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Frauen und Kinder haben ein leidenschaftliches Gefühl für Gerechtigkeit. Die Männer haben wohl eingesehen, daß es »nicht immer« – soll heißen: eigentlich nie, nämlich nur zufallsweise – nach der Gerechtigkeit im Leben hergeht; aber die meisten von ihnen halten das doch für beklagenswert. Man weiß, daß in den Jugendzeiten des Volkes sich religiöses Nachdenken auf die Frage richtet: Wie ist das Leiden des Gerechten zu erklären? Und noch in unserer Bibel haben wir ja im Hiob ein Zeugnis aus dem Denken jener Zeit vor uns.
Sollte die Gerechtigkeit nicht vielleicht auch eine von jenen Zielsetzungen sein, welche nicht geschaffen werden aus der Kraft, der Erfahrung und Einsicht der Menschen, sondern aus jugendlicher Unerfahrenheit und Beschränktheit des Denkens?
Wir haben viele solcher Zielsetzungen, welche großen Schaden anrichten in unserem Leben, und denen man einmal gehörig nahekommen sollte, um ihren Trug einzusehen.
Jene kindliche Religionsansicht, die unsere beschränkte Gerechtigkeitsvorstellung an das göttliche Walten anlegt und etwa, nachdem sich nun doch herausgestellt hat, daß eine gerechte Vergeltung im Diesseits nicht stattfindet, ausdrücklich ein Jenseits schafft, um sie dorthin ins Unprüfbare zu verlegen, ist durch das Christentum längst überwunden, wiewohl im volkstümlichen Glauben diese Ansichten gerade durch Belegstellen aus dem Neuen Testament befestigt werden: wir alle werden ja nicht in der wirklichen Lehre Christi, nicht im Christentum der wenigen hochstehenden Christen erzogen, sondern in diesem volkstümlichen Glauben, der gedankenlos Widerspruch an Widerspruch reiht, und so mag der obige Ausspruch zunächst seltsam erscheinen. Aber man lese die Geschichte vom Schächer am Kreuz ohne dogmatische Voreingenommenheit, um nur Eines hervorzuheben, und man wird finden, daß sie eine, wie im Neuen Testament so oft, fast witzige oder geistreiche Zuspitzung des Gedankens ist: Vor Gott gibt es keine Gerechtigkeit. Wir brauchen nicht salbungsvoll hinzuzufügen:
Wir sind allzumal Sünder; denn wahrhaftig, es gibt sichtliche Unterschiede unter den Menschen.
Wohltat erntet Undank: ist sie sittliche Tat, wenn sie sich darüber beklagt? Bedeutende Männer, welche der Menschheit Gutes erwiesen, werden verfolgt: sind sie denn nicht erst dadurch bedeutende Männer, statt kluger Geschäftsleute, die eine gute Kapitalsanlage machten? Die menschliche Gemeinheit, welche ja so ungeheuer klug ist, hat die Überschätzung des Talentes erzeugt und schiebt menschliche Größe auf Begabung, die eben Naturanlage sei und nicht jedem erreichbar; während sie in Wirklichkeit nichts ist als ehrliches Wollen für eine Sache, das jeder haben kann – er hat es nur nicht, weil er die Gerechtigkeit liebt und deshalb ein« Belohnung haben möchte statt der Verfolgung.
Es gehört Lebenserfahrung dazu, um die Nichtigkeit der Gerechtigkeitsvorstellung einzusehen. Man muß es an Nahestehenden oder an sich selbst erlebt haben, wie bedeutende Leistung notwendig Haß erzeugen muß, wie der Erfolg und die Belohnung die Mittel sind, durch welche hervorragende Menschen durch die Gesellschaft zahm gemacht werden; wie nur die Feindschaft der Andern einen Menschen vorwärts treibt, wie die Liebe ihn sofort zu Zugeständnissen nötigt. Wen Gott lieb hat, den züchtigt er; seinen eingeborenen Sohn hat Gott am Kreuz sterben lassen. Wäre Christus nicht gekreuzigt, was wäre dann seine Lehre? Nichts Neues, nichts, das nicht da und dort sogar besser gesagt wäre. Aber das ist das Wesentliche, daß man den Menschen richtete, welcher sagte: »Richtet nicht«, daß man den kreuzigte, der noch am Kreuz lächelnd sprach: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Jeder tüchtige Mann tut seine Arbeit um der Arbeit willen, nicht für den Lohn, das gilt vom einfachen Tagelöhner aufwärts bis in das höchste Geistesleben. Aber wer Gerechtigkeit will, der will Lohn. Würde es einen hochgesinnten Menschen treiben, ein Sokrates zu werden, wenn er dabei das Vermögen eines Vanderbilt erwerben könnte? Sokrates machte Witze über die Sophisten, welche sich bezahlen ließen; dafür mußte er als Sophist den Schierlingsbecher trinken. Als er sagte: »Opfert dem Asklepios einen Hahn«, hat er da sich über die Ungerechtigkeit beklagt? Fand er nicht vielmehr den Giftbecher ganz in der Ordnung und starb mit einem Scherz auf den Lippen?
Das Leben ist ungerecht, denn es ist nicht auf Lohn und Strafe, auf Leid und Freud gestellt, außer das Leben der Gemeinen: sondern auf Höheres, das Herausarbeiten eines göttlichen Wesens in uns, das anfangs schwach ist, durch unsere tierische Natur unterdrückt werden kann und durch unsere Anstrengung stark werden muß, bis es über das Tierische den Sieg davonträgt. Bei den verschiedenen Menschen ist dieses Göttliche verschieden, die Selbstentwicklung eines Goethe geht nach anderer Richtung wie die eines Kant. Man sieht, das Selbstvervollkomnmungsbestreben ist im Grunde eine tragische Lebensauffassung.
Tragisch: wenn man will. Doch sollte sich nicht die Tragik auch noch überwinden lassen durch eine tiefere Einsicht? Entsteht sie nicht eigentlich nur dadurch, daß das betrachtende Ich immer sich als den empfindenden und also leidenden Mittelpunkt der Welt betrachtet? Wie, wenn wir diese ichbezügliche Auffassung aufgeben, unser Ich gleichsetzen mit der Fliege, welche von der Spinne getötet wird, dem Korn, das unter der Sense fällt? Sind wir denn dadurch, daß wir zu Selbstbewußtsein gelangt sind, so besonders wichtig geworden? Wenn es uns gelänge, uns neben uns zu stellen, als Beschauer neben den Empfindenden, wäre dann nicht nur tragisch das Leid überwunden, sondern sogar die tragische Überwindung des Leides? Könnten wir dann nicht sagen: das Leiden entstand nur durch eine falsche seelische Blickrichtung, es ist nur ein Schein? Die Erfahrung scheint das zu bestätigen; die einzige Hilfe bei schwerem Leiden, selbst körperlichem (das ja in den meisten Fällen wohl eigentlich seelichen Ursprungs ist), ist die Einsicht, daß das leidende Ich etwas uns Fremdes ist.
Offenbar ist die Idee der Gerechtigkeit der erste Versuch des Menschen, über die Selbstsucht fortzukommen, die jedem Lebendigen zunächst natürlich ist. »Ich bin schließlich einverstanden, daß du auch Gutes bekommst, aber du mußt es wenigstens verdienen« – das ist doch eigentlich der Ursprung der Gerechtigkeitsvorstellung: gewiß kein sehr hoher Ursprung, nämlich der Neid.
Alle menschlichen Zielsetzungen werden immer irgendwo in den Kämpfen der Menschen untereinander als Kampfmittel benutzt, und man kann den Wert der Zielsetzungen bemessen nach den Kämpfen, in welchen man sie verwendet. Nun, von der Gerechtigkeit spricht man nie in den höheren Religionen, nie in der Kunst, nie in der Liebe, aber immer in den gesellschaftlichen Beziehungen: Schutzzoll und Freihandel, Liberalismus und Sozialismus arbeiten bei der volkstümlichen Werbung – die ja oft den eigentlichen Sinn der Bewegungen enthüllt, indem sie die Leidenschaften zeigt, auf welche sie gehen – mit Gerechtigkeitsredensarten. Ein Unternehmer beweist uns, daß es »nur gerecht« ist, wenn er hunderttausend Mark jährlich verdient, und ein Arbeiter ist empört über die »Ungerechtigkeit«, daß der »Mehrwert« nicht wenigstens der Gesamtheit zugute kommt. Nie gesellschaftlichen Kämpfe sind ja gewiß notwendig, und die Erhöhung der Selbstsucht über sich selbst hinaus zur Gerechtigkeitsidee ist gewiß nicht an sich verwerflich; aber es sind doch die niedrigsten Kämpfe, um die es sich hier handelt, die, welche eben gerade über dem Tierischen stehen.
Es ist wohl nötig, daß man selbst lange unter der Ungerechtigkeit gelitten und mehr Gerechtigkeit verlangt hat, bis das Einem klar wird. Deshalb ist der begeisterte Verehrer der Gerechtigkeit wahrscheinlich gewöhnlich ein glücklicher Mensch, dem es im ganzen gut gegangen ist. In Zeiten, wo man sich unglücklich fühlt, hat die Seele tiefere Bedürfnisse als das Gerechtigkeitsverlangen, sucht sie Trost in der Religion. Aber das Glück pflegt ja wohl überhaupt nicht die Menschen zu vertiefen und zu veredeln.
»Gott läßt die Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte«: in diesem Satz ist eine höhere Sittlichkeit, größere Stärke, weitere Erfahrung und kältere Vernunft vorhanden, wie in allem Gerechtigkeitsstreben: und diesem Gott sollen wir suchen gleichzuwerden. Regt sich vielleicht unser alter Adam, wenn er dem Niedrigen ebenso gütig gegenübertreten soll wie dem Edlen? Er wird bald sehen: nicht die Gerechtigkeit, sondern die Güte gibt dem Niedrigen seine Kraft, seine einzig gerechte und gute Kraft: die Einsicht in sich selbst, die Beschämung und das Streben, höher zu werden.