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Unser Verstand ist niemals untätig, er denkt immer. Aber nur ein Teil der Gedanken gewinnt eine wirkliche Form, äußert sich in Worten oder unmittelbaren Handlungen; der bei weitem größte Teil bleibt in einer Art von Halbbewußtheit.
Wenn man auf diese vernachlässigten Gedanken achtet, dann kann man merkwürdige Aufschlüsse über die treibenden Kräfte unseres Lebens gewinnen.
Ich ging mit einem Freund durch Felder, welche unter der Trockenheit litten. Wir sind in Kleinstädten erzogen, so daß wir sinnlich wohl von Kind auf das Wachsen und Ernten der Frucht kannten, aber da unsere Eltern weder Ur noch Halm hatten, doch nicht durch unsere Lebensumstände mit dem Geschick der Felder verbunden waren. Ich sagte meinem Freund: »Ich erinnere mich plötzlich, daß ich als Kind immer dachte: man müßte doch bei großer Trockenheit die Felder begießen können, wie man die Gartenbeete begießt; heute, als Mann von fünfzig Jahren weiß ich ja natürlich lange, daß dieser Kindergedanke ein Unsinn ist; aber wenn ich ganz tief in meinem Bewußtsein nachforsche, so finde ich, daß ich ihn doch noch nicht ganz verloren habe.« Mein Freund stutzte, besann sich und erwiderte: »Es wird mir jetzt klar, daß bei mir Ähnliches vorgeht; nur hatte ich als Kind den andern Gedanken, daß man die Ernte bei Regen doch durch etwas Ähnliches wie einen Regenschirm schützen könne, und dieser Gedanke ist es denn, den auch ich heute noch unbewußt festhalte.«
Zunächst also ist folgendes: der bloße, sinnliche Eindruck genügt durchaus nicht, um vernünftige und zweckmäßige Gedanken über das Beobachtete zu gewinnen; denn ein Kind müßte doch sehen, daß die große Fläche ein Begießen oder ein Bedecken unmöglich macht. Ein Bauernkind aber wird auf die Gedanken des Kindes landloser Eltern nicht kommen; denn das Vermögen der Eltern hängt von dem Stande der Dinge draußen ab, es fühlt schon frühzeitig die Sorgen der Eltern mit, und aus denen spürt es, daß keine Hilfsmittel gegen Trockenheit im Wachstum und Nässe in der Ernte vorhanden sind. Nicht die Sinne und die Überlegung schaffen also die richtige Vorstellung von der Wirklichkeit, sondern die Nützlichkeitsbeziehung, welche man mit der Wirklichkeit hat.
Zweitens aber ergibt sich: die Kindheitseindrücke werden später durch Erfahrung und gereiften Verstand überwunden, aber nicht vernichtet; sie bleiben immer noch lebendig in unserer Seele. In dem erzählten Fall wird das ja nun keine Gefahren mit sich bringen; gerade dadurch, daß die Unsinnigkeit so auffällig ist, wirkt ja das Beispiel so belehrend. Aber es gibt verwickeltere Verhältnisse dieser Art, bei denen überhaupt nie klare Gedanken endgültig entstehen; bei diesen müssen doch die ersten Kindheitsgedanken auch im späteren Alter noch wirken.
Könnte man nicht die merkwürdig unreifen Vorstellungen, welche heute in weiten Kreisen über religiöse Dinge herrschen, so erklären?
Unsere Vorfahren – vielleicht im großen und ganzen noch die Eltern der mir Gleichaltrigen eingeschlossen – hatten das Gefühl, daß alle Nahrung ein Geschenk Gottes ist. Die Verkehrsmittel waren damals noch unvollkommen, und schlechte Ernten in einer Gegend konnten nicht durch Zufuhren ausgeglichen werden; ich erinnere mich noch, wie oft mein Großvater sagte: »Ja, heute kann keine Hungersnot mehr kommen, wir haben heute die Schiffe und Eisenbahnen«; dem alten Mann, der von einem Bauernhof stammte, muß die Hungersnot noch immer ein drohendes Gespenst gewesen sein. Die Menschen lebten auch noch in engerem Verhältnis zu den Erzeugern der Lebensmittel, sie kauften noch von den Landleuten unmittelbar und erfuhren dabei von ihnen die Zufälligkeiten der Ernte. So fühlten alle: es ist nicht durchaus gesagt, daß wir nächstes Jahr zu essen haben werden; die Ernte kann versagen. Durch dieses Fühlen aber war der Wunsch – um den Schleiermacherschen Ausdruck zu gebrauchen – in seinem endlichen Leben mit dem Unendlichen verknüpft: denn wenn auch die einzelnen Umstände, welche die Ernte bestimmen, eine verständig zu beherrschende Natur haben, das Ganze wird doch unberechenbar sein und in das Unendliche hineinweisen. Der begriffliche Ausdruck für dieses Gefühl ist: Gott läßt die Früchte wachsen, und nach seinem Willen haben wir unser tägliches Brot.
Eine der seelenkundlich auffallendsten Erscheinungen in dieser heutigen Zeit der Lebensmittelknappheit ist, daß die unteren Schichten des Volkes, die Arbeiter, triebmäßig denken: wenn wir arbeiten, dann müssen wir auch zu essen bekommen; daß sie die Nahrung nicht mit Gott verknüpfen, sondern mit ihrer täglichen Arbeit. Die unteren Schichten leben am meisten triebmäßig, deshalb tritt bei ihnen die Erscheinung am auffälligsten auf. Sie ist durchaus begreiflich: sie sind gewohnt zu arbeiten, am Sonnabend ihr Geld zu bekommen und für das Geld alles, was sie brauchen, käuflich zu finden. Die weiteren Zusammenhänge zu bedenken, hatten sie nicht nötig. Heute, wo durch den Krieg dieser Zustand gestört ist, fällt es den höherliegenden Teilen des bewußten Verstandes nun sehr schwer, über diesen Trieb hinweg die Tatsache aufzunehmen: auch wenn man gearbeitet hat und hat das Geld, dann kann man doch nicht alles kaufen, was man braucht.
Jene Beziehung zum Unendlichen und der Glaube, daß Gott uns unser tägliches Brot gibt, ist an sich ja durchaus nichts Wertvolles. Die Vernünftigung und der Gedanke: wenn man arbeitet, dann hat man auch zu essen, ist an sich gewiß nicht schlimm. Aber der frühere Zustand war eine der hauptsächlichsten Ursachen für die Frömmigkeit unserer Vorfahren. Aus etwas im Grunde Gemeinem erwuchs die Bescheidenheit vor dem Unbegreiflichen, die Ehrfurcht vor dem Höheren, der Glaube an eine göttliche Zeitung unserer Geschicke. Diese Ursache fällt in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft vollkommen fort. Es fallen ja noch andere Ursachen fort, deren Aufzählung hier zu weit führen würde. Das Ende davon ist: daß der fromme Sinn notwendig abnehmen muß.
Es ist von frommem Sinn gesprochen, nicht von dem Glauben an eine bestimmte Religion, der ja erst auf jenem ruht. Der bestimmte Glaube ist auch in früheren Zeiten schon oft erschüttert gewesen; im höheren Sinn war das nicht wesentlich; es hatte sich da nur herausgestellt, daß der Begriff, durch welchen sich das Gefühl ausdrückte, nicht mehr angemessen war. Heute aber verschwindet das Gefühl. Es sei hervorgehoben: ich spreche von der großen Menge des Volkes, die eben immer nur durch ihre unmittelbaren sinnlichen Bedürfnisse erregt wird – die sich, auch das sei ausdrücklich gesagt, natürlich nicht auf die gesellschaftlich unteren Kreise beschränkt. Der bedeutende Mensch glaubt schon an Gott, auch heute; vielleicht macht das Gefühl, mit dem Unendlichen verbunden zu sein, auch ohne daß es ihm durch seine sinnlichen Bedürfnisse nahegelegt ist, die Hauptsache seiner Bedeutsamkeit aus.
Der Zustand hat nun seine weiteren Folgen.
Der Gedanke, daß der Staat zu seinem Bestehen der Religion bedarf, wird ja oft platt genug ausgedrückt und ist mit Recht beanstandet worden. Das Falsche an dieser Ausdrucksweise ist immer, daß man das fromme Gefühl, dessen Ausdruck erst die verschiedenen bestimmten Religionen sind, mit diesen verwechselt. Diese Verwechselung hat Unheil genug angerichtet. Die Religionen sind geschichtliche Erscheinungen und als solche wandelbar. Wenn der Staat sich für eine bestimmte Religion einsetzt, weil er glaubt, daß von ihr sein Bestehen abhängt, und dann die inneren Veränderungen, welche durch den geschichtlichen Selbstentwicklungsvorgang der Religion entstehen, unterdrücken will, dann treibt er eine unheilvolle Politik; der Zusammenbruch Rußlands ist die jüngste Erscheinung einer Folge solcher Politik.
Aber in seinem Grund ist der Gedanke wahr: der Staat kann nur bestehen, wenn im Volk das fromme Gefühl lebendig ist; stirbt dieses ab, dann sterben auch die Wurzeln seiner Kraft ab, und es ist dann nur noch Gesetzlosigkeit oder Gewaltherrschaft möglich – in den jedesmaligen geschichtlichen Formen natürlich.
Der Zusammenhang ist leicht einzusehen.
Bleiben wir bei unserm Beispiel der Nahrungsfürsorge. Die Vernünftigung ist nur scheinbar. Allerdings sind wir durch die Verkehrsmittel heute vor der Hungersnot bewahrt, welche durch eine Mißernte entstehen kann; aber wir sehen ja in diesem Kriege, daß es unberechenbare gesellschaftliche Ereignisse gibt, welche auf großen Gebieten denselben Erfolg haben wie die Mißernten früher auf kleinen. Ebenso scheinbar ist die Vernünftigung im täglichen Erwerb des Arbeiters von heute. Wirtschaftliche Ereignisse können kommen, welche bewirken, daß der Arbeiter gern arbeiten möchte, und daß niemand seine Arbeit gebrauchen kann; er wird dann viel schlimmer daran sein als Vorfahren von ihm in früheren Zeiten. Diese gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse, zu einem sehr hohen Grade verstandesmäßig zu verstehen, genau so wie unheilvolle Ereignisse in der Natur, welche Mißernten erzeugen, sind doch im ganzen ebenso wie diese unbegreiflich. Man denke nur an diesen Krieg. Nur: früher waren die Manschen auf die Unbegreiflichkeit eingestellt durch die Religion; heute stehen sie ihr fassungslos gegenüber.
Auch der Staat hat sich ja scheinbar vernünftig!. Überall werden Parlamente gewählt, welche doch den Willen des Volkes auszudrücken scheinen. Dem Anschein nach ist es in allen Staaten fast oder ganz unmöglich, daß ein Krieg gegen den Willen des Volkes ausbricht. Wir sehen aber, daß tatsächlich gerade in den demokratischsten Staaten das Volk am wenigsten zu sagen hat darüber, ob es einen Krieg will. Der bei weitem größte Teil der Amerikaner etwa müßte doch ganz verwundert gewesen sein, daß das amerikanische Volk plötzlich den Krieg haben wollte – wenn den Völkern diese merkwürdigen Vorgänge überhaupt zum Bewußtsein kämen. Es wäre auch nicht richtig, wenn man sagte, wie Bismarcks Meinung war, daß irgendwelche kleinen Kreise, die durch irgendwelche Ursachen maßgebend sind, den Krieg wollen. Man kann auch hier eine ganze Menge Einzelheiten vernünftig erklären, aber das Ereignis im ganzen ist doch unerklärlich. Es ist hier nicht anders als mit den wirtschaftlichen Ereignissen. Die Vernünftigung des Staates ist im Grunde gleichfalls nur scheinbar.
Aber indem sie auf die Menschen wirkt, ihnen das Gefühl raubt, das die Vorfahren hatten, von göttlichen Mächten abhängig zu sein, erzeugt sie den allgemeinen Gedanken bei den Manschen, daß sie durch eigene vernünftige Tätigkeit die Dinge in Ordnung bringen könnten.
Naturgemäß ist dieser Gedanke am meisten bei den unteren Schichten vertreten, welche denn, im ganzen genommen, die unfrommsten sind. Hier entsteht so eine politische idealistische Verbohrtheit. Etwa man glaubt, es sei möglich, durch verständige Politik künftige Kriege unmöglich zu machen, indem man nichts erobert. Eine solche Gesinnung ist nur als Merkmal genannt und soll auch nur als Merkmal in ihren Folgen dargestellt werden; es hätte ebensogut Anderes genannt werden können. Vernünftigerweise wird ein Staat nur erobern, um für einen künftigen Krieg besser vorbereitet zu sein; die Idealisten, welche gegen die Eroberung sind, schwächen also den Staat für den künftigen Krieg, sie wirken also gegen ihn, und es ist in ihnen ein Trieb lebendig, der staatszerstörend wirkt.
Ein ganz ähnliches Merkmal ist die Demokratisierung. Es ist keine Staatsordnung vollkommen; die Demokratisierung befördert die scheinbare Vernünftigung, schwächt aber dadurch die eigentliche Staatsgewalt. Es ist doch ohne weiteres klar, daß die Mittelmächte dem Ansturm der soviel zahlreicheren übrigen Mächte nur dadurch standhalten können, daß ihre staatliche Verfassung ein stärkeres Zusammenraffen der Völker für die allgemeinen Zwecke erlaubt.
Aber wenn das letzte fromme Gefühl bei den Menschen fehlt: wenn sie nicht mehr fühlen, daß ihr zufälliges persönliches Leben nicht von ihnen selber abhängig ist, sondern von einer in der Unendlichkeit ruhenden Macht, hie nie erkannt und nur gläubig verehrt werden kann, dann werden sie immer weiter ihr Geschick dem eigenen Verstand anvertrauen wollen in der Art, wie ihnen möglich erscheint; und damit werden die Grundlagen des Staates schwinden.
Man ist ja heute gewohnt, die Parteien nur noch als Vertreterinnen von Interessengruppen zu betrachten. Aber das ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig. Sie sind auch Vertreterinnen von Weltanschauungen, die unabhängig von den Interessen sind. Der durchschnittliche Konservative ist gewiß kein edlerer Mensch als der durchschnittliche Sozialdemokrat und umgekehrt; die Führer sind wahrscheinlich gleichfalls bei beiden Parteien sittlich gleichwertig. Beide Parteien vertreten Interessen, die einen des Besitzes und die andern der Arbeitskraft; und als Interessenparteien möchte jede ein möglichst großes Stück vom Kuchen haben.
Die Sozialdemokratie ist geneigt, die Neigung des Konservativen zur Religion für ein Mittel seiner Interessenpolitik zu halten, umgekehrt glaubt der Konservative von dem andern, daß seine Gottlosigkeit das Mittel sei, womit die Begehrlichkeit der Massen – als ob es keine Begehrlichkeit der Höheren gäbe – am leichtesten aufzureizen ist. Sie sind beide im Irrtum. Diese Weltanschauungen wurzeln tiefer, sie ruhen im letzten Lebenstrieb.
Auch die Gegensätze, welche über das Kriegsziel heute im Volk herrschen, ruhen im letzten Lebenstrieb.
Bei unsern Gegnern sind diese Gegensätze nicht vorhanden. Die Ursache ist einerseits, daß die unteren Klassen bei ihnen nicht soviel zu sagen haben wie bei uns; andererseits aber, und das ist die Hauptsache, daß die Nation bei ihnen viel ausgeglichener ist. Die Aufklärung oder die Gottlosigkeit ist bei ihnen allgemeiner; und die vorhandenen Gegensätze sind nicht solche der Weltanschauung, sondern der praktischen Politik. Die französischen Sozialisten, welche Elsaß-Lothringen erobern wollen, haben nicht etwa die Gründe unserer konservativen Eroberungspolitiker; sie wollen, genau wie unsere Sozialisten, daß dieser Krieg möglichst der letzte sein soll.