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IV.

Ich liebe es nicht, wenn ich arbeite, von ganz unvorhergesehenen Ereignissen überrascht zu werden. Nicht, weil ich fürchte, einer Situation nicht gewachsen zu sein, sondern weil eine Begegnung mit dem Ueberraschenden bedeutet, daß ich nicht alle Möglichkeiten ins Auge gefaßt habe. Das Unerwartete wirkt deshalb wie ein Selbstvorwurf auf mich. Diesmal aber nahm ich den Vorwurf leicht, denn die Ueberraschung war der Art, daß ich sie unmöglich hatte voraussehen können.

Der Mann mit dem großen Bart war ganz richtig maskiert. Es war nicht schwer, ihm zu folgen, weil er offenbar nicht mit einer Verfolgung rechnete, nachdem er sich Marcus Friis' entledigt hatte. Die Fahrt ging durch die belebtesten Verkehrsstraßen der Stadt, auf denen eine Menge Menschen unterwegs war, denn die Theater hatten gerade geschlossen, und der Mann, der auf seinem Rad hinter der Droschke herrollte, weckte darum keinerlei Aufsehen. Der Verfolgte wohnte im Osten der Stadt, wo die wohlhabenden Familien ihre Hauser haben. In eines derselben, einen Neubau, ging er hinein, ohne sich umzusehen und ließ die Haustür hinter sich ins Schloß fallen. Als die Droschke fort war, lag die Straße wieder in vornehmer Ruhe da, und es wäre ein leichtes gewesen, sich bei dem Portier eine Auskunft zu holen. Jetzt aber wußte ich ja, wo er wohnte, und wollte nichts riskieren.

Darum kehrte ich in die Pension zurück und ging zu Bett, in dem Bewußtsein, eine wertvolle Spur entdeckt zu haben. Die Hauptsache war für mich, daß das Auftauchen des Fremden der Sache eine tiefere Perspektive gegeben hatte; wäre es nur eine Kassenunterschlagung gewesen oder der krampfhafte Versuch eines schwachen Menschen, sich einige Tage des Rausches zu verschaffen, dann hätte ich mich zurückgezogen, ja vielleicht hätte ich meiner Natur Gewalt angetan und dem Armen geholfen. Etwas Aehnliches habe ich schon früher getan, aber das gehört zu einer anderen Geschichte … Bis auf weiteres nahm ich an, daß Marcus Friis von dem Fremden Geld erhielt, warum, das mußte ich ausfindig zu machen versuchen. Vor allen Dingen mußte ich die Identität des Fremden feststellen. Zeitig am nächsten Morgen war ich in dem Hause im Osten. Und hier traf ich auf die erste Ueberraschung. Im Hause waren fünf Wohnungen, eine in jedem Stockwerk. Ich las die Namen und notierte sie mir, indem ich die Treppe hinaufstieg. Im dritten Stockwerk bekam ich den Schock! Auf dem großen Messingschild stand mit einfachen lateinischen Buchstaben eingraviert: Dr. Louis Gravenhag.

Es war Frau Meretens geschiedener Mann. Es konnte ja ein Zufall sein, daß Dr. Gravenhag in demselben Hause wohnte, wie der Fremde. Mit solchem Zufall aber rechnete ich nicht, im Gegenteil, ich bekam den Eindruck von etwas Gefährlichem, als ich sah, wie das Dreieck Marcus Friis – Merete – Louis Gravenhag sich schloß. Was konnte das bedeuten?

Um neun Uhr verließ Louis Gravenhag das Haus, vermutlich, um sich auf Krankenbesuche oder in seine Klinik zu begeben. Ich erkannte gleich den berühmten Nervenarzt nach Bildern in Zeitschriften. Dem dunkelbärtigen Fremden aber glich er ganz und gar nicht. Dr. Gravenhag war blond und blauäugig wie ein echter Nordländer, wie … wie Marcus Friis, in der Eile fiel mir kein anderer ein, mit dem ich ihn vergleichen konnte. Frau Merete liebt die Augen ihrer Rasse, dachte ich bei mir. Vor seiner Tür blieb Dr. Gravenhag einen Augenblick stehen und zündete sich eine Zigarre an. Darauf begab er sich auf den Weg. Da erkannte ich ihn. Er war der Fremde.

Als er abends vorher den Wirtschaftsgarten verließ, hatte er sich auch eine Zigarre angezündet. Ebensowenig wie es zwei Menschen gibt, die genau dieselben Linien in der Hand haben, ebensowenig gibt es zwei Menschen, die sich auf dieselbe Weise eine Zigarre anzünden. Im Laufe der Jahre wird diese Geste zu einer individuell geformten Handlung, die eine ganze Reihe von Bewegungen umfaßt, von dem Griff in die Tasche nach dem Etui, bis zum Fortwerfen des Zündholzes. Wäre ich aber noch im Zweifel gewesen, brauchte ich nur Dr. Gravenhags Gang zu beobachten, diese raschen und energischen, etwas kurzen Schritte, um mich ganz davon zu überzeugen, daß der Fremde und er ein und dieselbe Person seien. Sobald ich darüber im klaren war, brauchte ich ihm nicht länger zu folgen, sondern ließ ihn in seine Klinik gehen. Aber ich war nicht wenig verdutzt über die ganze Situation. Gab Louis Gravenhag Friis Geld? Ja. Von anderer Seite konnte es nicht kommen. Aber warum? War seine geschiedene Frau, Merete, in die Sache verwickelt? Ich hatte von allen Seiten gehört, daß Dr. Gravenhag nur mit äußerster Kälte und Zurückhaltung von ihr sprach. Und weiter: wußte Dr. Gravenhag, daß Baron Friis Merete demnächst entführen wollte? War es vielleicht mit seinem Wissen … nein, hier stieß ich auf eine Reihe rätselhafter Umstände, die mich verwirrten.

In den letzten Tagen vor ihrer Abreise wurde es sogar den Mädchen in der Pension klar, daß etwas gärte. Die beiden Liebenden brauchten sich nicht mehr Mühe zu geben, etwas zu verbergen, denn alle flüsterten bereits davon, daß sie zusammen durchbrennen wollten, doch war es, als ob sie ihr Vorhaben mit romantischer Geheimnistuerei umgeben wollten. Ich mußte in diesen Tagen meinen ganzen Scharfsinn aufbieten, um den Faden nicht zu verlieren. Bereits am 7. abends hatte ich erfahren, daß Marcus Friis Karten für das Nordseebad Skagen gelöst hatte, wo das Paar sich vor Anfang der Saison ja recht ungestört aufhalten konnte.

Ich selbst hatte meine Rechnung in der Pension verlangt und meine Abreise nach Hamburg vorbereitet. Man glaubt vielleicht, daß es meine Absicht war, den Liebenden nach Skagen zu folgen. Weit gefehlt. Andererseits aber war es natürlich auch nicht meine Absicht, nach Hamburg zu reisen. Es war mir klar geworden, daß der Schwerpunkt der Ereignisse bereits damals bei Dr. Gravenhag lag, und ohne das Vorhaben der Liebenden aus dem Auge zu lassen, war ich auch Dr. Gravenhags Unternehmungen gefolgt.

Am 6. Mai abends war Dr. Gravenhag in Gentofte, einem kleinen idyllischen Fleck in der Nähe von Kopenhagen, gewesen, wo er eine möblierte Villa mietete, die sehr einsam in einem öden, verwilderten Garten lag. Dr. Gravenhag war verkleidet, genau wie an jenem Abend in dem Gartenrestaurant.

Am 8. reisten Merete und Marcus Friis nach Skagen.

Am 9. morgens bestieg ich den Zug nach Hamburg, aber ich verließ ihn bereits wieder in Roskilde und nahm ein Auto nach Gentofte, wo ich im Wirtshaus einkehrte.


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