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LV.

Wenn ich an diese letzten Minuten in meinem Hotelzimmer denke, empfinde ich von neuem die ungeheure Spannung, die mich damals beherrschte. Die Luft im Zimmer war heiß und drückend. Beide Fenster standen offen, aber nicht der geringste Windhauch bewegte die Gardinen. Wie ein gedämpftes Brausen stieg der Lärm der Großstadt zu uns herauf, alle diese Laute, die im Verein zu der Stimme der Straße werden, Autohupen, Menschenstimmen, Wagenrollen – der Gedanke kam mir, wie seltsam es sei, daß dieses Leben um uns herum nichts davon wußte, daß sich hier oben hinter meinen grauen Gardinen die furchtbarste Tragödie abspielte, die es zwischen Menschen gibt, die Tragödie, bei der es Leben und Tod gilt, und für die es nur eine Lösung gibt: Tod für den einen oder den anderen.

Denn es war mir jetzt ganz klar geworden, daß auch Dr. Gravenhag dieses Zimmer nur als Sieger verlassen wollte. Ich konnte es ihm ansehen. Tatsächlich hörte er mir nicht mehr zu. Er saß nur da und wartete auf einen günstigen Augenblick, um mich zu überfallen. Er wußte aber auch, daß ich ihn scharf beobachtete. Ich war mir vollständig klar darüber, daß ich gezwungen sein würde, den Revolver gegen ihn zu erheben, wenn er nur die geringste Bewegung mit der Hand machte, die jetzt auf seinem Knie lag. Wie war dieses Spiel spannend! Ich würde viel darum geben, noch einmal solche Minuten zu erleben – und Herr darüber zu sein.

»Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen,« fuhr ich fort, indem ich ihm freundlich zulächelte, »wie Sie zu Ihrem Paß kamen. Ich weiß selbst, wie man heutzutage seine Paßschwierigkeiten überwindet. Diese Grenzsperren sind tatsächlich ein großer Vorteil für Gesetzumgeher und andere mystische Personen. Man reist als Kurier. Man hat ein mystisches Zeichen im Paß, das einem überall Durchgang verschafft. Mit diesem Paß gelangten Sie nach Deutschland und verschwanden dort in der ungeheuren Volksmenge, bis ich Sie jetzt endlich gefunden habe. Da wir von vergangenen Dingen reden, ist es mir wohl gestattet, noch einmal Frau Merete mein Kompliment zu machen. Als sie von Berlin zurückkam, um die Hinterlassenschaften ihres ermordeten Mannes zu ordnen, trat sie mit unvergleichlicher und diskreter Vornehmheit auf. Die Reise war außerdem nicht ohne Gefahr. Es hatte ja einem der Herren Polizisten einfallen können, den Umstand, daß sie Dr. Gravenhags Lebensversicherung von dreihunderttausend Kronen hob, mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Vielleicht hatte man die Wahrheit nicht gleich durchschaut, doch wäre man vielleicht auf den Gedanken gekommen, die traurige und vornehme Frau Merete ein wenig zu beobachten. Wenn ich Polizeibeamter gewesen wäre, würde ich ihr sicher in aller Heimlichkeit gefolgt sein. Dann hätte ich die seltsame Feststellung machen können, daß der ermordete Dr. Gravenhag leibhaftig in einem Vorort Berlins zu treffen sei. Und nun haben Sie erfahren, was ich weiß. Nein, bleiben Sie sitzen,« rief ich, »erheben Sie sich nicht von Ihrem Platz, bevor wir uns einig geworden sind!«

Er beugte sich über den Tisch. In seinem Gesicht war ein unbeschreiblicher Ausdruck von Haß und Verzweiflung, und ich hatte das angenehme und kitzelnde Gefühl, eine Vivisektion an ihm vorzunehmen.

»Wieviel?« fragte er heiser, »wieviel wollen Sie haben?«

»Ich will in meiner Forderung müßig sein,« antwortete ich, »wieviel haben Sie von den dreihunderttausend Kronen noch übrig?«

»Das hat mit der Sache nichts zu tun,« antwortete er, »ich will mich von Ihrer gemeinen Verfolgung freikaufen. Ich habe hier in meiner Tasche …«

Er griff nach seiner Brusttasche.

»Vorsicht!« rief ich, »Sie rühren sich nicht – Sie können mir sagen, wieviel Sie in Ihrer Tasche haben.«

»Ich habe einen Scheck über fünfundzwanzigtausend Kronen.«

Ich lachte laut.

»Das heißt,« fügte er schnell und nervös hinzu, »ich habe auch noch einen anderen über zehntausend Kronen.«

»Das genügt nicht,« antwortete ich, »ich verlange Ihr ganzes Bankkonto. Ich nehme an, daß ein wesentlicher Teil der dreihunderttausend Kronen noch vorhanden ist.«

Warum sagte ich das? Ursprünglich war es meine Absicht gewesen, nicht mehr als zwanzig- bis dreißigtausend Kronen von ihm zu verlangen, so daß ich aus meiner augenblicklichen Geldverlegenheit herauskäme. Ich bin mir nicht ganz klar über das Motiv zu meiner Handlungsweise, doch nehme ich an, daß ich ihn zum Aeußersten treiben wollte. In diesem Vorsatz lag eine Art Schwäche. Ich wollte, daß er, noch mehr gereizt, zum Angriff übergehen sollte. Und das tat er auch. Er sagte nichts mehr, senkte nur den Kopf, und sein Auge bekam einen blutunterlaufenen und grausamen Ausdruck. Es war, als ob seine ganze Gestalt sich zusammenzog. Wie er dort saß, glich er einem großen, tollen Hund, der sich sprungbereit macht.

Im selben Augenblick begann das Zimmer zu beben und die Fenster zu klirren. Von der Straße drang der ohrenbetäubende Lärm der zementgeladenen Wagen herauf. Wir hätten uns zurufen müssen, wollten wir uns verständigen.

Da erhob er sich hastig. Im selben Augenblick schoß ich. Er fiel. Ein Revolver glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden.


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