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Die Treue

(1919)

In einem mittelalterlichen Roman, »Flores und Blanchefleur«, kommt einmal eine Stelle vor, wo ein Fürst seinen Sohn in die Fremde schickt, damit er dort lernt. Der Sohn hat Gründe, weshalb er zu Hause bleiben möchte, und der Vater sagt: »Merke dir, mein Sohn, daß du Achtung, Liebe und freimütigen Gehorsam einem Vasallen oder Zinspflichtigen nur einflößen kannst, wenn du ihm zeigst, daß du mehr wert bist als er in Gedanken und in Handlungen des Mutes und der Ritterlichkeit. Geh, lieber Sohn, suche dir Ruhm und mache deinen Namen unter den Leuten glänzend!« Die Mutter fügt hinzu: »Und mache, daß deine Dame berühmt wird und du sie verdienst.«

Wenn ein Großunternehmer heute seinen Sohn von Haus schickt, und er ist ein ähnlich tüchtiger Mann wie jener mittelalterliche Fürst, dann sagt er: »Mein Sohn, lerne etwas, denn du kannst einmal von deinen Leuten nichts verlangen, was du nicht selber kannst.«

Das ist ein allgemeines seelisches Gesetz: eine Klasse kann ihre Herrschaft nur behaupten, wenn sie in den Dingen, auf welche die Herrschaft geht, vorzüglicher ist als die beherrschte Klasse. Wenn sich dieses Verhältnis der beiden Klassen verschiebt, dann entstehen die Revolutionen. Dieses allgemeine Gesetz ist formaler Natur, es drückt das Verhältnis der beiden Klassen aus; es ist ewig und wird sich überall wieder in der Geschichte auffinden lassen. Es hat in der Geschichte aber immer verschiedene Inhalte. Diese sind bestimmt durch die Dinge, auf welche die Herrschaft geht.

Das Mittelalter auf seiner Höhe, um das es sich hier handelt, war durch den Feudalismus bestimmt. Der Feudalismus war eine Idee, die entstanden war dadurch, daß Berufskrieger geschaffen wurden, welche an Stelle des Soldes eine dauernde Landanweisung erhielten. Das Wohnverhältnis änderte sich dadurch zu einem Treueverhältnis.

Im untergehenden Altertum waren alle sittlichen Bande gelöst. Man gefällt sich gewöhnlich in der Vorstellung, daß die treuherzigen, blonden und sittlichen Germanen gekommen seien und diese untergehende Welt wieder erneuert hätten. Wenn man aber nüchtern an den Quellen die Vorgänge studiert, so sieht man, daß die sittliche Auflösung seit den Einfällen der Barbaren nur noch furchtbarer wurde und daß die Verderbnis sofort auf die Barbaren übergriff. Wenn man nur mit einiger Vorstellungskraft begabt ist, dann kann man sich das ja auch wohl selber sagen. Menschen höherer Art gibt es natürlich zu allen Zeiten. In solchem sittlichen Verfall können sie nichts tun, als in die Wüste gehen und Einsiedler werden, oder sich in unfruchtbaren Predigten erschöpfen. Man frage sich nur, was Einer etwa heute tun kann?

In diese verfaulende Welt, in welcher Gemeinheit und Laster der höchsten Zivilisation und eines gelegentlich bis zu indianischer Roheit sich steigernden Barbarentums sich zu einem fürchterlichen Gemenge vereinigten, kam durch die Not der Zeit der erste geschichtliche Anfang des Feudalismus. Die Not der Zeit muß die Verarmung der Gemeinfreien durch Raub, Plünderung, Krieg und Kriegsdienst, Morden und Brennen gewesen sein, und das endgültige Verschwinden der für die Zivilisation notwendigen Edelmetalle – der Gegenwart vorbehalten blieb die geistreiche Erfindung des durch Papier gedeckten Papiergeldes, wo man die Umlaufsmittel in unendlicher Steigerung vermehren kann, indem man jedesmal für jede Papiermark drei neue Papiermark ausgibt, für jede dieser wieder drei neue und so fort –, und der Anfang des Feudalismus war, daß ein vermutlich sehr übler Herr einem vermutlich gleichfalls sehr üblen Soldaten sagte: »Ich kann dir deinen Sold nicht mehr auszahlen, ich mache dir aber den Vorschlag, dir ein Haus mit etwas Land zu geben; du weißt ja, mit den Sklaven ist es nichts mehr heutzutage, sie wollen nicht mehr arbeiten; ich habe meine Leute angesiedelt und lasse mir einige Abgaben von ihnen machen; ich überweise dir einige von diesen Leuten, und so kannst du ganz gut leben, und ich brauche kein Bargeld zu zahlen.«

Also das Lohnverhältnis änderte sich zu einem Treueverhältnis.

Damit wurden die Menschen natürlich noch nicht anders. Aber es war eine Form geschaffen, in welche sich das von höherer Menschlichkeit gießen konnte, was in der Welt vorhanden war. Es ergoß sich in die Form, und nach ein paar hundert Jahren war die Form erfüllt; und es geschah das Wunder, das in solchen Fällen immer geschieht: der Feudalismus war eine Idee geworden, welche auf alle übrigen Lebensverhältnisse übergriff und sie beherrschte; und für eine Weile war die Welt sittlich geordnet. Dadurch, daß die Menschheit eine Form für das sittliche Leben hatte, konnte die Gemeinheit nicht mehr herrschen; es geschah das Wunder, daß die neunundneunzig Hundertstel gemeiner Menschen so leben mußten wie das eine Hundertstel höherer Menschen. Wir sahen aus den angeführten Worten des alten Romans, in welcher Art die Wirkung war: ein Mensch muß in Gedanken und Handlungen vornehm sein, sonst kann er seine Stellung nicht halten. Die Menschen führen den gesellschaftlichen Kampf ums Dasein nicht mit Gewalt, List, Betrug, Untreue, Spitzbüberei und Roheit, sondern mit Vornehmheit.

Der Kapitalismus ist eine Idee, wie es der Feudalismus war. Er ruht auf der rein selbstsüchtig eingestellten Arbeitstüchtigkeit. Wie der Feudalismus die Menschen aus tiefem Verderb zu Sittlichkeit geführt hat, so hat der Kapitalismus sie aus altem Schlendrian zu unerhörter Arbeitsfähigkeit erzogen. Wenn heute so viel gegen ihn gesagt wird – und mit Recht –, so soll man das doch nicht vergessen, daß er eigentlich zuerst den Menschen gezeigt hat, was sie leisten können. Wenn unsere Zeit erst unter der Last der Jahrhunderte begraben sein wird, dann werden die Leute mit Bewunderung für die mögliche Kraftsteigerung des Menschen ihre etwa noch vorhandenen Reste betrachten.

Die selbstsüchtig eingestellte Arbeitstüchtigkeit ist aber keine sittliche Idee, deshalb hat sie nicht eine einheitliche Gesellschaft bilden können. Wir finden, daß im Mittelalter die Einzelpersönlichkeit nicht entwickelt war. Sie brauchte nicht entwickelt zu sein, denn die Idee der Gesellschaft genügte, damit der Mensch sich harmonisch bilden konnte. Wer heute ein harmonischer Mensch sein will, der muß sich außerhalb der Gesellschaft halten, der muß eine Persönlichkeit

werden: auf eigene Gefahr natürlich, was denn erklärt, daß der weitaus größte Teil der Persönlichkeiten verunglückt ist. So kommt es, daß das Mittelalter abgestorben ist, wie ja eben alles Organische auf Erden einmal abstirbt; unsere Zeit aber ist zusammengebrochen, wie alles Unorganische einmal zusammenstürzt; sie hinterläßt uns nur Trümmer.

Auf diesen Trümmern müssen wir nun aufbauen. Bis heute sind ja alle Gesellschaftsformen, welche je gewesen sind, unbewußt entstanden. Die Menschen haben sich nicht gesagt, daß sie eine neue Gestaltung ihrer Verhältnisse machen wollen, die sie sich vorher ausdachten, sondern die neue Gestaltung ist über sie gekommen, ohne daß sie es recht gemerkt haben. Aber wir sind heute bewußter als frühere Zeiten. Es wäre nicht unmöglich, daß wir die Aufgabe erfüllten: bewußt zu bauen.

Wir müssen uns das Eine klarmachen.

Alle Menschen, welche heute neu bauen wollen, gehen von der Verteilung der Güter aus. Das ist aber ein falscher Ausgangspunkt, denn die Verteilung der Güter ist nicht eine Ursache, sondern eine Folge. Wir müssen von den sittlichen Bedürfnissen des Menschen ausgehen. Das ist allgemein gesagt. Aber ich kann nichts Besonderes sagen. Könnte ich das, so wäre ich ja der Erretter der heutigen Menschheit. Ich kann nur sagen, in welcher Richtung die Errettung liegen muß; vielleicht, wenn sich vieler Augen nach dieser Richtung wenden, sehen einige etwas.

Ich will an einem Beispiel zeigen, was ich meine. Die Beziehung, die wir Deutschen zum Staat hatten – auch sie ist vernichtet, das mache man sich nur klar –, war sittlicher Art. Das Gefühl trug nur nicht genug, deshalb wurde es unterdrückt durch die Mechanisierung und die Bürokratisierung. Wäre es genügend tragfähig gewesen, dann hätte es sich nicht überwuchern lassen. Es ist also nicht etwa romantisch wieder heraufzubeschwören, man fasse das folgende nur als Beispiel auf. Im Heer kam dieses Staatsgefühl am stärksten zum Ausdruck. Nun, in der fürchterlichen Gemeinheit, die uns heute von allen Seiten umgibt, die bewirkt, daß manchen von uns die Scham erfüllt, den deutschen Namen tragen zu müssen, kommt aus dem letzten untergehenden Rest unseres Heerwesens eine Handlung, welche uns wieder Stolz und Hoffnung geben kann. Der Admiral, der die Flotte versenkte, ist offenbar ein Mann, in welchem die alte Gesinnung noch lebt. Er hatte vom Kaiser den Befehl bekommen, daß die Flotte nicht in die Hände des Feindes geraten darf, und er erfüllte den Befehl. Bei den Matrosen fing die Revolution an. Die Matrosen, welche diesem Mann zur Verfügung standen, werden gewiß nicht besser gewesen sein als andere. Aber keiner von ihnen ging zum Feind und verriet, was geschehen sollte; ja, als die Tat geschehen war, da erklärten sie einhellig, daß sie mit ihrem Admiral dieselbe Strafe erleiden wollten. Man muß annehmen, daß der eine Mann, in welchem der Gedanke der Treue gegenüber dem Staat lebendig war, diese ganze Menge der anderen Männer mit sich gerissen hat. Diese anderen Männer dachten nicht an Achtstundentag, Herrschaft des Proletariats, Löhne und Streiks, sondern sie dachten: »Unser Admiral hat die Treue gehalten; ein Lumpenhund, wer ihm nicht die Treue hält.« Wir müssen suchen, daß wir eine Ordnung finden, in welcher Mann dem Mann die Treue halten kann. Dazu ist notwendig, daß wir Männer haben, welche eine Treue bis zum Tod für sich beanspruchen können; und eine Idee, welche hervorragende Männer dergestalt zu beseelen vermag, daß sie sich an die Spitze des Volkes stellen an Stelle der armseligen Schacher, welche heute dort stehen; welche bewirkt, daß sie solche Männer sind, die Treue bis zum Tode von den anderen beanspruchen können.


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