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Man mache sich ein Bild vom täglichen Leben unserer Vorfahren. Jede Familie lebt auf ihrem Hof, arbeitet und erzeugt im wesentlichen, was sie gebraucht. Die Höfe sind entweder in Dörfer zusammengebaut
oder liegen einzeln inmitten der Äcker, welche zu ihnen gehören.
Die Beziehungen der Menschen untereinander sind sehr gering. Am meisten hat der Machbar mit dem Nachbarn zu tun, indem einer dem andern Gerät leiht, bei der Arbeit hilft, von Vorräten mitteilt, indem man um eine Grenze streitet oder sich über die Hühner des andern ärgert. Weniger schon berührt man sich mit den übrigen Mittgliedern der Gemeinde; man hat etwa die Nutzung der gemeinsamen Weide zu besprechen oder des Waldes oder Angelegenheiten der Kirche. Noch weniger kommt man zusammen mit den Genossen des Gaues; man muß etwa urteilen über einen Mord, welchen ein Mann in einer Gemeinde an einem Mann in einer andern Gemeinde begangen hat, und die Sühne bedenken, welche der Mörder der Familie des Gemordeten anbietet. Es gibt einen noch größeren Verband, als der Gau ist; er tritt etwa in Wirksamkeit, wenn es sich um Krieg handelt. In diesen Verhältnissen sind die Beziehungen der Menschen so, daß sie meistens von den Menschen selber geleitet werden. Mit dem Nachbarn spricht man über den Zaun weg; mit den Gemeindemitgliedern kommt man am Sonntag nach der Kirche zusammen; den Gautag hält man zweimal im Jahre ab in der Zeit, wo man keine dringende Arbeit hat; der größere Verband ruht in gewöhnlichen Zeiten, wenn er in Wirksamkeit treten soll, so wird ein Mann gewählt, welcher die Beziehungen besorgt; denn erst hier sind so viele Manschen beteiligt und ist ein räumlich so großes Gebiet zu bewältigen, daß die unmittelbare Rücksprache der Betroffenen nicht mehr genügt.
Das Recht, welches sich in diesen einfachen Verhältnissen entwickelt, kommt unmittelbar aus den Bedürfnissen und Zuständen, welche vielleicht mehr oder weniger klug aufgefaßt werden, immer aber doch natürlich und angemessen: nämlich so, daß Streitigkeiten möglichst beigelegt werden, und daß die Menschen möglichst in Frieden und Ruhe leben. Stören können in diesem Zustand allgemein verständiger Lebensordnung immer nur die unberechenbaren Leidenschaften Einzelner: Stolz, Rachsucht, Eifersucht, Liebe und dergleichen; aus der Form selber des gemeinschaftlichen Lebens kann keine Störung kommen.
Dieser unschuldige Naturzustand wird verändert durch zwei Erscheinungen: dadurch, daß sich der Adel herausbildet und der Kaufmann eindringt. In beiden Fällen werden neue Beziehungen geschaffen, welche die alten Beziehungen durchkreuzen und verwirren. Der adlige Herr beansprucht, besonders in der Gemeinde dazustehen und schließt sich mit den Herren in andern Gemeinden zu einer neuen Gemeinschaft zusammen; und er beansprucht Rechte über die Gemeindemitglieder und Leistungen von ihnen, die bloß bestehen können, wenn er sich auf eine außerhalb der alten Ordnung seiende Macht stützt. Der eindringende Kaufmann zieht von Hof zu Hof und von Gemeinde zu Gemeinde; er unterliegt nicht der Rechtsprechung der Leute, zwischen denen er gerade lebt, sondern er gehört irgendeinem jenseitigen Gesellschaftszusammenhang an; aber da er auf Kauf und Verkauf gestellt ist und nicht im geschlossenen Kreis selbstgenügender Arbeit lebt, so erzeugt er mehr Rechtsstreitigkeiten als die andern.
Zu den unschuldigen Formen, in welchen sich die rechtlichen Beziehungen der Menschen zunächst ausdrücken: dem nachbarlichen Übereinkommen, dem Gespräch am Sonntag und dem Ding im Gau, müssen also neue Formen kommen, welche weitere Kreise umfassen und dabei die alten Kreise schneiden. Diese neuen Formen aber können nicht mehr so harmlos einfach sein, denn sie beziehen sich auf räumlich weit Getrenntes, auf entfernt wohnende und einander oft unbekannte Menschen.
Bis nun war die Richtung immer gewesen, daß die Menschen sich am Tatsächlichen festhielten und nur bei den seltenen Vorfällen, welche etwa im Ding geordnet wurden, sich an den Vorgang klammerten: wobei sie nicht eine Abziehung machten in der heutigen Art des Rechts, sondern suchten, den alten Vorgang einfach genau zu wiederholen. Nun kam eine neue Richtung auf, daß man von dem Tatsächlichen abgehen mußte, den Begriff suchte, der ihm zugrunde liegt, und durch logische Behandlung dieses Begriffs die Erkenntnis finden wollte. Man mache sich den Vorgang in grober Weise so klar: die Gemeindegenossen kennen sich und ihre Zustände genau, und alle ihre Lebensverhältnisse sind die gleichen. Geraten zwei Genossen in Streit über eine Grenze, so wissen die andern genau, wie die Sache zusammenhängt: daß der Großvater A dort gepflügt hat, daß der Großvater B der Grenze zu nahe gekommen ist, daß C geneigt ist, sich auf andrer Leute Kosten zu bereichern, oder daß D ein Vergnügen an unnützen Klagen hat. Wenn aber ein italienischer Kaufmann einem Bauern ein Fäßchen Wein verkauft hat, und der Bauer sagt, daß der Wein schlecht ist, und daß er sein Geld wieder haben will, und der Streit kommt vor einen Mann, welcher weder den Kaufmann noch den Bauern kennt, nicht beurteilen kann, ob der Wein schon schlecht war und noch nicht einmal ahnt, ob er es jetzt ist: dann wird wahrscheinlich die Neigung auftauchen, nach formalen Gründen zu entscheiden. Der Richter wird fragen, ob der Kauf schriftlich abgeschlossen ist, ob gutgesagt ist, er wird eine Gewohnheit anführen über die Dauer einer Gutsage und Ähnliches. Im ganzen und großen: der Mann, welcher nun entscheiden soll, wird sich die persönliche Entscheidung möglichst abschieben, denn er hat ja nichts, auf Grund dessen er entscheiden könnte; und wird die formalen Gesichtspunkte in den Vordergrund stellen, aus denen sich ohne sein wertendes und urteilendes Zutun eine Entscheidung von selber ergibt. Diese Entscheidung besagt dann nicht mehr: A. hat recht und B. unrecht, sondern: bei Lage der Dinge muß für A. entschieden werden und gegen B. Es handelt sich nicht mehr darum, daß ein Mann, der von einem Kaufmann übers Ohr gehauen wird, entschädigt wird, sondern ob die Dinge zufällig so liegen, daß für ihn entschieden werden kann. Es wird nicht mehr das Recht gefunden, sondern ein Würfelspiel gespielt.
In unsrer deutschen Entwicklung haben wir den im höchsten Maße auffälligen Vorgang der Übernahme des Römischen Rechts. Das Volk hat eine ordentliche und gesunde Rechtsentwicklung. Scheinbar ohne Grund gibt es sein eigenes Recht plötzlich auf und läßt sich nach einem fremden und gänzlich unpassenden Recht richten. Man hat viele geschichtliche Erklärungen für den rätselhaften Vorgang versucht; man erklärt ihn sich wahrscheinlich am einfachsten, wenn man bedenkt, daß sehr schnell in einer gewissen Zeit sich in der geschilderten Art neue Rechtskreise entwickelten, die in der alten Weise nicht mehr zu behandeln waren; daß das Römische Recht sich für diese den Leuten empfahl, welche hier zu entscheiden hatten, durch seine den neuen Ansprüchen entgegenkommende logische Ausbildung; und daß nun durch Absterben der alten Formen das Neue überall Platz griff.
Nun haben wir heute allgemein den Zustand, der sich aus solchen Voraussetzungen entwickeln muß.
Eine Richtung, die einmal eingeschlagen ist, geht nach ihrem innersten Gesetz immer weiter, bis sie die letzte Narrheit erreicht, wenn nicht irgendwoher eine Gegenwirkung kommt. Die Rechtsprechung ist vom Tatsächlichen losgelöst; sie wird von einer besonders vorgebildeten Klasse von Menschen ausgeübt; sie besteht in der Beziehung verschiedener abgezogener Begriffe zueinander. Die besonders vorgebildete Klasse, die Fachleute, sind die Führer jener Richtung auf die äußerste Narrheit. Die Entwicklung ist urbildlich für alle ähnlichen Entwicklungen – am grausigsten und der Menschheit gefährlichsten ist sie in der Religion – und erzeugt denselben Gedankengang wie sie alle, der sich hier schließlich aufgipfelt in dem Satz: Fiat justitia, pereat mundus. Das Recht ist da, damit die Welt bestehen kann: aber wenn der logische Fortgang einer falschen Richtung ungestört bleibt, dann muß die Welt zugrunde gehen, damit das Recht besteht. Man frage einen ernsten Juristen der alten Art auf sein Gewissen, ob das nicht seine wahre Meinung ist; er drückt sie vielleicht heute nicht mehr offen aus, aber das kommt eben davon, daß man in einer so unwissenschaftlichen Zeit eben nicht mehr wagen darf, die letzten Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Satz entspricht durchaus dem Gedankengang des ernsten und ehrenhaften Theologen, welcher den Ketzer verbrennen läßt, weil bei ihm die Religion nicht für den Menschen, sondern der Mensch für die Religion da ist.
Wie in so vielen Fällen heute, so ist auch in der Rechtswissenschaft das Mittel zum Zweck geworden: aus denselben Gründen, aus denen es überall seine unheilvolle Laufbahn gemacht hat, nämlich durch die Loslösung von der Wirklichkeit. Die Art, wie das geschehen ist, ist eigentümlich und gewiß für einen Mann von Geist nicht ohne künstlerischen Reiz. Ganz frei in der Luft, wie ein mathematischer Bau, schwebt ein Gespinst von Begriffen, die nur unter sich selber Beziehungen
haben, die wie die Ideen Platos sich in die Äonen der Gnostiker verwandeln und sich beschmutzen, wenn sie in Beziehung zu der Wirklichkeit gebracht werden. Sie gleichen der guten Stube des kleinen Bürgers, die eigentlich eine Stube ist, aber doch ihr Wesen darin hat, daß man sie nicht als Stube benutzen darf; der ersten Garnitur des Soldaten, deren wesentliche Bedeutung darin besteht, daß ihre Knöpfe immer blank geputzt sind.
In der Wirklichkeit, zu welcher die Begriffswelt nur jene gnostische Beziehung hat, geht inzwischen rechtlich alles drunter und drüber. Der tatsächliche Wert unserer Gerichte besteht heute nicht darin, daß sie in den einzelnen Fällen, die ihnen vorgelegt werden, das Recht finden; er besteht lediglich darin, daß eine Behörde da ist, welche bei Streitigkeiten oder bei vorfallenden verbrecherischen Handlungen eine Entscheidung fällt. Wohl die meisten Rechtsgelehrten werden zugeben, was oben gesagt ist, daß diese Entscheidung in ihrer Beziehung auf den wirklichen Tatbestand einem Würfelspiel gleicht.
Die unheilvollen Ergebnisse für die Sittlichkeit des Volkes sind klar. Es ist denn auch die Einsicht heute allgemein verbreitet, daß eine wirklichkeitsnähere Behandlung des Rechtes nötig sei, und einige Schritte nach dieser Richtung werden zögernd getan.
Aber wir haben ein Übel vor uns, das in den letzten Gründen unserer gegenwärtigen Zustande verwurzelt ist, das nur grundsätzlich bekämpft werden kann. Ich möchte hier auf die Bemühungen eines Mannes hinweisen, der in dieser grundsätzlichen Weise kämpft Oberlandesgerichtsrat Richard Reinhardt, Jena: »Deutscher Rechtsfriede, Beiträge zur Neubelebung des Güteverfahrens«. Leipzig. 1916..
Er bleibt innerhalb des Kreises der rechtlichen Welt und arbeitet mit den Mitteln seiner Wissenschaft. Wenn gelänge, was er will, so würden wir ein natürliches und wahres Recht bekommen. Innerhalb der rechtlichen Welt kann man ihn nur mit den Waffen der alten formalen Wissenschaft bekämpfen. Aber diese Waffen treffen ihn ja gar nicht, weil er sie eben verneint. Vielleicht beweist das, daß er den Boden für seinen Kampf nicht richtig gewählt hat: der Kampf um ein neues Rechtswesen kann nicht innerhalb der Rechtswissenschaft ausgekämpft werden; man muß ihn im allgemeinen Leben des Volkes zum Austrag bringen; es ist kein rechtswissenschaftlicher, sondern ein politischer Kampf. Dem juristischen Denker ist aus dieser Verwechslung des Bodens kein Vorwurf zu machen, denn von Natur spricht jeder von dem Punkte aus, auf dem er gerade steht: erst Wille und Widerwille der Versammlung drängen ihn auf die allgemeine Rednerbühne. Wir haben Zeiten vor uns, in welchen man ziemlich sämtliche Grundlagen des heutigen Gebens bestreiten und verteidigen wird; auch Recht und Rechtsprechung werden nicht ausgenommen sein; und da werden die Gedanken, auf welche hier hingewiesen wird, eine sehr große Bedeutung haben.