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In dem großen epischen Gedicht der Inder, das mehr eine Sammlung, ähnlich etwa der Bibel, ist, als ein einheitliches Gedicht, findet sich eine Einlage, eigentlich also ein kleines Epos, die bei uns unter dem Namen von Nala und Damayanti bekannt ist.
Das Gedicht ist von Rückert frei und von Holtzmann noch freier übersetzt. Die Vermittler dieser alten Werke haben für eine bearbeitungsmäßige und nicht getreue Übertragung den Rechtsgrund, daß das alte Gedicht uns ja nur in späteren Bearbeitungen vorliegt, die oft genug die ursprüngliche Schönheit zerstört haben. Gelehrte von Geschmack und Urteil können vielleicht das Alte aus dem Zertrümmerten und Geflickten wiederherstellen und dem deutschen Leser dergestalt eine größere Freude bereiten, als wenn ste wörtlich übersetzten und alles oft Ungereimte und Pfäffische der späteren Schriftsteller uns mitteilten.
Aber bei der größten Gelehrsamkeit und dem feinsten dichterischen Verständnis kann ein solcher Bearbeiter doch weder seine persönliche Auffassung noch die Befangenheit seiner Zeit ausschalten. Es geht mit solchen Bearbeitungen, wie es mit Wiederherstellungen alter Bauwerke geht. Vielleicht sind sie für die große Masse nützlich: wobei man denn sich freilich fragen soll, ob dieser Nutzen einen Wert hat; für den, welcher sein Gemüt an dem echt Alten ergötzen will oder Belehrung in wichtigen Dingen sucht, wird eine treue Wiedergabe des nun wirklich Vorhandenen doch angenehmer sein. Es gibt von Nala und Damayanti eine alte, verschollene Übersetzung von Kosegarten, die vor Rückert und Holtzmanns Werken erschien; sie ist sprachlich zwar unbeholfen, aber sie gibt den Urtext treuer wieder. Wer nicht in der glücklichen Lage ist, Sanskrit zu lesen, wird sich mit Vorteil an sie halten.
Die indische Dichtung kam erst in den Zeiten nach Europa, als unser geistiges Leben sich schon im Niedergang befand. Die griechische Dichtung hat den Vorteil, daß unsere großen Geister sich an ihr bildeten, sie studierten und ihre Bewertung, teilweise auch ihre Auffassung den Nachkommen mitteilten. Die indische Dichtung wurde bei uns durch die Schlegels eingeführt, die ja gewiß in ihrer Art hervorragende Männer waren, aber doch nicht zu den ersten gehörten und deshalb für die Nachlebenden nicht so bedeutend werden konnten. Auch die heutige Schätzung Calderons leidet ja darunter, daß er zu spät zu uns gekommen ist.
Man muß, wenn man indische Dichtung verstehen will, versuchen, diesen Schaden für sich gutzumachen. Das wird unserer Zeit aber sehr schwer, denn wir sind bei allem kindlichen Stolz auf unsere geistige Selbständigkeit in den wichtigen Dingen doch so abhängig vom fachmännischen Urteil wie das finsterste Mittelalter. Zu diesen wichtigen Dingen gehört die Dichtung.
Nehme man an, daß die Inder im Dichten genau so wie im Denken in gewissen Formen das Höchste erreicht haben: das denn nun freilich von seiner besonderen Art ist und in dieser verstanden werden muß. Diese besondere Art ist ein leichteres Durchscheinen des göttlichen Gehaltes durch die gefälligen Schleier der Darstellung im Epos. In der griechischen Dichtung haben wir dieses Durchscheinen stark nur in der Tragödie und in der orphischen Lyrik; die Inder haben keine Tragödie geschaffen; sie brauchten sie nicht, denn sie haben schon im Epos, natürlich in anderer Weise, was die Griechen in der Tragödie haben mußten. Wenn man das bedenkt, dann beurteilt man vielleicht auch die Überarbeitungen anders wie gewöhnlich. Bei den Griechen sind aus den alten Heldenliedern in einer mittelalterlich-höfischen Luft die homerischen Gedichte entstanden. Bei den Indern wurde aus ihnen in der philosophisch-priesterlichen Luft der Brahmanen das, was wir heute vorliegen haben. Der Unterschied ist nur, daß die Spätlinge der homerischen Zeit verlorengegangen sind, die Spätlinge der großen Zeit der indischen Neudichtung aber nicht; und das Ungünstige ist dabei, daß das Törichte und Alberne dieser Spätlinge so dicht in das Gute verwoben ist, indem ihre Arbeit mit der Arbeit der klassischen Dichter ineinander geschweißt wurde.
Wir kommen nach dieser langen Einleitung zu unserer Aufgabe. Das indische Epos ist etwas Anderes als das griechische, das uns immer noch – wenn freilich unbewußt genug – als Muster gilt, nach welchem
beurteilt wird; und es erfüllt in einem wesentlichen Stück die Zwecke der griechischen Tragödie. Ob hier die höchsten dichterischen Möglichkeiten erfüllt sind, also eine Form vollendet ist, das überzeugend zu beantworten würde eine lange stilistisch-handwerkliche Untersuchung erfordern; ich persönlich bin geneigt, diese Frage zu bejahen; wir würden unsere Kenntnis der dichterischen Formen erweitern, wenn wir das indische Epos genauer untersuchten.
Die griechische Tragödie ist die sinnbildliche Darstellung eines seelischen Vorganges; das indische Epos ist dasselbe. Wenn man einen solchen Vorgang begrifflich sagen will, so kommt man natürlich sofort in Schwierigkeiten; eben darin beruht ja der Wert der hohen Dichtung, daß sie uns die Zunge löst für sonst Unsagbares, das die größte Wichtigkeit hat. Wir müssen uns also mit einer recht plumpen Ausdrucksweise begnügen. Nala und Damayanti stellt die Wirkung des Bösen im Menschen dar.
Wenn wir begrifflich das Böse zu verstehen suchen, dann sind wir an die Bedingungen der Sprache gebunden. Diese läßt es uns nach ihrer Natur als ein Ding erscheinen; wenn die Menschheit sich noch in der Zeit befindet, wo sie sich mythisch ausdrückt, dann wird aus dem Ding eine Person gemacht, und die Gestalt des Teufels entsteht. Mit diesen so geschaffenen Vorstellungen des Bösen als eines Dinges oder als einer Person kommen wir aber stets in unlösbare Widersprüche. Es steht dem Ding Böse das Ding Gut gegenüber, der Person des Teufels die Person Gottes, und die Menschen können keine befriedigende Aufklärung darüber geben, wie denn das Böse in die Welt gekommen ist, wie das Verhältnis des Teufels zu Gott gedacht werden soll. In den verderblichen Versuchen, eine solche Aufklärung zu schaffen, sind Jahrtausende menschlichen Denkens vergangen.
Die Dichtung kann solche unlösbare Aufgaben lösen, indem sie zeigt, daß sie nur durch die Sprache gestellt sind, daß der Zusammenhang ganz einfach ist, wenn man die dichterische Darstellung gibt statt des unzutreffenden Begriffes. In Nala und Damayanti ist der innere Vorgang des Bösen in unübertrefflicher Weise dargestellt: eben als ein innerer Vorgang und nicht als ein Ding. Das Böse ist ein Vorgang; die Schwierigkeit entsteht einfach dadurch, daß bei ihm sich die Welt der Wirklichkeit mit der Welt der Werte schneidet, wie zwei Kreise sich schneiden, so daß ein Teil des Vorganges zwei Welten gemeinsam ist, und es wäre natürlich falsch, wenn man den gemeinsamen Teil mit der Bezeichnung aus der Welt der Werte zu der Welt der Wirklichkeit nähme. Ein guter Dichter wird das aber nie tun; er wird mit ruhiger Miene seine Welt der Wirklichkeit darstellen und es dem Gefühl des Hörers überlassen, wie der sich seine Welt der Werte schafft: denn die Welt der Werte schafft sich jeder aus seinem eigenen Gewissen neu; und wie er den gemeinsamen Teil abgrenzt.
Das scheint sehr einfach zu sein. Aber noch heute wissen die wenigsten Menschen von diesem Zusammenhang, und viel Unglück entsteht noch heute durch dieses Nichtwissen. Sehr merkwürdig ist, daß die dichterische Lösung der Frage bekannt sein kann und daß die Menschen doch verzweifelnd philosophisch und theologisch sie zu lösen suchen. Der indische Geist hat auf seiner Höhe nicht nur in unserem Gedicht, sondern in vielen andern Dichtungen und Legenden das Böse dichterisch als Vorgang dargestellt; dennoch beschäftigt sich heute die Schiwa- Theologie, die im gegenwärtigen Indien wichtigste Theologie, noch immer mit der Frage, wie das Ding Böse in die Welt gekommen ist, wie es sich zu dem Ding Gut verhält; und diese Theologie ist das Gedankengespinst einer Religion, welche vielleicht ursprünglich aus einer Dichtung entstand.
Nala ist ein König, der alle Haftpflichten erfüllt, die Veden liest, den Göttern richtig opfert und die Tugenden der Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Gelübdetreue, Redlichkeit, Festigkeit, Spendung, Andacht, Unschuld, Zucht und Geduld übt: also er ist ein sittliches Idealbild, Um Damayanti werben die Götter, sie aber zieht ihnen den Menschen Nala vor, und die Götter erkennen, daß sie damit recht hat. Kali und Dwapara, zwei böse Geister, beschließen aus Zorn, Nala zu verderben; Kali ist von den beiden der Höhere oder Tätigere.
Hier haben wir aus der Theologie einen mythischen Teufel. Der Dichter kann nicht die Vorstellungen seiner Zeit und seines Volkes verneinen; er nimmt sie einfach in seine Dichtung hinein. Das erschwert ja so sehr das Verständnis solcher Werke, daß sie nicht folgerichtig wie Gedankengebäude sind, sondern die Wirklichkeit – zu der denn auch der Glaube an den Teufel gehört – ruhig annehmen, auch wenn Widersprechendes dadurch herauskommt.
Lange wartet Kali auf die Gelegenheit; endlich im zwölften Jahre hat er sie; Nala hat eines Abends ein Bedürfnis verrichtet, sich beschmutzt und nicht sofort gewaschen; da fährt Kali in ihn hinein. In ihm sitzend, erregt er ein Würfelspiel zwischen Nala und seinem Bruder, in welchem Nala alles verspielt, selbst seine Kleidung. Damayanti folgt ihm treu in die Wildnis; er raubt der Schlafenden die Hälfte ihres Kleides und läßt sie allein; sie rettet sich und dient unerkannt an einem Hofe, Nala desgleichen an einem andern; sie wird von ihrem Vater aufgefunden: Nala wird von Kali befreit durch ein neuerworbenes Wissen, die Gatten vereinigen sich wieder, und Nala gewinnt sein Reich zurück.
Nala handelt schändlich. Aber in der dichterischen Darstellung ergibt sich ungezwungen das eine aus dem andern. Sehr tief ist, daß der Anfang eine Verletzung eines scheinbar gleichgültigen Reinlichkeitsgebotes ist; Holtzmann hat das ganz ausgelassen, Rückert abgeschwächt. Leidenschaft und Stolz, beide an sich nicht böse, ziehen Nala immer weiter, bis ihn, wieder sehr tief, ein neuerworbenes Wissen befreit. Der Gedanke der Erlösung vom Bösen durch das Wissen geht bekanntlich durch die ganze Geschichte des indischen Geistes bis zum Buddhismus, vielleicht auch noch weiter. Wir können ihn schwer fassen, und man stellt bei uns etwa dem Ausspruch Buddhas, daß die Einsichtslosen ihm nicht nahen sollen, das gefühlig mißverstandene Christuswort von den »Kindlein« gegenüber. Sobald wir ihn fassen können, werden wir auch seine Richtigkeit einsehen: wenn das Böse ein Vorgang in uns ist,dann ist es ja in dem Augenblick besiegt, wo wir seinen Zusammenhang wissen. Es ist dann der verwickelte seelische Weg von Reue und Buße nicht nötig, den wir westlichen Völker haben.
Die Inder haben bekanntlich die Vorstellung von verschiedenen Weltaltern oder Yugas, und nach okkultistischer Anschauung leben wir heute in dem vierten, dem Kali-Duga, dem Zeitalter Kalis.
Kali fährt aus Nala aus, als er das neue Wissen hat; wenn wir das neue Wissen fänden, vielleicht würde dann aus unserm Yuga auch Kali ausfahren.