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VII.

»Haben Sie die ganze Zeit mit mir geredet?«

»Aber natürlich,« sagte ich und tat verwundert.

Dr. Gravenhag winkte Elias, er wollte bezahlen. Und während er mit ihm abrechnete, sagte er zu mir gewandt:

»Ich spreche nie mit Menschen, die ich nicht kenne, und lasse mich von Fremden auch nicht anreden. Aber,« fuhr er fort, »Sie bemerkten etwas, das meine Aufmerksamkeit geweckt hat.«

Er stand jetzt vor mir und sein Ton hatte etwas geradezu wild Drohendes.

»Sie bemerkten, daß Sie Ihre Staffelei im Garten der Villa aufzustellen wünschten.«

»Der Garten ist sehr malerisch,« antwortete ich, »und mit Ihrer Erlaubnis …«

»Ich verbiete es Ihnen aufs strengste,« sagte er, »und ich hoffe, daß Sie mein Verbot nicht übertreten werden.«

»Haben Sie Fußangeln ausgelegt?«

»Wenn Sie den Versuch machen, in den Garten einzudringen, wird es Ihnen schlecht bekommen,« sagte er kurz und bestimmt.

»Schießen Sie? Sie sind ja in Amerika gewesen.«

Diese Bemerkung schien Dr. Gravenhag noch mehr zu irritieren, aber er erwiderte nichts, sondern nahm seinen Hut und ging. Der alte Elias hatte der Szene beigewohnt und meinte, jetzt auch ein Wort dazu beitragen zu müssen.

»Diese Amerikaner glauben, daß die ganze Welt ihnen gehört. Was kann es dem alten Garten schaden, wenn Sie darin malen? Es ist ja nie ein Mensch da. Solch seltsame Bewohner haben wir noch nie in der Villa gehabt, das sage ich rein heraus. Man sollte kaum glauben, daß es bessere Leute in der Sommerfrische sind. Sie gehen nie in den Garten, sondern leben immer bei geschlossenen Fenstern und vorgezogenen Gardinen. Es ist, als ob sie aussätzig wären oder niemandem ins Gesicht zu sehen wagen. Von dem Herrn habe ich noch keinen Schimmer zu sehen bekommen. Die Frau habe ich hin und wieder mal durch die Türspalte gesehen, denn sie öffnet die Tür nie ganz, steckt nur die Hand heraus, wenn sie etwas haben will.«

»Will sie denn kein Dienstpersonal haben?« fragte ich.

»Es scheint nicht so,« antwortete Elias, »sie hat wohl Angst, daß jemand sie zu sehen kriegt. Der Herr soll krank sein.«

»Liegt er zu Bett?«

»Das nicht. Aber er kommt nie aus dem Schlafzimmer heraus. Er geht dort drinnen auf und nieder, auf und nieder. Ich kann seine Schritte hören, wenn ich drüben bin. Die hören nie auf. Es muß sehr schlimm um ihn stehen, oder er ist sehr aufgeregt.«

Der alte Elias bekam plötzlich einen nachdenklichen Ausdruck in seinen erloschenen Augen, und er fuhr flüsternd, fast vertraulich fort, indem er zur Decke zeigte:

»Ich erinnere mich solcher Schritte vor mehreren Jahren. Da wohnte ein Mann dort oben in dem großen Zimmer. Zwei Tage und Nächte hörten wir seine Schritte ununterbrochen, vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Hin und wieder blieb er einige Minuten am Fenster stehen, dann aber fing er wieder an. Ich lag die letzte Nacht wach und hörte auf ihn. Es war so seltsam, diese Schritte in dem leeren Hause zu hören, denn wir hatten zufällig keine anderen Gäste. Es war Winter. Gegen Morgen aber wurde alles still. Ich lag und lauschte und dachte, ob er nicht wieder anfangen würde, aber nein, alles blieb still. Als wir vormittags in sein Zimmer kamen, war er tot. Er hatte Gift genommen, es mag so um fünf Uhr gewesen sein, der Mann wollte keinen neuen Tag mehr erleben.«

»Warum nahm er sich das Leben?« fragte ich.

Der alte Elias schüttelte nur den Kopf, als ob das Leben und Treiben der Menschen ihm unverständlich sei.

Während ich mich so mit Elias unterhielt, war die Uhr halb zehn geworden. Die ganze Zeit hatte ich durch das Fenster den Weg im Auge behalten. Dr. Gravenhag aber hatte die Villa bisher noch nicht verlassen. Jetzt war es inzwischen so dunkel geworden, daß es keinen Zweck mehr hatte, hier zu sitzen und durch die Dunkelheit zu starren. Ich ging auf mein Zimmer.

Während ich dies erzähle, kann ich mich eines gewissen Schauders beim Gedanken an jenen Abend nicht erwehren. In Wirklichkeit ahnte ich ja noch nicht den Zusammenhang des furchtbaren Dramas, das drüben in der Villa vorbereitet wurde. Ich erinnere mich noch, wie ich dasaß und durch die Bäume zu der grauen Steinmauer hinüberblickte, die mit der zunehmenden Dunkelheit immer undeutlicher wurde – und wie ich der Wahrheit näherzukommen versuchte, indem ich die verschiedenen seltsamen Tatsachen, denen ich gegenübergestellt worden war, miteinander verglich. Da waren die drei Figuren: die Frau, der Liebhaber und der Mann; ich stellte sie einander gegenüber wie eine rein mathematische Aufgabe, konnte aber den inneren Zusammenhang des Problems nicht lösen.

Einige rein äußere Umstände waren klar genug: das liebende Paar wollte sich vor der Welt verbergen. Aber nicht, um ihre Liebe zu verheimlichen, denn dazu hatten sie ja keine Ursache. Ihre Absicht war, vor der Welt zu verbergen, daß sie sich auf diesem Fleck der Erde aufhielten. Warum aber waren sie überhaupt hier, in diesem baufälligen Hause, in diesem verwilderten Garten? Warum nicht in Skagen, warum nicht in Kopenhagen? Um den Mann zu treffen? Nein, den konnten sie ja treffen, wo sie wollten. Außerdem war er maskiert? Warum war er maskiert? Es hätte hier nicht das geringste Aufsehen geweckt, wenn er als Dr. Gravenhag aufgetreten wäre, weil keiner ihn kannte. Hatte er sich für die Bewohner der Villa maskiert? Nicht für Frau Merete. Es war undenkbar, daß sie ihn nicht trotzdem erkannte. Für Marcus Friis? Ich war nicht sicher, ob Marcus Friis wußte, daß er Frau Meretens Mann vor sich hatte. Darüber aber war ich mir klar, daß, wenn Marcus Friis es nicht wußte, ich auf eine schicksalsschwere Tragödie schließen konnte. Das Ganze, der geheimnisvolle Aufenthalt in der Villa, die Maskierung usw. konnten in Szene gesetzt sein, um die Spuren von etwas, das kommen sollte, zu verbergen. Und eben diesem Kommenden starrte ich entgegen, ich ahnte es in der Dunkelheit über dem Hause, es flüsterte in den Baumwipfeln, es prickelte in meinen Nerven. Je weiter die Zeit vorschritt, desto mehr wurde ich von der Gewißheit überwältigt, daß etwas Schreckliches geschehen würde. Und diese Gewißheit wurde stärker und stärker, wie der Fluß an sausender Geschwindigkeit zunimmt, wenn er sich dem Wasserfall nähert. Damit nichts an dieser Stimmung fehlen sollte, bekam das erwartungsvolle Grausen auch noch einen Einschlag ins Groteske: drüben in der Villa wurde Klavier gespielt! Nie werde ich das Erstaunen jenes Abends vergessen, als ich darauf wartete, daß Dr. Gravenhag das totenstille Haus verlassen würde, und die Stille plötzlich von Klavierspiel unterbrochen wurde. Es war »Irmelin Rose«, in Marschtempo auf einem elenden, verstimmten Instrument gespielt, von jemandem, der Anfänger zu sein schien. Solange ich lebe, werde ich dieses abstoßende Spiel nicht vergessen. Ich wußte, daß es von Frau Merete herrührte. Ich hatte sie dieses Meisterwerk schon früher in der Pension ausführen hören, eines Vormittags, als ich zufällig am Musikzimmer vorbeigegangen war. Sie saß am Flügel und lachte mir zu. Es gehörte zu ihrem Typ, daß sie nichts konnte, was es auch sein mochte. Ein Typ wie sie vegetiert nur in ihrer eigenen unnützen Schönheit. Von Kunst sehen solche Damen nichts außer Toiletten, sie lesen nichts außer Todesanzeigen, aber sie haben einen übermenschlichen Hang zur Langeweile, und in dieser Leere entwickelt ihr Verstand einen phänomenalen Einfluß auf Menschen, die ihrem Zweck dienen, Menschen, die ihnen übrigens alle ganz gleichgültig sind.

Von da ab hörte ich jeden Abend auf meinem Beobachtungsposten am Fenster, wie »Irmelin Rose« gespielt wurde. Jeden Abend genau von zehn bis zwanzig Minuten nach zehn Uhr.


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