sie sinnlich nichts Neues bringt. Man müßte etwa erwidern, daß die Engländer die Toten roh verspeisen, und durch einigermaßen geschickte schriftstellerische Ausgestaltung dieses Vorwurfes hätte man den Gegner übertrumpft; dabei müßte man so dumm wie möglich verfahren, denn nur mit einer Dummheit, die selbst den Mittelmäßigsten offenkundig ist, wirkt man gerade auf die Masse.
Aber man mache sich klar: damit gewinnt man für den Augenblick, für den Augenblick nämlich, wo die Masse durch ihre Beauftragten herrscht. Aber man bannt dadurch das Volk in einen niedrigeren Kreis, denn man stellt ihm die Gemeinheit als das Natürliche dar. Die Herrschaft der Masse wird einmal vorübergehen wie die Herrschaft jener italienischen Fürsten; aber im Kreis der sittlichen Welt bleibt jede Handlung bestehen, denn in der sittlichen Welt gibt es nicht die Zeit, nicht Entstehen und Vergehen. Wer das italienische Volk kennt, der wird es gewiß lieben. Aber auch wer das italienische Volk noch so sehr liebt, der wird es doch verachten müssen wegen seines Verrates an seinem Bundesgenossen und wegen des allgemeinen Mangels an sittlichem Mut, daß nicht ein Mann in Italien aufgestanden ist, welcher dem Volke sagte, daß es eine Schändlichkeit beging. Das ist die Folge davon, daß seit der Renaissance die Italiener jene Politik der nichtswürdigen kleinen Fürsten nicht nur geduldet, sondern auch für richtig gehalten haben.