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Shakespeare und das deutsche Drama

(1912)

Von Friedrich Gundolf ist ein Buch erschienen: »Shakespeare und der deutsche Geist«, das man auf das freudigste begrüßen muß als den Versuch einer wirklichen Literaturgeschichtsschreibung, von einem Manne, welcher weiß, was Dichtung ist. Gundolf stammt aus dem Kreise Stefan Georges und hat von daher seine Einsichten; denn nur aus der Literatur und von den Dichtern kann ja der Literaturhistoriker lernen. Voraussichtlich wird das vortreffliche Buch bald den großen Erfolg haben, welchen man ihm wünschen muß: und da ist es vielleicht schon jetzt angebracht, auf eine gefährliche Wirkung der Arbeit hinzuweisen.

Stefan George als Lyriker bewertet natürlich das Schrifttum nach den lyrischen Beschaffenheiten. Man schüttelt vielleicht den Kopf darüber, wie derselbe Mann gleichzeitig Dante und Jean Paul hochschätzen mag; aus Georges Lyrik versteht man, wie das möglich ist. Man sollte auch nichts dagegen sagen, wenn ein Jünger diese Wertungen herübernimmt: wenn so erfreuliche Werke entstehen wie Gundolfs Buch, so ist das doch etwas Schönes; aber man darf immer nicht vergessen, daß man da nun nichts weniger als ewige Wahrheiten vor sich hat. Kunsturteil ist sittliches Urteil; und so verschieden die sittlichen Richtungen der Menschen sind, so verschieden werden auch immer ihre Kunsturteile sein. Wahrscheinlich wird jeder Lyriker – wenigstens jeder subjektive Lyriker, den wir heute ja allein haben – immer Relativist sein, alles Metaphysische ablehnen und als Absicht seiner Kunst die Darstellung der inneren Bewegung des Dichters empfinden.

Er wird also vor allen Dingen dem epischen Epos, also etwa Homer, und dem dramatischen Drama, also etwa dem alten Dramatiker ohne starke Anteilnahme gegenüberstehen; denn das Epos will ein freundliches Weltbild ohne starke innere Bewegung des Dichters geben, das Drama will eine metaphysische Erschütterung im Zuschauer hervorrufen. Er wird Epos und Drama um so mehr schätzen, je lyrischer es ist, je mehr es seiner eigenen Dichtungsart entspricht. Ich selber, der ich auf dem Gegenpol von Stefan George stehe, empfinde naturgemäß die entsprechenden umgekehrten Wertungen; man müßte sich nicht scheuen, seine Empfindung zu sagen, denn im großen Leben der Nation verbessern sich ja die Einseitigkeiten der Einzelnen. Jemand, der eine bestimmte Art von Kunst wirklich empfindet, muß unbedingt die entgegengesetzte für unberechtigt halten und kann sie im besten Fall nur verstandesgemäß auffassen; verständlicherweise wird er sich ja denn wohl immer sagen, daß der Grund in seiner persönlichen Beschränkung liegt, denn schließlich kann man doch nicht alle entgegengesetzt empfindenden Menschen für ganz töricht halten.

Die Elisabethanischen Dramatiker hatten eine ganz andere Bühne als wir und wollten eine ganz andere Wirkung erzielen. Sie wollten irgendeinen Vorgang möglichst in seiner menschlichen Fülle und möglichst zur Kunst erhoben ihren Zuschauern vorführen. Aus solchen Absichten ist Shakespeare zu verstehen: als lyrisch-epischer Dichter, welcher für die Darstellung durch Schauspieler schreibt. Mag es sich da um Zeittriebe handeln, um gesellschaftliche Ursachen, oder um einen völkischen Trieb: das ist etwas ganz Anderes, als was die Deutschen wollten, in demselben Augenblick, als sie ihre Literatur machten, mit Lessing. Es ist bezeichnend, wie die Gesinnung den Geschichtschreiber sofort die Dinge falsch deuten lehrt. Von Anfang an ist unser dramatischer Vers anders gewesen als Shakespeares Vers, weil wir eben etwas Anderes wollten. Gundolf hält das für einen geschichtlichen Zufall: »Doch gerade deshalb, weil dieser (Lessings) Blankvers aus einem anti-shakespearischen Prinzip heraus gebaut ist und sich für die deutschen Nachfolger vor Shakespeares Original schob, hat er nicht nur eine heilsame, sondern auch eine verwirrende Wirkung ausgeübt. Wenn man bis auf den heutigen Tag den Theatervers nicht als ein dichterisches, sondern als ein rhetorisches, bühnenmäßiges Mittel ansieht, so hat Lessings großes Vorbild mit daran schuld. Wir werden bei Schiller seiner Nachwirkung noch begegnen. Überhaupt, vergessen wir nie, daß die Begründung des sogenannten nationalen Dramas der Deutschen durch Lessing (Goethe und Schiller sind, bei größerem Talent, darin nur seine Erben) nicht auf einen großen Dramatiker, sondern auf einen großen Literaten zurückgeht, und zwar auf einen, dem die Bühne moralische Anstalt war, also in einem außerhalb ihres eigenen Wesens liegenden Zweck beruhte. Dies ist ein πρώτον ψενδος unseres gesamten Theaterwesens, das auch unsere höchsten Dramen als solche zu ihrem Nachteil nicht nur von den Shakespearischen, sondern selbst von den französischen unterscheidet, von Corneille und Racine, die als Genies nicht an Goethe heranreichen. Die Vereinigung von Theater und Dichtung ist bei uns immer künstlich und gewaltsam gewesen, und unsere höchsten Dramen taugen etwas, nicht weil, sondern trotzdem sie für das Theater sind. Keines unserer größten Dichterwerke paßt in den Rahmen der Bühne, entweder sie überschreiten ihn, oder sie füllen ihn nicht. Unser Drama ist nicht der Schöpfer seines Theaters, unsere Bühne nicht Schöpferin unsers Dramas, sondern beide sind unter allerlei Vorwänden außerdramatischer und anßerdichterischer Natur einen Kompromiß eingegangen. Dieser Kompromiß geht letzten Endes auf Gottsched zurück, der Bühne und Literatur aus rationeller Herrschsucht wieder zusammengezwungen. Diesen Zustand hatte denn Lessing übernommen für den neuen Gehalt, und indem er für seine Bühne mit dem moralischen Endzweck den Shakespeare als obersten Typus gewann, hat er Shakespeare in einen falschen Zusammenhang gebracht, der bis auf unsere Tage die deutsche Dramatik verhängnisvoll beeinflußt.«

Sollte der Wirrwarr, der ja unzweifelhaft ist, nicht ganz anders erklärt werden können? Ist zu denken, daß unser dramatischer Vers sich nach dem zufälligen Vorbild Lessings entwickelt hat? Ist nicht die einfachere Erklärung, daß die Deutschen als Drama etwas Anderes wollen als Shakespeare? Man beobachte nur die Wirkung Shakespeares auf unsere Literatur: sie ist so lange gut und wird als gut empfunden, wie man Shakespeare als Wirklichkeitsdarsteller auffaßt, der zur Natur zurückführe; als man durch ihn die französische Konvention los war, stellten sich bald Bedenken ein: Goethe versuchte wieder Voltaire einzubürgern und schrieb »Shakespeare und kein Ende«; Schiller schrieb die »Braut von Messina«; Grillparzer prophezeite, die deutsche Literatur werde an Shakespeare zugrunde gehen, wie sie durch ihn groß geworden sei; Kleist wollte Shakespeare mit Sophokles vereinigen; selbst der schlichte Shakespearenachahmer Grabbe schrieb über Shakespearomanie; Hebbel macht den Eindruck hier wie in anderen Dingen, daß er sich nicht bis zum Äußersten vorgewagt hat. Das sind alles unklare Strebungen, denn sie gehen durchaus zusammen mit fortdauernder Wirkung Shakespeares auf unsere Dramatiker; aber sie zeigen doch, daß in der deutschen Dichtung das Streben ist, von Shakespeare loszukommen.

Es liegen ja da geheimnisvolle Dinge zugrunde, die wir um so weniger fassen können, als unser neueres Schrifttum doch noch nicht abgeschlossen vor uns liegt: wir leben noch immer in der Zeit, welche Lessing begonnen hat. Wenigstens auf Eines möge hingewiesen werden: Shakespeare, wie die großen Spanier, wie die Franzosen sind aristokratische Dichter, sie schließen die feudale Zeit ab; unsere Klassiker sind bürgerliche Dichter, sie beginnen die bürgerliche Zeit, und sie beginnen sie, noch ehe sie in der Wirklichkeit eingerichtet war. Deshalb haben sie auch keinen Ort gefunden, von dem sie sprechen konnten, deshalb haben sie das elende Zwitterding benutzen müssen, welches man heute Theater nennt. Und ist es nicht merkwürdig: auch die andern Kulturvölker haben doch dieses heutige Theater, aber bei ihnen denkt man nicht daran, die Bühne für die Dichtung in Anspruch zu nehmen; nur die Deutschen haben die Vorstellung, daß die Bühne für die Dichtung da sei; und diese Vorstellung, die doch jeder Wirklichkeit so ins Gesicht schlagt, kann doch nicht einfach, weil das nun einmal aktenmäßig so nachgewiesen ist, durch Gottsched erklärt werden: hier muß etwas in der Nation sein, das zum Ausdruck ringt. Viel einfacher als die aktenbelegte Ansicht Gundolfs scheint mir die zu sein: Im deutschen Volke, das offenkundig metaphysisch und religiös begabt ist, muß man einen Drang zu einer Art von Drama annehmen, das es bis jetzt noch nicht gab, das vielleicht eine Ähnlichkeit mit dem Drama des Äschylus und Sophokles hat. Aber in der Kunst sucht man immer an Überlieferung anzuknüpfen. Shakespeare war eine Weile, solange er als Befreier wirkte, eine angemessene Überlieferung; dann aber kam man nicht mehr richtig los von ihm, weil die hervorragenden Dichter zu jung starben, weil die zweite Sohnschaft fehlte, weil die Entwicklung aus verschiedenen Gründen auf lange Zeit unterbrochen wurde. Denn bei uns hat die Dichtung immer nur auf einigen großen Dichtern gestanden, sie hatte nie, wie bei anderen Völkern, eine Grundlage von vielen mittleren Begabungen, welche das Geschaffene erhielten. So ist fast alles, was wir bis jetzt im Drama besitzen, fragwürdig: aber deutlich geht es nach einer anderen Richtung wie Shakespeare. Man mag über die Formulierung »Bühne als moralische Anstalt« denken, wie man will; was damit gemeint ist, das meint jedenfalls unsere Nation, und das ist ganz das Gegenteil von dem, was Shakespeare will.

Und hier liegt die zweite Gefahr des Gundolfschen Buches. Nie wird ein Geschichtschreiber das Leben erfassen können: wer das kann, der kann nicht Geschichtschreiber sein. Dem Geschichtschreiber liegen die Dinge fertig vor Augen, er kann nicht unterscheiden, was abgeschlossen ist und was noch wird. Shakespeare ist ein Ende, das deutsche Drama von Lessing bis Hebbel ist ein Anfang. Shakespeare kann man nur nachahmen, und abgesehen von der Torheit jeder Nachahmung: er hat in einer Zeit und für Verhältnisse gedichtet, die auf ewig verschwunden sind; wenn man ihn als einen noch wirkenden Dichter empfindet, so kommt man in totes Ästhetentum, wie wenn man Dante als noch wirkenden Dichter empfände. Auf unseren Dramatikern aber kann man weiter bauen: es ist ganz klar, wo ihre Schwächen liegen, es ist aber auch ganz klar, was sie an Kunstmitteln, die wir heute gebrauchen können, schon geformt haben.


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