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X.

Der Polizeiarzt hatte das Gesicht des Toten nicht berührt, noch den Versuch gemacht, seine Stellung zu ändern, doch hatte er die furchtbare Wunde genau mit einer Lupe untersucht. Jetzt klappte er die Lupe zusammen und legte dem Kommissar einen sachlichen und etwas dozierenden Bericht ab. So war Dr. Hermansen, bei der Arbeit ausschließlich Arzt, er schien ganz vergessen zu haben, daß es sein Freund war, der dort tot im Stuhl saß.

»Es ist nicht unmöglich,« sagte er, »daß ein Schuß, aus so großer Nähe abgegeben, solch verheerende Wirkung zur Folge haben kann, leicht hätte der ganze Kopf zerschmettert werden können. Ich habe die Eingangsöffnung der Kugel gefunden, eine nähere Untersuchung wird sicher an den Tag bringen, warum das Gesicht so furchtbar entstellt worden ist.«

Der Polizeikommissar unterbrach ihn mit einer Frage:

»Kann eine Kugel, die einen bestimmten Punkt im Kopf trifft, solchen Zusammenbruch des Schädels zur Folge haben?«

»Ja, nur ganz wenige Punkte kommen hierbei in Betracht.«

»Können Sie durch die Beschaffenheit der Wunde feststellen, ob hier ein Selbstmord oder ein Verbrechen vorliegt?«

»Mit Bestimmtheit feststellen kann ich es nicht, doch kann ich sagen, daß die Richtung des Projektils es wahrscheinlich macht, daß ein anderer als der Tote den Schuß abgegeben hat, obgleich die Möglichkeit eines Selbstmordes auch nicht ausgeschlossen ist. Der Schuß ist aus allernächster Nähe abgegeben. Ich habe aber etwas anderes in dem Gesicht des Toten gesehen, das mir den Verdacht eines Verbrechens wahrscheinlich erscheinen läßt.«

Der Arzt schwenkte die Lupe, die er in der Hand hielt, gedankenvoll hin und her und fragte darauf:

»Ist es eine bekannte Tatsache, Herr Fenneslew, daß Menschen, die den entscheidenden und verzweifelten Entschluß gefaßt haben, sich das Leben zu nehmen, vor dem Anblick der Waffe erschrecken und sie zu verbergen suchen?«

»Ich weiß nicht, was Sie mit dieser Frage bezwecken. Wenn jemand den Entschluß gefaßt hat, sich das Leben zu nehmen, wird er kaum vor der Waffe erschrecken, jedenfalls Dr. Gravenhag nicht, der Nerven von Eisen hatte.«

»Das meine ich auch. Und dennoch ist der tödliche Schuß aus einem Seidentuch abgegeben worden, ich sehe deutliche Spuren davon in der Wunde. Der Revolver ist in dem Augenblick, wo er abgefeuert wurde, von einem seidenen Tuch verhüllt gewesen.«

Fenneslew sah den Arzt verblüfft an.

»Sind Sie dessen sicher?«

»Vollkommen sicher,« antwortete Dr. Hermansen, »ich glaube sogar behaupten zu können, daß das Taschentuch blaukariert war.«

»Aber das ist ja entscheidend,« rief der Kommissar, »vollkommen entscheidend. Dr. Gravenhag ist heute nacht von einem Unbekannten ermordet worden.«

Er zeigte aufgeregt auf den Fußboden ringsumher.

»Wo ist das Taschentuch?« fragte er. »Wenn er sich selbst erschossen hätte, müßte ja das durchschossene Taschentuch hier sein, aber es ist nirgends zu finden.«

Der Arzt zuckte die Achseln, indem er antwortete:

»Dergleichen Schlußfolgerungen gehören nicht zu meinem Amt, das ist Ihre Sache.«

Der Polizeikommissar ging zum Fenster, zog die Gardinen zurück und löschte das elektrische Licht. Das Zimmer lag jetzt in vollem Sonnenschein, und in dieser Beleuchtung wirkte die Gestalt im Stuhl doppelt unheimlich.

Fenneslew stand eine Weile und betrachtete das Gesicht schweigend. Darauf musterte er die Kleidung des Toten.

»Als ich Gravenhag das letztemal im Restaurant sah,« murmelte er vor sich hin, »trug er auch diesen braunen Anzug. Ob er ihn wohl die ganze Zeit getragen hat? Aehnlich sieht es ihm nicht, denn er liebte Abwechslung in seiner Toilette und schwärmte für stilvolle Eleganz.«

»Ich weiß,« sagte der Arzt, »er war sogar ein wenig geckenhaft – betrachten Sie das feine Leinen der Hemdbrust mit den Diamantknöpfen … den Diamantknöpfen,« wiederholte er und blickte den Kommissar an, »also liegt …«

»Kein Raubmord vor,« schloß Fenneslew, »bis auf weiteres wollen wir es annehmen.«

»Und sehen Sie diese eleganten Schuhe und seidenen Strümpfe,« fuhr der Arzt fort. »Und stets ein Taschentuch in der Brusttasche.«

Plötzlich zeigte er auf das Taschentuch.

»Ein blauseidenes Tuch,« sagte er.

Fenneslew zog es aus der Tasche und breitete es aus. Es war heil. Enttäuscht steckte er es wieder in die Tasche.

»Uebrigens war es nicht anzunehmen, daß der Mörder das Indizium wieder an seinen Platz legen würde.« Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke und er betrachtete das Taschentuch genau.

»Ich werde es behalten,« sagte er, »es kann uns später noch von Nutzen sein.«

Darauf nahm er von neuem den Brief vom Schreibtisch.

»Auch dieser Brief ist ein Beweis, daß ein Verbrechen vorliegt. Es ist ein unvollendeter Brief. Sie kennen ja die Handschrift des Verstorbenen. Ist sie echt?«

»Ja,« antwortete Dr. Hermansen, »es ist Dr. Gravenhags Schrift, steil und fest, ohne eine Spur von Nervosität.«

»Der Mörder hat ihn unterbrochen,« sagte Fenneslew, »hören Sie, was er geschrieben hat:

›Lieber Hagbarth,‹ schreibt er, ›ich habe in der letzten Zeit Sorgen gehabt, die mein Leben aus dem Gleichgewicht brachten. Ich werde versuchen, durch eine Reise ins Ausland meine Ruhe wiederzufinden, und bitte Dich, während meiner Abwesenheit …‹

»Hier ist er unterbrochen worden,« sagte Fenneslew, »aber nicht plötzlich, die Feder ist ihm nicht aus der Hand geschlagen. Eher hat es den Anschein, als ob jemand ins Zimmer gekommen ist, den er erwartet hat, denn er hat ganz ruhig die Feder auf das Tintenfaß gelegt, um den Eintretenden zu begrüßen. Es war der Mörder,« schloß Fenneslew, indem er auf die Tür zeigte.

Beide Herren blickten in die Richtung, und der Arzt konnte eine gewisse Gemütsbewegung nicht unterdrücken. Er starrte auf die Tür, als erwarte er, daß sie sich von neuem öffnen und den Unbekannten hereinlassen würde. Doch sie blieb verschlossen.


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