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Ulysses. Die Zeit trägt einen Schnappsack mit,
In den Almosen für Vergessenheit
Sie steckt. – Beharrlichkeit, mein guter Freund,
Erhält die Ehre blank.
Troilus und Cressida.
Ich habe mich gehütet – was zu Anfang dieser Erzählung leicht gewesen wäre – aus dem Geheimniß der Namen und Personen eine Quelle des allgemeinen Interesses abzuleiten. So wie der Leser in Charles Spencer auf einen Blick Sidney Morton erkannt hat, so wird er auch in Philipp de Vaudemont – in dem Fremden, der Fanny rettete – sogleich den Helden meiner Erzählung erkannt haben; doch da keiner von diesen jungen Männern ein besseres Recht an den aufgegebenen als an dem angenommenen Namen hat, so wird es einfacher und passender sein, sie mit den Namen zu benennen, unter welchen sie jetzt in der Welt bekannt waren. Philipp de Vaudemont war kaum noch dasselbe Wesen, wie Philipp Morton. Bei dem kurzen Besuche, den er dem älteren Gawtrey abgestattet, als er Fanny seiner Fürsorge übergeben, hatte er keinen Namen genannt; den, welchen er jetzt annahm, als er am nächsten Abend in des Mannes Haus zurückkehrte, hörte der Greis zum erstenmal. Da Simon wieder in seine gewöhnliche Gefühllosigkeit versunken war, so sprach er keine Verwunderung darüber aus, daß ein Franzose so gut mit der englischen Sprache bekannt war – er bemerkte kaum, daß der Name französisch war. Simons Alter schien ihn täglich mehr und mehr jenem Zustande näher zu bringen, was das Leben ein bloßer Mechanismus ist, und die Seele, die sich zum Scheiden vorbereitet, nicht mehr auf das Gebäude achtet, welches schweigend und vernachlässigt in Staub zerfällt. Vaudemont kam ohne Gepäck, denn er hatte noch ein Zimmer in London, und ohne Diener. Das einzige Pferd, welches er mitbrachte, wurde in dem Stalle eines nahen Gasthauses untergebracht, und wie alle Soldaten, schien er mehr für sein Pferd als für sich selbst zu sorgen. Es war nur eine Magd im Hause, welche die gröberen Arbeiten verrichtete, und die frugale Kost war für den einfachen und abgehärteten Abenteurer genügend.
Mit freudestrahlendem Gesicht faßte Fanny seine Hand und führte ihn in sein Zimmer. Mit jenem weiblichen Instinkte, der sie nie verließ, hatte das arme Kind sich den ganzen Tag bemüht, das Zimmer so bequem und zierlich als möglich einzurichten. Von ihrem kleinen Schatze hatte sie so viel genommen, um Einkäufe in der Vorstadt zu machen, und bei den Blumen auf dem Tische und dem Feuer im Kamin sah das Zimmer ganz heiter aus.
Sie beobachtete ihn, als er sich umsah, und fühlte sich gekränkt, als er nicht die Bewunderung äußerte, die sie erwartete. Endlich aufgebracht über die Gleichgültigkeit, die er stets gegen äußere Bequemlichkeit zu zeigen gewohnt war, zupfte sie ihn am Aermel und sagte: »Warum redest du nicht? Ist es nicht hübsch? – Fanny hat ihr Möglichstes gethan.«
»Und ich danke Fanny tausendmal! Es ist Alles so, wie ich es nur wünschen konnte.«
»Es ist noch ein anderes Zimmer da, größer als dieß, aber das böse Weib, welches uns beraubte, schlief darin, und überdieß sagtest du, du liebtest den Kirchhof. Sieh'!« und sie öffnete das Fenster und deutet auf den Kirchthurm, der dunkel gegen den Abendhimmel abstach.
»Dieß ist besser als Alles!« sagte Vaudemont und blickte in stiller Träumerei, worin Fanny ihn nicht störte, aus dem Fenster.
Und nun war er eingerichtet. Nach einer so wilden, aufgeregten und wechselnden Laufbahn verweilte der Abenteurer in einem ruhigen und bescheidenen Winkel! Aber Stille ist nicht Ruhe – Einsamkeit ist nicht Zufriedenheit. Oft blickte er Morgens und Abends auf die Stelle hin, wo seiner Mutter Herz, der Liebe und des Wehes unbewußt, moderte, und die unwilligen und bitteren Gefühle des verletzten Ausgestoßenen und des Sohnes, der den Namen seiner Mutter nicht rechtfertigen konnte, verscheuchten die unterdrückte und milde Schwermuth, in welche die Zeit gewöhnlich die Trauer um die Todten verwandelt, und womit die meisten von uns an die ferne Vergangenheit und die einst so freudige Kindheit denken.
In der Brust dieses Mannes lagen, unter seiner äußern Ruhe verborgen, jene Erinnerungen und jene Bestrebungen, die so stark sind, wie die Leidenschaften. In seinen früheren Jahren, wo er sich hatte anstrengen müssen, um sein Leben zu fristen, hatte er keine Zeit gefunden, genau und tief über die Beraubung nachzudenken, noch über die Schmach, die auf dem Namen seiner Mutter lastete, und die zuerst seinen Morgen in Nacht verwandelt hatte. Sein Rachegefühl gegen die Beauforts war freilich eine lebhafte, aber wechselvolle und ungeregelte Leidenschaft gewesen. Sie stand in genauem Verhältniß zu jenen seltenen und romantischen Ereignissen, welche die Phantasie nicht erfinden kann, und welche die Erzählung mit Mißtrauen aus dem großen Vorrathshause des wirklichen Lebens nimmt. Er war die Leiter des geselligen Lebens hinaufgestiegen – und Alles, was er in seiner Kindheit verloren – Alles, was die Räuber seiner Erbschaft gewonnen – die Größe und die Macht des Reichthums – vor allen Dingen das stündliche und ruhige Gluck eines makellosen Namens, wurde ihm fühlbar und deutlich. Er hatte Eugenie geliebt, wie ein Knabe zum erstenmal ein vollendetes Weib liebt. Er hielt sie für so gebildet – für so sanft – für so reich begabt mit den Gefühlen, die einem höheren Wesen angehören, mit einer ewigen Erinnerung an den Schutzengel, der ihm erschienen, als er an dem dunklen Abgrunde gestanden. Sie war die Erste gewesen, die ihn mit seinem Schicksal ausgesöhnt – die Erste, die das wilde Thier in seiner Brust gezähmt – es war der junge Löwe, durch Una's Augen bezaubert. Seine Geschichte war bei Lord Lilburne kurz und wahr erzählt worden. Ungeachtet seines Stolzes, der sich empörte, einer andern Person, und noch dazu einem Weibe so viel schuldig zu sein – der sich gegen eine Verkleidung empörte, die ihn allein und plötzlich vor der Entdeckung der Vergangenheit und vor den Schrecken der Zukunft schützte – hatte er sich ihr, der Sanften und Weisen, hingegeben, in deren Urtheil er keinen Zweifel setzen konnte, und die skandalösen Lügen, die der Bediente verbreitete, dessen Verschwiegenheit Eugenie lieber ihre eigene Ehre, als das Leben eines Andern anvertraut hatte, hatten Philipp, wie Liancourt richtig bemerkt, keine andere Wahl gelassen, als die, welche Madame de Merville zu ihrem Glück und zur Rettung ihres guten Namens vorzog. Dann war ein kurzer Zeitraum gefolgt – die Feiertage des Lebens – ein Zeitraum der jungen Hoffnung und Leidenschaft, des Glückes und der Wonne, der mit ihrem Tode schloß, und ihn wieder einsam in der Welt zurückließ.
Als er aus dem Kummer erwachte, der auf Eugeniens Tod folgte, sah er sich plötzlich unter den fremden Gesichtern und den aufregenden Scenen eines orientalischen Hofes und wendete sich mit strenger Verachtung vom Vergnügen ab, als von einer Untreue gegen die Todte. Allmählig bemächtigte sich seiner der Ehrgeiz – sein Geist erstarkte, wie seine Wange sich bräunte unter jener glühenden Sonne – sein abgehärteter Körper, seine früh geweckte Thatkraft, seine Verachtung der Gefahr machten ihn zu einem tapfern und geschickten Soldaten. Er erwarb sich Ruf und Rang. Doch als die Zeit verging, nahm sein Ehrgeiz einen höheren Flug – seine Sphäre war zu beschränkt; sein unruhiges Temperament konnte die langen Zeiträume des Müßigganges nicht ertragen, die zwischen der Handlung eintraten: er kehrte nach Frankreich zurück; sein Ruf, Liancourts Freundschaft und Eugeniens Verwandte, die ihm dankbar waren, weil er ihnen so großmüthig den größten Theil ihres Vermächtnisses abgetreten, eröffneten ihm eine neue Laufbahn, die aber schmerzlich und peinigend für ihn war. Am indischen Hofe war nicht nach seiner Geburt gefragt worden, ein Abenteurer war dem andern gleich. Aber in Paris regte ein Mann, der zu steigen versuchte, die Ironie des Witzes und alle Ränke der Parteien an, und was vermögen Muth und Tapferkeit in der feinen Gesellschaft gegen die Waffen des Spottes? In dem civilisirten Lande nagten wieder alle die Leidenschaften an seinem Herzen, die aus gedemüthigter Selbstliebe und vereiteltem Streben hervorgehen. Er sah also, je mehr er aus seiner Dunkelheit hervorzutreten bemüht war, desto genauer forschte man nach seiner wahren Herkunft, und Stolz und Ehrgeiz wurden beständig verwundet. Sich durch gewöhnliche Mittel emporzuschwingen, war in der That schwierig für diesen Mann. Da ihm der Name, den er führte, widerwärtig war – da er stets die lebhafte Hoffnung hegte, das wieder zu erlangen, wozu er sich berechtigt hielt – da er jenen Stolz auf sein Vaterland setzte, der nie den verläßt, der einem freien Staate angehört, wie hart sich derselbe auch mag gezeigt haben, und vor allen Dingen, welches auch sein Ehrgeiz und seine Leidenschaften sein mochten, hatte er eben aus dem Mißgeschick, das ihm wiederfahren war, einen unbesiegbaren Glauben an die endliche Gerechtigkeit des Himmels entlehnt – er hatte sich geweigert, die letzten Bande zu zerreißen, die ihn mit seiner verlorenen Erbschaft und mit seinem verlassenen Vaterlande verknüpften – er wollte sich nicht naturalisiren lassen – um den Namen, den er führte, gesetzlich unbestreitbar zu machen – er war zufrieden, ein Ausländer zu sein. Auch war Vaudemont nicht eigentlich zu jener Krisis in der gesellschaftlichen Welt geeignet, wo die Männer der Journale die Männer der That auf die Seite drängen. Er hatte die Literatur nicht kultivirt, er hatte keine Bücherkenntniß, die Welt war seine Schule gewesen und das rauhe Leben sein Lehrer. Außerordentlich geschickt in jenen körperlichen Uebungen, welche die Männer und besonders die Soldaten bewundern, ruhig und gesetzt in seinem Benehmen, von vortheilhafter Persönlichkeit, von großem Talente und geübter Beobachtungsgabe, überwand er beständig die Hindernisse, die ihn umgaben, und erlangte die Gunst der Mächtigen. Es war natürlich, daß ein Mann, der so aufgewachsen und in solchen Verhältnissen war, sich nicht für die Sache des Volkes interessirte. Er war kein Bürger des Staates, er war ein Fremder im Lande. Er hatte zu viel von der Menschheit gelitten und litt noch, um jene Menschenliebe zu besitzen, die zuweilen träumerisch, aber stets edel ist, kurz, die gewöhnlich aus unseren Studien entspringt, nicht auf dem Markte, sondern im Studirzimmer. Die Menschen verlieren leider nur zu oft den demokratischen Enthusiasmus, im Verhältniß wie sie Grund finden, Argwohn und Verachtung gegen ihr Geschlecht zu empfinden. Und wenn es keine Hoffnungen auf die Zukunft gäbe, welche uns zu lehren dieses harte, praktische Alltagsleben nicht ausreicht, da würden die Traumbilder und der Ruhm, die dem Glauben an das Volk angehören, durch die Ungerechtigkeit, durch die Thorheiten und Laster der Welt, wie sie ist, getrübt, in lauwarme Parteisucht übergehen. Ueberdieß war Vaudemonts Gedankenrichtung die des Lagers, durch Systeme bestätigt, die im Orient allgemein sind: er betrachtete das Volk, wie ein Soldat es gewöhnlich thut, der an Disziplin und Ordnung gewöhnt ist. Seine Theorien, oder vielmehr seine Unbekanntschaft mit dem, was an der Theorie Gesundes ist, billigten die Ausschweifungen Karls des Zehnten, aber nicht die Schüchternheit und Furchtsamkeit, vermöge welcher diese Ausschweifungen mit Schande und Absetzung endeten. Im Herzen verwundet, von stolzem Kummer gequält, gehorchte er dem königlichen Befehle und folgte dem verbannten Monarchen. Seine Hoffnungen waren zerstört und seine Laufbahn in Frankreich auf immer vernichtet. Als er aber nach England kam, fand sein Gemüth, dem es nicht an Hülfsquellen fehlte, bald neue Nahrung. In dem Lande, wo er keinen Namen hatte, konnte er sein Glück wieder aufbauen. Es war ein kühnes Unternehmen, eine unwahrscheinliche Hoffnung; aber die Worte, die er auf der Brücke zu Paris gehört hatte – Worte, die ihn oft in seiner Verbannung bei Mühseligkeiten und Gefahren erheitert hatten, tönten ihm wieder in die Ohren, als er an's Ufer seines Vaterlandes sprang: Zeit, Glauben, Energie!
Während sich sein Charakter in den größeren und umfangreicheren Beziehungen des Lebens so bewährte, wurden in den engeren Kreisen der Gesellschaft seine seltenen und edlen Eigenschaften sichtbar. Freilich war er strenge, vielleicht gebieterisch – von einem Temperament, welches stets nach Befehl strebte; doch sehr empfänglich für Freundlichkeit, und wenn ihn die fürchteten, die sich ihm wiedersetzten, so wurde er von denen geliebt, die ihm dienten. Es lag jene Mischung von Zartheit und Wildheit in seinem Charakter, die einem Krieger des Alterthums angehörte. Obgleich so wenig belesen, hatte das Leben ihm eine gewisse Poesie des Gefühls und Gedankens gelehrt; mehr Poesie vielleicht in den stillen Gedanken, die in glücklicheren Augenblicken seine Einsamkeit erfüllten, als in der Hälfte der Blätter lag, die sein Bruder an dem träumerischen See gelesen und beschrieben. Eine gewisse Größe des Gedankens und ein Adel der inneren Antriebe machte, daß er die Gefühle in Handlungen darstellte, die Andere in Büchern niederlegten. Bei allen seinen Leidenschaften verachtete er die Ausschweifung; bei all' seinem Streben nach der Macht des Reichthums hielt er den Luxus seiner unwürdig. Einfach, männlich, strenge, enthaltsam, war er von der Form des Charakters, die in früheren Zeiten den Männern der erfolgreichen Handlung eigen gewesen. Aber zur erfolgreichen Handlung ist die Gunst der Umstände nöthiger als zum triumphirenden Studium.
Es war zu erwarten, daß er im Verhältniß, wie er mit dem reineren und edleren Leben vertraut wurde, mit tiefer Beschämung seine frühere Verbindung mit Gawtrey betrachtete. In dieser Hinsicht war er strenger gegen sich, als jeder andere reine und gerecht denkende Geist es würde gewesen sein, wenn er die Armuth, den Hunger und die Verzweiflung betrachtet hätte, die ihn zu Gawtrey getrieben, seine unvollkommene Erziehung, das knabenhafte Vertrauen und die Neigung, die er für seinen Beschützer empfunden, so wie seine eigene Unbekanntschaft mit den schlimmeren Handlungen jenes unglücklichen Verbrechers. Aber wenn der Mann bei der Erfahrung, die er jetzt erlangt hatte, ruhig zurückblickte, erglühte seine Wange von reuevoller Scham über seinen rücksichtslosen Umgang, dessen Gefahr der Knabe zur Zeit nicht eingesehen. Indessen gingen zwei Vortheile aus dem Irrthum und der Reue hervor: erstens demüthigte die daraus hervorgehende Erniedrigung einigermaßen einen Stolz, der sonst hochfahrend und unliebenswürdig gewesen sein mochte, und zweitens, wie ich schon früher angedeutet, sicherte die innige Dankbarkeit, die er dem Himmel für die Rettung aus den Schlingen der Jugend zollte, seiner Zukunft einen ernsten und aufrichtigen Glauben zum Führer. Er sah keinen Zufall mehr im Leben. Bei allen seinen Kämpfen, bei seiner Schwermuth, bei seinem Gefühl des ihm widerfahrenen Unrechts verzweifelte er nie, denn nichts konnte jetzt seinen Glauben an eine leitende Vorsehung erschüttern.
Die Lebensweise und Gewohnheiten Vaudemonts waren in Uebereinstimmung mit dem ruhigen Haushalte, wo er sich als Gast aufhielt. Gleich den meisten Männern von starkem Körperbau, die an geschäftiges Leben gewöhnt sind, stand er früh auf, ritt gewöhnlich nach London und kehrte um Mittag zu der frugalen Mahlzeit zurück. Wenn Fanny und Simon sich zur Ruhe begaben, kehrte er oft noch einmal nach London zurück und schloß sich selber das Haus auf, ohne den Schlaf der Hausgenossen zu stören. Zuweilen, wenn die Sonne zu sinken begann, wenn die Luft warm war, schlich der alte Mann, auf seinen starken Arm gestützt, durch die benachbarten Gassen zu dem einsamen Begräbnißplatze; oder wenn der blinde Mann bei seinem Kamin blieb und sich zum Schlaf anschickte, ging Philipp mit Fanny aus, und an den Tagen, wo sie ihre Arbeit verkaufte oder ihre Einkäufe besorgte, begleitete er sie stets. Und ihre Wange röthete sich vor Stolz, wenn sie ihn ihren kleinen Korb tragen und in geduldigem Nachdenken draußen warten sah, während sie ihre Geschäfte in den Läden besorgte. Obgleich Fanny's Verstand in ihrem Innern reifte, so war doch ihre Oberfläche täuschend. Es war immer, als ob etwas ihre Fähigkeiten hemmte, ohne daß es ihr an den Fähigkeiten selber fehlte. Ihre Schwäche war mehr von der Art eines Kindes, als einer Person, die an einer unheilbaren Verstandesschwäche leidet. Z. B. leitete sie den kleinen Haushalt mit Geschicklichkeit und Klugheit; sie konnte so schnell wie Vaudemont selber das, was zu ihren einfachen Beschäftigungen gehörte, im Kopfe ausrechnen, sie kannte den Werth des Geldes, und das ist mehr, als manche von unsern weisen Leuten verstehen. Ihre Geschicklichkeit in verschiedenen weiblichen Handarbeiten, die sie schon als Kind gezeigt, wurde nicht nur durch Beharrlichkeit, sondern auch durch Erfindung und besonders durch Talent zu einer wunderbaren Vollkommenheit gebracht. Ihre Blumenstickerei auf Seide, die damals noch seltener war, als jetzt, wurde von den großen Modehändlerinnen Londons sehr gesucht, zu welchen dieselbe durch Miß Semper gelangte. Alles dieß hatte sie seit Jahren in den Stand gesetzt, sich und ihrem blinden Beschützer jede nothwendige Bequemlichkeit des Lebens zu verschaffen, und ihre Sorgfalt für den alten Mann war schön in ihrer Einzelnheit und ihrer Wachsamkeit. Wenn ihr Herz an etwas Antheil nahm, zeigte sich nie der Mangel des Verstandes. Vaudemont war gerührt, zu sehen, wie viel zärtliche und mitleidige Achtung sie in der Nachbarschaft, besonders unter den niedrigeren Klassen, zu genießen schien – selbst der Bettler, der die Uebergänge über die Straße kehrte, bettelte sie nicht an, sondern war froh, sie zu sehen, wenn sie vorüber ging, und der rauhe, unzufriedene Handwerker beantwortete mit erheiterter Stirn das Lächeln, womit das harmlose Geschöpfe ihn begrüßte. Welchen Reiz ihr auch ihre Jugend, ihre Schönheit, ihr Unglück und ihr rührender Fleiß gewähren mochten so wurde doch Alles in den Augen der ärmeren Nachbarn durch jene kleinen Züge der Wohlthätigkeit und Freundlichkeit erhöht; manches kranke Kind hatte sie gepflegt, und mancher brodlose Tisch hatte etwas von dem Vorrathe hinweggenommen, den sie zu dem Grabmale ihres Vaters aufgespart hatte.
»Glaubst du nicht,« flüsterte sie einst Vaudemont zu, »daß Gott mehr auf uns achtet, wenn wir gut gegen die sind, welche arm und hungrig sind?«
»Gewiß, so hat man uns denken gelernt.«
»Gut, ich will dir ein Geheimniß sagen – mußt es aber nicht wieder sagen. Großpapa sagte einst, mein Vater habe böse Dinge gethan; wenn nun Fanny gut ist gegen die, denen sie helfen kann, so glaube ich, wird Gott sie gütiger anhören, wenn sie ihn bittet, daß er verzeihe, was ihr Vater gethan. Denkst du auch so? Sage es – du bist doch klug!«
»Fanny, du bist klüger, als wir Alle; ich fühle mich besser und glücklicher, wenn ich dich reden höre.«
Es gab in der That Augenblicke, wo Vaudemont glaubte, daß die Mängel ihres Verstandes schon längst durch geschickte Erziehung und Umgang mit Mädchen ihres Alters hätten verbessert werden können; doch hatte sich Fanny selbst in der Schule von diesem Umgange ferne gehalten. In andern Augenblicken zeigte sie sich so geistesabwesend, so zerstreut, so abspringend und phantastisch, daß Vaudemont mit seinem weltlichen Auge nichts weiter als traurige Verwirrung lesen konnte. Aber wenn gleich die Gedankenfäden verwickelt waren, so war doch jeder derselben ein Goldfaden.
Fanny's großer Zweck – ihr großer Ehrgeiz – ihre einzige Hoffnung – war ein Grabmal für ihren vermeintlichen Vater. Sei es nun aus jener Verehrung des Grabes, die vielleicht in katholischen Ländern am meisten gefühlt wird, und die sie im Kloster eingesogen hatte, oder weil sie so nahe bei dem Begräbnißplatze wohnte, und wegen der heiligen Scheu, womit dieser Ort betrachtet wurde – kurz, was auch die Ursache sein mag, so hatte sie seit einigen Jahren, wie andere junge Mädchen vom Altare träumen – nur von Grabsteinen geträumt. Aber der Schatz wurde so langsam gesammelt – bald war der alte Gawtrey krank – bald ging der Miethzins nicht zur rechten Zeit ein – bald kam der Preis ihrer Arbeit herunter – und bald, was am häufigsten geschah, wurde ein Anspruch an ihre Mildthätigkeit gemacht, der ihren Ersparnissen zu dem frommen Zwecke eine Summe entzog. Dieß war ein Gefühl, worin ihr neuer Freund aufrichtig mit ihr übereinstimmte; denn auch er erinnerte sich, daß er für sein erstes Geld jenen bescheidenen Grabstein gekauft, der das Andenken seiner Mutter noch über der Erde bewahrte.
Inzwischen verging ein Tag nach dem andern und Fanny erfuhr keine neue Gewaltthätigkeit. Nach und nach hörte Vaudemont – und Fanny's Bericht war sehr verwirrt – worin ihre Gefahr eigentlich bestanden.
Eines Tages hatte sich Fanny durch das schöne Wetter verleiten lassen, auf dem Wege fortzugehen, der weiter in's Land führte, und da sei ihr ein Herr in einem Wagen begegnet, der sie, wie sie sagte, sehr freundlich angeredet. Nach mehreren Fragen, die sie alle mit argloser Unschuld beantwortet, habe er ihr Geschäft erfahren und darauf bestanden, einige von ihren Arbeiten zu kaufen, die sie gerade in ihrem Korbe gehabt, und ihr versprochen, ihr einen beständigen Käufer zu verschaffen, der ihr ihre Arbeiten unter viel vortheilhafteren Bedingungen abnehmen würde, als bisher geschehen, wenn sie in das Haus einer Mrs. West kommen wolle, die etwa eine Meile von der Vorstadt nach London zu wohne. Dieß versprach sie zu thun und that es auch, in Folge der Adresse, die er ihr gegeben. Sie wurde zu einer Dame geführt, die viel geputzter war, als Fanny je eine Dame gesehen – der Herr war auch zugegen – sie überhäuften sie mit Complimenten und kauften ihre Arbeit zu einem Preise, daß sie alle Hoffnungen des armen Mädchens, in Betreff des Grabsteines für Wilhelm Gawtrey, zu erfüllen schienen – als verfolge jenen wilden Mann sein Schicksal noch bis über das Grab hinaus, und als solle selbst sein Grabstein mit dem Gelde des Verführers erkauft werden! Die Dame bestellte sie wieder zu sich; doch inzwischen traf sie Fanny auf der Straße, und während sie sie anredete, ging zum Glück die Putzmacherin, Miß Semper, vorüber, wendete sich um, sah die Dame fest an, führte eine sehr zornige Sprache gegen sie, ergriff Fanny's Hand und zog sie mit sich fort, während die Dame sich fortschlich. Sie sagte ihr dann, die Dame sei ein sehr schlechtes Weib, und Fanny müsse nie wieder mit ihr reden. Fanny versprach dieß mit Freuden, und die Dame, die sich entweder vor dem Pöbel oder vor der Obrigkeit fürchtete, kam nie wieder in ihre Nähe.
»Und ich gab Miß Semper das Geld, welches sie mir gegeben,« so schloß Fanny, »und sie sagte, sie wolle es zurückschicken.«
»Du thatest Recht, Fanny, und da du Miß Semper ein Versprechen ablegtest, so mußt du mir auch versprechen, niemals ohne mich, oder irgend eine andere Person aus dem Hause zu gehen. – Nein, nicht mit einer andern Person – nur mit mir. Ich will alles Andere bei Seite setzen und mit dir gehen.«
»Willst du das? O ja, ich verspreche es! Ich ging sonst so gern allein, aber es war, ehe du kamst, Bruder.«
Und da Fanny ihr Versprechen hielt, hätte es ein kühner Mensch sein müssen, der es gewagt, sie an der Seite dieses stattlichen und starken Beschützers zu belästigen.