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XII.

Professor Hektors Erklärung wirkte so überraschend, daß keiner der Herren im ersten Augenblick etwas sagen konnte. Fenneslew sah ihn mit offenem Munde an. Der Professor aber strich sich vergnügt seinen seidenweichen Bart wie nach einem gelungenen Scherz und sagte:

»Da sehen Sie, meine Herren, wie leicht eine Theorie zunichte wird. Diese aber stand auch auf ungewöhnlich schwachen Füßen.«

»Es war die nächstliegende,« meinte Fenneslew gekränkt.

»Haben Sie die Absicht, mich zu verhaften?« fragte der Professor.

»Nein,« antwortete der Polizist abweisend, denn er fühlte sich von dem scherzhaften Ton des anderen abgestoßen, »aber ich möchte Sie wegen Ihres Gespräches mit dem Ermordeten verhören. Sie sagten, daß Sie ihn gestern nach elf Uhr verlassen haben – wie ist es dann zu erklären, daß er sich gleich darauf hingesetzt hat, um Ihnen zu schreiben, noch dazu über eine so alltägliche Sache wie eine Reise. Warum hat er Ihnen das nicht mitgeteilt, während Sie bei ihm waren?«

»Weil er mir nichts davon sagen wollte. Und gestatten Sie mir die Frage, Herr Kommissar, wer bürgt dafür, daß er den Brief unmittelbar nach meinem Fortgang geschrieben hat. Vielleicht hat er ihn erst drei – vier Stunden später geschrieben, vielleicht erst um fünf bis sechs Uhr heute morgen.«

Der Polizist zeigte auf das elektrische Licht.

»Es brannte,« sagte er.

»Die Gardinen aber waren vorgezogen,« sagte der Professor. »Das einzige, was man mit Bestimmtheit feststellen kann, ist, daß er den Brief unmittelbar vor seiner Ermordung geschrieben hat, weil er nicht vollendet ist. Von der Wunde kann man schließen, daß er mehrere Stunden tot war. Um zwölf Uhr heute vormittag wurde er tot aufgefunden.«

»Suchten Sie ihn gestern abend aus eigenem Antrieb auf?« fragte Fenneslew, »oder hatte er Sie zu sich gebeten?«

»Ich wurde seiner habhaft,« antwortete der Professor.

»Das ist ein seltsamer Ausdruck! Wo wurden Sie seiner denn habhaft?«

»Ich habe diesen Ausdruck mit Absicht gebraucht,« antwortete der Professor, »weil ich ihn schon längere Zeit gesucht hatte. Gestern abend wurde ich seiner auf einem Spaziergang längs des Strandweges habhaft. Er saß in einem der kleinen Restaurants und trank ein Glas Bier. Ich möchte die Aufmerksamkeit der Polizei hier auf einen wichtigen Umstand lenken. Wie Ihnen vielleicht bekannt, hatte Dr. Gravenhag, der sonst die Solidität in Person war, in letzter Zeit einen wilden Lebenswandel geführt, seine Arbeit, seine Pflicht versäumt, und Tage und Nächte in der Gesellschaft von Spielern und Trinkern verbracht. Ich kenne ihn schon lange und schätze ihn sowohl als Charakter wie als Arzt. Ich war überzeugt, daß seine Ausschweifungen mit einer seelischen Depression zusammenhingen, wie man sie häufig bei überanstrengten Menschen findet, und die fast immer vorübergehender Natur ist. Vor einigen Tagen verschwand er ganz aus seiner Gesellschaft, auch in seiner Wohnung ließ er sich nicht mehr blicken, und als ich dies erfuhr, dachte ich, daß er vielleicht irgendwo hilflos und seiner selbst nicht mächtig herumirrte, wie solche Anfälle geistiger Depression zu enden pflegen. In solchem Fall muß man den Kranken in kleinen Wirtschaften und an anderen mystischen Orten suchen. Das habe ich getan, sogar in übel berüchtigten Straßen bin ich gewesen. Aber erst gestern abend glückte es mir, meinen unglücklichen Freund zu finden, als ich ihn zufällig draußen in dem kleinen Gartenrestaurant traf. Doch muß ich bekennen,« fuhr Professor Hektor fort, »daß meine Psychologie in diesem Fall nicht zutraf. Statt eines geistig gebrochenen Individuums, eines Wracks, das ich zu finden glaubte, traf ich den gewöhnlichen nüchternen, reservierten Gravenhag, elegant gekleidet wie immer, und als ich ihn fragte, wo er gewesen sei, antwortete er mir mit seinem abweisenden Lächeln. Jetzt, indem ich neben seiner Leiche stehe, muß ich seine Verstellungskunst und Kaltblütigkeit bewundern, denn daß er unter der Maske der Kälte und Ueberlegenheit rätselhafte Geheimnisse verbarg, die in seinem Inneren rasten, das beweist das furchtbare Drama, das sich heute nacht hier abgespielt haben muß. – Kurz und gut, ich setzte ihm zu, und da er trotzdem das Zusammensein mit einem alten Freunde angenehm zu empfinden schien, forderte er mich auf, mit ihm nach Hause zu gehen und ein Glas Whisky mit ihm zu trinken. Das taten wir. Da haben Sie die Geschichte von den zwei Whiskygläsern, meine Herren. Als er aber trotz meiner eindringlichen Vorstellungen in seiner kühlen Reserviertheit verharrte, wurde ich zuletzt ungeduldig und ließ mein Glas halbgeleert stehen. Beim Abschied fragte ich ihn: Können wir bei der Arbeit bald wieder auf Sie rechnen? Vielleicht, antwortete er. Das hoffen wir alle, sagte ich und ging. Er begleitete mich hinaus und drehte die Treppenbeleuchtung an. Das Licht brennt, bis Sie unten sind, sagte er, leben Sie wohl, lieber Freund. – Und jetzt ersehe ich aus diesem Brief, daß er eigentlich eine Reise unternehmen wollte. Darf ich den Brief behalten, oder nimmt die Polizei ihn an sich?«

»Die Polizei legt Beschlag darauf,« antwortete Fenneslew und nahm den Brief an sich.

Professor Hektor ergriff Hut und Stock, um zu gehen. Vorher aber sagte er noch zu dem Polizeikommissar:

»Meiner Meinung nach haben Sie das Rätsel gelöst, wenn Sie herausbekommen, wo er während der letzten fünf Tage gewesen ist.«

Noch einen letzten Blick warf er auf den Toten und murmelte vor sich hin:

»Das wäre etwas für die schöne, kalte und sensationslüsterne Frau Merete gewesen, das wäre etwas für sie gewesen, die Ermordung ihres Mannes zu erleben.«

Plötzlich stellte Fenneslew eine Frage, die einen unglaublichen Gedanken verriet:

»Wo ist Frau Merete?«

Der Chirurg sah ihn an.

»In Berlin,« antwortete er, »auf Wiedersehen, meine Herren.«


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