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XXXIV.

Ich ließ sie reisen. Was konnte ich anderes tun? Eine Weile ging ich auf dem Bahnhof auf und nieder, erschöpft von einer enttäuschten Stimmung: Konnte es möglich sein, daß dies alles war? Nur eine gewöhnliche Liebesintrige? Vielleicht, dachte ich bei mir, bat Dr. Gravenhag seine Frau doch geliebt, vielleicht ist er eifersüchtig geworden, weil sie sich den anderen erwählt hat. Dann ist kein Verbrechen mit im Spiel gewesen, sondern Marcus Friis war wirklich krank und hatte ärztliche Behandlung nötig, in der einsamen Villa draußen in Gentofte. Und um von dem Liebhaber seiner Frau nicht erkannt zu werden, hat Dr. Gravenhag sich für die Krankenbesuche maskiert, bei denen die getrennten Ehegatten sich wiedergefunden haben. Jetzt sind sie im Begriff, eine neue Hochzeitsreise zu machen, während Marcus Friis den Laufpaß bekommen hat und verlassen in Kopenhagen herumirrt, um schließlich sein Leben als bescheidener Postangestellter weiterzuführen.

Im Grunde genommen konnten ja alle Geschehnisse leicht von diesem Gesichtspunkt aus erklärt werden. Wenn es sich um Liebesangelegenheiten handelt, erfinden Menschen ja immer eine Menge Schwierigkeiten, Intrigen und Verwicklungen, weil sie meinen, daß ihre Liebe unendlich wichtig ist und alle Welt interessiert. Sie glauben, daß sie sich vor der grenzenlosen Neugierde in Dunkel hüllen müssen. Als ich zur Stadt zurückfuhr, verhöhnte ich mich selbst, weil ich auf diese Komödie hereingefallen war. Dennoch aber blieb ein Zweifel in meiner Seele. War die Intrige wirklich so naiv? Ich fuhr im schnellsten Tempo zurück. Bei mehreren Wegkreuzungen stand Landpolizei und notierte die ungesetzliche Fahrt. Mich kümmerte es nicht, denn es war ja nicht mein Auto.

Nach Kopenhagen zurückgekehrt, lieferte ich das Auto ab und kehrte im Hotel Bristol ein, wohin ich mein Gepäck schon geschickt hatte. Ich belegte ein großes Zimmer zum Rathausplatz hinaus, nahm ein Bad und kleidete mich um. Inzwischen war die Uhr halb eins geworden, und ich ging ins Restaurant hinunter, um zu essen. Mir war zumute, als ob ich von einer langen Reise zurückgekehrt sei, obgleich ich mich ja in unmittelbarer Nähe der Stadt aufgehalten hatte. Ich fühlte mich wie befreit, lehnte mich in den Stuhl zurück und machte meine Bestellung beim Ober, der mich wiedererkennend freundlichst begrüßt hatte.

»Was gibt's Neues?« fragte ich ihn.

»Ist es nicht entsetzlich,« begann er, »Gott, was man alles erlebt!« So fing er immer an, wenn es sich auch nur um eine harmlose Klatschgeschichte handelte.

»Wie heißt sie?« fragte ich darum, denn ich dachte mir gleich, daß es etwas Pikantes sei.

Der Ober zog die Augenbrauen hoch und überließ den Bestellzettel einem seiner Untergebenen.

»Glauben Sie auch, daß ein Frauenzimmer mit im Spiel ist?«

»Ich weiß gar nicht, um was es sich handelt,« sagte ich gleichgültig.

»Haben Sie nicht von dem Mord gehört?« fragte er erstaunt.

»Mord – nein.«

»Die ganze Stadt spricht ja von nichts anderem. Hören Sie nur, wie die Zeitungsverkäufer es auf den Straßen ausrufen.«

Im selben Augenblick kam ein Zeitungsverkäufer mit der Mittagszeitung ins Lokal. Quer über der ganzen ersten Seite stand mit Riesenbuchstaben:

Der bekannte Dr. Gravenhag ist heute nacht in seiner Wohnung ermordet worden.

Ich kann wohl sagen, daß von allen Stößen, die in einem ereignisreichen Leben gegen mein Nervensystem gerichtet worden waren, keiner furchtbarer war als dieser. Vielleicht starrte ich eine Sekunde oder zwei dumm auf die Zeitung, die ich zwischen meinen Händen hielt. Vielleicht bebte das Papier ein wenig. Jedenfalls aber dauerte es nur einen Augenblick, dann breitete ich die Zeitung vor mir aus und winkte dem Kellner, zu gehen.

Was ich über den Mord von Dr. Gravenhag las, klang höchst sonderbar. Nach vier Uhr war er ermordet worden, stand da. Zwischen vier und sechs. Also während er in meinem Auto saß und nach Roskilde fuhr … Ich las und las … Sein alter Freund Professor Hektor war der erste, der die Leiche untersucht hatte … das Kennzeichen … Du großer Gott, dachte ich, war ich heute nacht blind? Habe ich denn nicht Dr. Gravenhag gefahren? War es vielleicht Marcus Friis? Diesen Gedanken aber schob ich gleich wieder von mir.

Während einiger Minuten konzentrierte ich meine ganze Gedankenkraft auf alles, was während der letzten Monate passiert war, verglich die Einzelheiten miteinander, unterzog die Leidenschaften und Eigentümlichkeiten der handelnden Personen einer genauen Kritik – und als Endresultat dieser Ueberlegungen löste sich die Spannung meines Gehirnes, und ich sah plötzlich alles ganz klar.

Plötzlich begriff ich.

Ich dachte an die bleiche Frau Merete mit dem kalten, spähenden Blick, und da begriff ich, daß jetzt meine Zeit gekommen sei. Inzwischen war die Uhr zwei geworden.


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