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Der Stolz

(1918)

In einer isländischen Saga wird erzählt, wie der Held, welcher ein kunstreicher Schmied ist, einen großen Stein als Amboß braucht und auf seiner Insel keinen passenden findet: da stößt er einen Achtruderer

ins Meer, rudert nach einer Fjordinsel, läßt den Ankerstein fallen, steigt über Bord, taucht in die Tiefe, holt aus dem Meeresgrund einen Stein in die Höhe und legt ihn aufs Schiff: dann steigt er selbst aufs Schiff, rudert zum Land und legt den Stein vor der Tür seiner Schmiede nieder. Zur Zeit des Erzählers lag der Stein noch da und viel Schlacke daneben. Man sah an ihm, daß er oben abgenützt war: auch war er von der Brandung abgeschliffen und ganz anders als die Steine, die sonst dort sind. Damals konnten ihn vier Männer nicht mehr heben.

Ausdrücklich wird erzählt, nicht nur, daß ein Mann einen Stein hebt, den heute nicht vier Männer heben können, sondern auch, daß er allein einen Achtruderer rudert, und sogar, daß er tauchend den schweren Stein aus dem Wasser holt, was doch offenbar allen Gesetzen der Natur widerspricht. Er schlingt nicht etwa unter Wasser einen Strick um den Stein, was immerhin auch schon eine Leistung wäre, und zieht ihn auf dem Schiff stehend aus der Tiefe, sondern er holt ihn tauchend hoch.

Die Welt der Sagas ist nicht die wirkliche Welt der Zeit, in welcher sie spielen, sie ist eine dichterische Welt, die geschaffen ist in den Zeiten, in welcher sie gedichtet wurden. Sie erscheint uns heute als einheitlich: wenn wir genau zusehen, dann finden wir Unterschiede der Verfasser und Zeiten: aber diese Unterschiede sind neben der Einheitlichkeit so gering, daß wir durchaus von einer Welt der Sagas sprechen können, wie wir mit derselben Einschränkung von einer Welt der homerischen Dichtung oder der alten Tragödie sprechen.

Worin besteht das Wesentliche dieser Welt?

Kampf, Raub, Seefahrt, Liebe, Rache, Gelage, Erwerb – das ganze äußere Leben der damaligen Menschen, soweit es mit Leidenschaften verbunden ist, die es fesselnd machen, wird uns vorgeführt: die Entdeckung, daß man auch die leidenschaftlosen und deshalb nicht fesselnden Strecken des Lebens dichterisch darstellen könne, wo denn die Empfindsamkeit des Dichters helfend eintreten muß, ist erst der bürgerlichen Neuzeit vorbehalten. Das ist alles aber bloß Stoff der Dichtung, ein Stoff, den etwa die Homerische Dichtung auch hat. Das Wesentliche liegt wo anders: in der Art, wie die stofflichen Inhalte

des Lebens von den Menschen gefühlt werden, in den Seelen der Menschen. Das Wesentliche der dichterischen Welt der Sagas besteht in der Darstellung der Seelen der alten Isländer. Diese ist im Dichter genau so wie in dem Helden, von welchem er erzählt, ja, im Dichter kommt sie reiner in Erscheinung, weil sie ungetrübter durch die Wirklichkeit ist; man kann deshalb auch hier mit Recht sagen, daß die Dichtung die höhere Wirklichkeit ist.

Wir wollen uns recht verstehen. Wenn wir die gesamte Dichtung der heutigen Menschheit betrachten, dann gewinnen wir kein einheitliches Weltbild mehr. Die Ursache ist, daß früher nur die herrschende Art Menschen zu Worte kam, und heute – vielleicht, weil keine Herrschaft mehr ist – alle Arten von Menschen dichterisch sprechen dürfen. Auch damals hat es die verschiedenen Arten von Menschen gegeben. Es gibt einen alten japanischen Volksroman aus der Feudalzeit, einer Zeit, in welcher ebenso nur die herrschende Art Menschen sprach. In diesem Roman kommt ein Kaufmann vor. Es wird von ihm gesagt: »Er war zwar nur ein Kaufmann, aber er empfand wie ein Ritter«. Das kann in der Wirklichkeit so gewesen sein, denn in sehr hohem Maße paßten sich die unteren Schichten den Gesinnungen der oberen an; es kann aber auch dichterische Gestaltung sein, welche rücksichtslos ihr Leitbild von allen Menschen verlangt.

Da es sich für uns hier nur um das seelische Leben handelt und die damals schweigenden Manschen ohne eigenes seelisches Leben sind, so können wir tatsächlich die dichterische Welt der Sagas als Ausdruck der Seele des alten Isländertums auffassen.

Deren Mittelpunkt ist nun ein unbändiger Stolz. Der Stolz ist etwas Seelisches und als solches unfaßbar, er ist reine Form, die einen Inhalt braucht. Der Inhalt wird dann durch den Geist gegeben. Der Geist ist noch unentwickelt: dem Menschen ist noch nichts wichtig wie er selber.

Die Griechen, schon der homerischen Zeit, hätten diese Menschen als Barbaren bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung verband man nicht etwa eine Verachtung; wir sehen, wie sie die Perser sehr hoch achten und sich nicht darüber täuschen, daß sie selber in ihrer Gesamtheit weniger wert sind als ihre Feinde. Herodot erzählt einmal einen Ausspruch

des Darius, er habe gehört, die Griechen wohnten in Städten, und in der Mitte jeder Stadt sei ein Ort, wo sie täglich zusammenkämen, um sich gegenseitig zu betrügen; ein solches Volk brauche man doch nicht zu fürchten. Ähnlich wird uns noch aus der späten römischen Zeit berichtet, daß einmal eine Gesandtschaft von Friesen nach Rom gekommen sei; man habe sie in das Theater geführt, und da haben sie die ersten Plätze verlangt, mit der Begründung, daß sie ein vornehmes Volk seien. Die Friesen hielten sich also für vornehmer als die Römer. Die Bezeichnung »Barbaren« geht auf anderes; vielleicht kann man das, was mit ihr gemeint ist, bezeichnen als jene Unentwickeltheit des Geistes, bei welcher der Einzelne nichts wichtig nimmt wie sich selber, das heißt seine zufällige zeitliche Erscheinung.

Aus dieser Auffassung ergibt sich die Herrschaft der Selbstsucht und der Leidenschaften. Dabei muß man bemerken: der Barbar ist nicht etwa fessellos seinen Leidenschaften unterworfen, weil er seelisch zu schwach wäre, sie zu beherrschen; er zeichnet sich ja gerade durch seelische Kraft aus; wenn es nötig ist für seine Zwecke, dann beherrscht er seine Leidenschaften und spart etwa die Befriedigung der Rache jahrelang auf. Aber er kennt geistig nichts Höheres als die Leidenschaft, und deshalb folgt er ihr.

Sein Stolz ist auch eine Leidenschaft, es ist die Behauptung seines Selbst als eines allen Andern überlegenen Wesens. Dieser Stolz hindert den Barbaren, daß die Seele sich immer als Herrscher fühlt; sie darf sich weder durch Furcht oder Schmerz, noch durch körperliches Unvermögen, noch durch ein Laster unterjochen lassen. Der Barbar ist etwa habgierig oder er berauscht sich durch Getränke; aber er ist nicht geizig oder trunksüchtig; wenn er Höheres sieht als das Geld und den Rausch, dann ist ihm Geld und Rausch nicht mehr wichtig.

Schon die homerische Welt steht höher als die Welt der Sagas; wir sprechen hier wieder von der dichterischen Welt als der eigentlich wirklichen. Wodurch ist sie das?

Die Welt der Sagas ist ganz gottlos. Die homerische Welt ist schon göttlicher. Auch die Götter Homers sind ja noch nicht Gott in unserm Sinne, sie sind noch, wie die früheren Christen sagten, Dämonen;

aber bei Homer ist in den Menschen schon eine höhere Geistigkeit, die bald auch ihre Anforderungen an die Götter stellen wird, zu Gott zu werden. Noch sind Krieg, Raub, Gewalt und List das Herrschende in der Welt; aber schon haben die Menschen gelernt, daß der Einzelne mit seinen Leidenschaften nicht allein ist; Mitgefühl und Duldung beginnen. Die Geschichte, wie Priamos die Leiche des Hektor von Achilles verlangt, wäre in den Sagas nicht möglich.

Damit aber beginnt sich der Stolz zu ändern. Achill, welcher den Hektor um die Stadt schleift, ist noch ganz Barbar; Achill, welcher seine Rache bezwingt, nicht zu einem selbstsüchtigen Zweck, sondern durch eine höhere Geistigkeit, ist es nicht mehr.

Diese höhere Geistigkeit ist die Einbildungskraft, welche dem Menschen erlaubt, sich in die Seele des andern zu versetzen.

Priamos spricht zu Achill:

»Deines Vaters gedenk', o göttergleicher Achilleus,
Sein, der bejahrt ist wie ich, an der traurigen Schwelle des Alters!
Und vielleicht, daß jenen auch ringsum wohnende Völker
Drängen und niemand ist, vor Jammer und Weh ihn zu schirmen.
Aber doch, wenn jener von dir als Lebendem höret,
Freut er sich innig im Geist und hofft von Tage zu Tage,
Wiederzusehen den trautesten Sohn, heimkehrend von Troja.«

Da denkt Achill an den eigenen Vater, und indem Priamos ihm die Hand küßt:

»Sanft bei der Hand anfassend, zurück ihn drängt er, den Alten.
Beide nun eingedenk: der Greis des tapferen Hektors,
Weinte laut, vor den Füßen des Peleionen sich windend;
Aber Achilleus weinte dem Vater jetzt, und wieder
Seinem Freund: es erscholl von Jammertönen die Wohnung.«

Unsere Zeit, welche sich immer weiter zurück barbarisiert, versteht die Zusammenhänge dieser Entwicklung nicht mehr und muß sie sich erklären lassen.

Die höhere Geistigkeit wird durch die Dichtung erzeugt; unsere eigene klassische Zeit faßte die Aufgabe der Dichtung noch so auf und hat das ja auch deutlich genug ausgesprochen; wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir die Zeugen des Fortschritts der Entwicklung immer in der Dichtung treffen.

Im tragischen Zeitalter der Griechen geschieht der weitere Schritt. In der damaligen Ausdrucksweise: die Gefahr für den Menschen ist der Übermut, das seelische Ziel, welches er erstreben muß, ist das Gleichmaß. Noch immer ist der stolze Mensch der einzige, welcher zu Worte kommt, dessen Geschehnisse allein wichtig sind, Ödipus ist ein solcher stolzer Mensch, schon ganz aus dem niedrigeren Kreis des Helden und Kämpfers in den des Königs gehoben; schuldlos, wie der Chor auf Kolonos ausdrücklich sagt, hat er Leiden erduldet – die Leiden, die sein Stolz ihm brachte. denn nur durch seinen Stolz blendete er sich und zog außer Landes, indem er etwas sühnte, das er nicht begangen. Nun gibt er die letzte Gabe seines Stolzes; er will nach seinem Tode ein helfender Gott für die Menschen werden. In dem Gespräch des Theseus mit Ödipus steht sich noch das Sittliche, die Scheu vor Übermut und das Gebot des Gleichmaßes, und das Religiöse, der Mensch, der unschuldig Leiden auf sich nimmt und nach dem Tode ein helfender Gott wird, unvermittelt gegenüber; das Unaussprechliche erfährt Theseus allein, hier ist die Anknüpfung an einen Mysterienkult.

Nur einen Schritt brauchte das Christentum noch zu tun, indem es das Unaussprechliche allen mitteilte, nämlich daß jenes sittliche Gebot zwar richtig ist, aber doch nicht die Erfüllung; daß die Erfüllung darin besteht, dem Gott, welcher schuldlos das Leiden auf sich nahm und starb, nachzufolgen.

Die ersten Jahrhunderte des Christentums fielen in die Auflösungszeit der alten Welt. In dieser kamen zum erstenmal in der europäischen Geschichte nicht nur die höheren Menschen allein zu Worte, sondern es sprach jede Art von Mensch. Das Christentum war damals das Gefäß, in das alle diese Menschen ihre Seele ergossen; es ist nicht wunderbar, wenn sein Inhalt nun heute vieldeutig ist, wenn das, was als Ausdruck des höchsten Stolzes entstand, der aus der geistigen Roheit der Barbaren sich in das äußerste Geistige gewendet hatte, als Ausdruck der Sklavengesinnung erscheinen konnte und ein großer Denker von einem Sklavenaufstand sprechen durfte. Nietzsche hat gewiß nicht unrecht; aber er hat nur teilweise recht. Das Christentum krankt daran, daß noch immer die verschiedenartigen Bestandteile in ihm nicht gesondert sind, daß es noch immer falsch verstanden werden kann.

Was wir als das mittelalterliche Christentum bezeichnen, das ist geschichtlich äußerlich eine geistige Schöpfung, die vom Kloster Cluny ausgeht; es ist die Aufnahme des Christentums durch die barbarischen germanischen Völker, durch die es sofort so verstanden wurde, wie es ursprünglich gemeint war. Eins der schönsten Zeugnisse dieses mittelalterlichen Christentums ist die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis, der schönste Ausdruck eines ganz auf das Höchste gewendeten Stolzes.

Seit dem Ende des Mittelalters leben wir wieder in einer Auflösungszeit, die nur zuweilen unterbrochen wird durch Versuche einer neuen Gesittung; der letzte dieser Versuche war der deutsche Idealismus, der etwa 1830 zusammenbrach. Wenn nicht alles trügt, dann erreicht in diesem Krieg diese Auflösungszeit ihren Höhepunkt, und eine neue Ordnung der Menschheit bereitet sich vor. Damit wird auch das Sprachengewirr aufhören, das uns heute so betäubt, wo ein jeder Mensch sein Wesen ausdrücken darf, der Gemeinste wie der Edelste; es wird wieder entstehen, was man mit dem oberflächlichen Wort »Konvention« nennt; und auch unsere Religion wird dann wieder eindeutig sein.


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