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XXXII.

Jetzt kommt der seltsame letzte Tag in Kopenhagen. Wenn ich die Berichte der Zeitungen lese, begreife ich, daß die Polizei sich kläglich festrannte, weil ihr der einzige Anhaltspunkt fehlte, der nötig war, um Klarheit in die Sache zu bringen. Alle äußeren Umstände sind in den Polizeiberichten richtig angeführt, und die Detektive haben sicher den Versuch gemacht, von diesen Tatsachen aus so tief in die Sache einzudringen wie möglich. Sie hätten aber besser diese Dinge unbeachtet lassen und sich statt dessen in einige Nebenumstände vertiefen sollen. Frau Meretens Stellung zur Sache ist nie gründlich erforscht worden – man wußte nur, daß sie Kopenhagen verlassen hatte und nach Berlin gereist sei. Hätte man diese Auskunft nur etwas angezweifelt und die Sache näher untersucht, würde man vielleicht erfahren haben, wo sie sich aufgehalten hatte, seit sie die Pension verließ bis zum Tage vor dem Morde. Ihr Signalement hätte man leicht bekommen können. Dann hätte man erfahren, daß sie am 16. Juni, am Tage vor dem Morde, keineswegs sich in Berlin aufhielt, sondern im »Hotel Prinz« in Roskilde.

Dort wohnte sie allein.

Tags darauf reiste sie mit Marcus Friis nach Berlin.

In den Zeitungen lese ich, daß Dr. Gravenhag – nota bene der wirkliche Dr. Gravenhag, nicht der verkleidete – abends in einem kleinen Gartenrestaurant mit seinem Freunde Professor Hektor zusammentrifft. Ich war Zeuge dieser Begegnung, ich saß ihnen gegenüber und trank ein Glas Bier. Dr. Gravenhag trug den dunklen Sommerüberzieher, der später bei den Nachforschungen der Polizei solch große Rolle spielte. Ich habe scharfe Augen. Durch die helle Sommernacht konnte ich sehen, daß Dr. Gravenhag die Rolle eines Lebensmüden spielte, während Professor Hektor ihm zuzureden versuchte. In jenem Augenblick bewunderte ich Dr. Gravenhags Schauspieltalent, und ich tue es noch jetzt. Schließlich spazierten sie zusammen längs des Strandweges, und mir ahnte, daß sie nach Dr. Gravenhags Wohnung gingen. Ich wußte jetzt folgendes:

Frau Merete Gravenhag und Marcus Friis hatten den vorhergehenden Abend die Villa Lindenhof in einem Auto verlassen und sich direkt zum Hotel Prinz in Roskilde begeben. Von Kopenhagen aus war telephonisch ein Einzelzimmer für eine Dame bestellt worden. Marcus Friis begleitet seine Dame ins Hotel, wo sie zusammen eine Tasse Tee nehmen. Das Auto wartet mittlerweile draußen. Darauf geht Frau Merete auf ihr Zimmer, und Marcus Friis fährt mit dem Auto nach Kopenhagen. Frau Merete hat sich natürlich unter einem falschen Namen im Fremdenbuch eingeschrieben, es hat mich nicht interessiert, welcher es war. Es hat auch keine Bedeutung für die Sache, die Polizei kann ihn im Fremdenbuch unterm 15. Juni finden. Ich habe meine Kenntnisse dieser Reise vom Chauffeur, den ich in Kopenhagen aufsuchte. Was Marcus Friis betrifft, so nehme ich an, daß er nachts zwischen ein und zwei Uhr zur Hauptstadt zurückkehrte.

Auch in dieser Nacht verbringt Dr. Gravenhag einige Stunden im Café Dybhavn. Ich stelle fest, daß er sich gegen ein Uhr dorthin begibt, doch folge ich ihm nicht, denn erstens langweilt der Ort mich unbeschreiblich, und zweitens wollte ich den Chauffeur aufspüren, der, wie ich wußte, zur Stadt zurückgekehrt war. Die Erklärung, die er mir über die Reise des Paares gab, setzte mich insofern in Staunen, als ich nicht erwartet hatte, daß Marcus Friis nach Kopenhagen zurückkehren würde. Ich hatte mir eingebildet, daß alle drei etwa in Roskilde Zusammentreffen würden. Daraus können Sie ersehen, daß ich unmittelbar vor dem Hauptmoment des Dramas nicht ahnte, was eigentlich vorgehen sollte.

Wie ich erwartet hatte, verließ Dr. Gravenhag die kleine Wirtschaft morgens gegen vier Uhr. Ich folgte ihm wie ein Schatten nach seiner Wohnung. Es dauerte wie gewöhnlich einige Stunden, bevor er wieder herauskam, statt aber als der schwarzbärtige Amerikaner aufzutreten, zeigte er sich jetzt in seiner wirklichen Gestalt. Es war ein regnerischer und nebliger Morgen, vielleicht aber war es nicht nur deswegen, daß er den Rockkragen bis an die Ohren hochgeschlagen und den Hutrand tief in die Stirn gedrückt hatte. Jetzt, dachte ich, ist alles bereit, was soll nun geschehen? Hatte ich nicht ein interessantes Schauspiel vor mir? Frau Merete wartet in Roskilde, Marcus Friis ist im Gewimmel der Großstadt verschwunden, und Dr. Gravenhag geht in der nebligen Morgenstunde von Wirtschaft zu Wirtschaft in der Vorstadt.

Wenn Dr. Gravenhag sich wirklich den Anschein geben wollte, daß er ein gejagter Mensch war, hätte er nichts Besseres tun können, als von Lokal zu Lokal zu streifen, wie er es den ganzen Tag über tat. Ich glaube, daß er es direkt darauf anlegte, von seinen alten Freunden gesehen zu werden. Doch glückte es ihm erst spät am Abend, als Professor Hektor auf ihn stieß. Sie gingen schließlich zusammen zu Dr. Gravenhags Wohnung und tranken dort jenen Whisky, der anfangs der Polizei so viel zu schaffen machte.

Ich sah Professor Hektor gegen zwölf Uhr aus dem Hause kommen. Ich sah auch Dr. Gravenhag gegen ein Uhr herauskommen, in dem dunklen Sommerüberzieher. Großer Gott, wenn ich bedenke, was in der Zwischenzeit geschehen war!


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