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Ihr habt des Berges Gipfel aufgefunden –
Dort sitzt auf seinem stillen blüh'nden Haupte:
Und da wir aufwärts geh'n mit müden Schritten,
Seht uns und Wolken unter Euch. –
Cowper.
Es war die Wahrheit, daß Sidney sich in seiner neuen Heimath glücklich fühlte, und dorthin müssen wir ihm jetzt folgen.
Als sie die Stadt erreichten, wo die Reisenden in der Droschke Sidney hatten zurücklassen sollen, war Kings-Arms gerade der Gasthof, den Spencer besonders vermied. Während die Pferde gewechselt wurden, ließ er den Arzt kommen, um das Kind zu untersuchen, welches schon ziemlich wieder hergestellt war, und indem man ihm die Kleider auszog, ihn in warme Decken wickelte und ihm Stärkungsmittel gab, wurde es ihm gestattet, noch eine Station weiter zu reisen, um in jener Nacht der Verfolgung zu entgehen, und in drei Tagen hatte Spencer seinen neuen Schutzbefohlenen bei seinen unverheiratheten Schwestern, hundert und fünfzig Meilen von der Stelle, wo er ihn gefunden, untergebracht. Er konnte ihn noch nicht in seine eigene Heimath bringen. Er fürchtete Arthur Beauforts Ansprüche. Er schrieb listig an diesen Herrn und gab vor, er habe die Verfolgung Sidney's als zwecklos aufgegeben, und fragte, ob er ihn entdeckt; und eine Bestechung von dreihundert Pfund an Sharp, nebst einer aufrichtigen Auseinandersetzung seiner Gründe, warum er Sidney entfernt, in welche Gründe der würdige Offizier einzustimmen behauptete – sicherten die Verschwiegenheit seines Verbündeten. Doch er konnte sich das Vergnügen nicht versagen, mit Sidney in demselben Hause zu sein, und war daher einige Monate als Gast bei seinen Schwestern. Endlich hörte er, daß der junge Beaufort wegen seiner Gesundheit auf Reisen in's Ausland geschickt worden, und erst jetzt hielt er es für sicher, seinen neuen Abgott in seine Heimath an den Seen zu bringen. Während dieses Zwischenraums war der Lebensstrom des jüngeren Morton freilich durch Blumen geflossen. Für sein Alter war weibliche Sorgfalt fast ein Bedürfniß, und die Schwestern verzogen und liebkosten ihn eben so sehr, wie die ältlichen Nymphen in Cythärea den Cupido liebkosten. Sie waren gute, vortreffliche, hochnasige, flachbusige, alte Jungfern, sehr zärtlich gegen ihren Bruder, den sie den Dichter nannten, und schwärmerisch anhänglich an Kinder. Die Reinlichkeit, die Stille und die gute Küche in ihrem zierlichen Aufenthaltsorte, Alles diente dazu, die Lebensgeister ihres jungen Gastes zu beleben und zu stärken, und jede schien zu wetteifern, welche ihn am meisten lieben wolle. Dennoch war Spencer sein besonderer Liebling; denn Spencer ging nie aus, ohne ihm Kuchen und Spielsachen zurückzubringen; und Spencer gab ihm sein Pferdchen, und Spencer ritt ein kleines, kurzohriges Pferd an seiner Seite; kurz, Spencer vereinte sich mit jeder Bequemlichkeit und Laune. Er erzählte ihnen seine kleine Geschichte; und als er sagte, wie Philipp ihn lange Stunden allein gelassen und ihn endlich zu der letzten unglücklichen Reise gezwungen, da seufzten die alten Mädchen, und der alte Junggeselle seufzte auch, und alle riefen in einem Athem, Philipp sei ein böser Knabe. Es war nicht nur ihre offenbare Absicht, ihn von seinem Bruder zu entwöhnen, sondern auch ihre aufrichtige Ueberzeugung, daß sie recht daran thäten. Sidney begann freilich Philipp's Partei zu nehmen; aber sein Geist war fügsam und er blickte noch immer mit Schauder auf die Beschwerden zurück, die er hatte erdulden müssen, und so lernte er nach und nach alle die innige und zärtliche Liebe vergessen, die Philipp ihm bewiesen, lernte seinen Namen mit dunkler und geheimnißvoller Furcht verbinden, der Vorsehung danken, daß er von ihm befreit sei, und hoffen, daß sie einander nie wiedersehen möchten. Kurz, als Spencer von Sharp erfuhr, daß Philipp durch den Betrüger Kapitän Smith Nachricht von seinem Bruder zu erhalten gesucht und da er schon vorher von derselben Person gehört, daß Philipp in den betrügerischen Verkauf eines Pferdes verwickelt sei, so sah er noch immer mehr Grund, den Strom zu erweitern, der zwischen dem Wolfe und dem Lamme floß. Je älter Sidney wurde, desto besser begriff und schätzte er die Beweggründe seines Beschützers – denn er wurde in einer förmlichen Schule der Schicklichkeit und Moral auferzogen, und so empörte sich sein Geist bei allen Bildern von Gewaltthätigkeit und Betrug. Spencer veränderte sowohl den Vor- als Zunamen seines Schützlings, um der Nachforschung Philipps, der Mortons oder der Beauforts zu entgehen, und Sidney galt für den Sohn seines jüngeren Bruders, der in Indien gestorben.
Dort an den stillen Ufern des ruhigen Sees, unter den schönsten Landschaften des Inselgartens brachte Katharinens jüngster Sohn seine friedlichen Tage zu. Die Einförmigkeit des stillen Aufenthalts ermüdete einen Geist nicht, der, als er sich mehr ausbildete, Beschäftigung in Büchern, Musik, Poesie und in der Eleganz des gebildeten, wenn auch ruhigen Lebens fand, welches in seinem Bereiche war. Auf die rauhe Vergangenheit blickte er wie auf einen bösen Traum zurück, in welchem Philipps Bild finster und drohend dastand. Seines Bruders Namen erwähnte er selten, als er älter wurde, und wenn er ihn zufällig einmal gegen Herrn Spencer aussprach, wurde seine Wange blässer. Die Lieblichkeit seines Wesens, sein schönes Gesicht und sein einnehmendes Lächeln vereinigten sich, um ihm Liebe zu sichern, und verbargen den gewöhnlichen Blicken, welche Selbstsucht in seiner Natur lag. Und in der That wurde dieser Fehler auf einer so heiteren Laufbahn, und von so aufrichtigen Freunden umgeben, selten in Thätigkeit gesetzt. So wurde er also von den beiden Beschützern, von Arthur und Philipp, getrennt, welchen ihn die arme Katharina anempfohlen hatte. Vermöge eines seltsamen Geheimnisses waren die Personen, denen dieser Auftrag besonders ertheilt worden, verhindert, ihn zu erfüllen. Wenn wir auf unserem Sterbebette für die gesorgt zu haben glauben, die wir zurücklassen – sollten wir da nicht das letzte Lächeln verlieren, welches die feierliche Todesqual übergoldet, wenn wir nur ein Jahr in die Zukunft hinausblicken könnten?
Als Arthur Beaufort von seinem erfolglosen Suchen nach Sidney zurückkehrte, hörte er einen übertriebenen Bericht von Philipps Besuche und horchte mit tiefem Rachegefühl, als seine Mutter auf entstellte Weise die Worte wiederholte, die er an sie gerichtet. Man darf sich nicht wundern, daß er bei all seiner romantischen Großmuth sich über die Gewaltthätigkeit empört fühlte, die ihm ohne Entschuldigung zu sein schien. Obgleich nicht von rachsüchtigem Charakter, besaß er nicht diejenige Schwäche, die nie bittere Empfindungen gegen irgend Jemand hegt. Er betrachtete Philipp als einen Menschen, der durch böse Leidenschaften und schlimme Gesellschaften unverbesserlich geworden. Ihm fiel Katharinens letzte Bitte und Philipps Brief an ihn, den unbekannten Tröster, oft ein und er würde gern geholfen haben, wenn Philipp ihm nur in den Weg gekommen wäre. Aber so wie die Sache war, wenn er sich umsah und die Beispiele jener Wohlthätigkeit bemerkte, die im Hause beginnt und woran die Welt großen Ueberfluß hat, da war es ihm, als habe er seine Pflicht gethan, und da das Glück, obgleich es sein Herz nicht verhärten konnte, ihn von der Beharrlichkeit abgewöhnte, entschwand nach und nach das Bild der sterbenden Katharina und der Gedanke an ihre Söhne aus seiner Erinnerung, und dazu lieferte ihm ein anonymer Brief, der ihn über Sidney beruhigte, eine noch größere Entschuldigung. Der Brief war kurz und meldete ihm einfach, daß Sidney Morton einen Freund gefunden habe, der ihn während seines Lebens beschütze; aber wenn er je Beauforts Hülfe bedürfe, so werde er ohne Bedenken sich an ihn wenden. So war also ein Sohn, der jüngste und geliebteste, in Sicherheit. Und hatte nicht der andere seine eigene Laufbahn gewählt? Ach, arme Katharina! Wie schlecht beurtheilte sie das menschliche Herz, als sie glaubte, Philipp werde sich schon seinen Weg zum Glücke bahnen und Sidney sei der hoffnungslosere!
Es war eben diese Stärke in Philipps Natur, welche die Winde anlockte, die die Blüthen zerstreuten, und dann den Baum bis zur Wurzel erschütterten; während die leichtere und schwächere Natur sich dem Winde beugte und sich auf einen glücklicheren Boden verpflanzen ließ. Wenn ein Vater diese Blätter liest, so mag er inne halten und wohl über die Charaktere seiner Kinder nachdenken; er mag zugleich am meisten fürchten und hoffen für den, dessen Leidenschaften und Temperament zu einem Kampfe mit der Welt führen. Diese Welt ist zäh und schwer ist es mit ihr zu ringen; sie hat eine Bärentatze für die Armen.
Inzwischen richtete Arthur Beaufort in seinen Leiden, welche ernsthaft wurden und Auszehrung drohten, seine Gedanken täglich mehr und mehr auf sich selber. Er war genöthigt, seine Universitätslaufbahn aufzugeben und in der sanfteren und wärmeren Luft des Südens Gesundheit zu suchen. Seine Eltern begleiteten ihn nach Nizza, und als er nach Verlauf weniger Monate wieder hergestellt war, ergriff den jungen Erben die Lust zum Reisen. Da seine Eltern sich über seinen Gesundheitszustand beruhigt hatten und nichts dagegen einwendeten, daß er sich die Politur des geselligen Umganges auf dem Festlande aneigne, so kehrten sie nach England zurück und der junge Beaufort mit muntern Genossen und reichlichem Reisegelde, bereits verzogen und geschmeichelt, begann seine Wanderung durch die schönen Fluren Italiens.
O dunkles Geheimniß der moralischen Welt! So ungleich der Anordnung des äußeren Universums, gleiten neben einander die schattigen Rosse der Nacht und des Morgens dahin. Man prüfe das Leben in seiner eigenen Welt; man verwechsle nicht jene Welt, die innere, die praktische, mit dem sichtbareren, doch lustigeren und weniger substanziellen System, welches der Sonne huldigt, zu deren Thron fern im unendlichen Raume, das menschliche Herz keine Flügel hat zu fliehen. Das Leben, der Geist und die Umstände bilden die wahren Jahreszeiten und scheiden die Dunkelheit vom Licht. Von zwei Menschen, die auf demselben Fußbreit Erde stehen, schwelgt der eine im freudigen Mittag, der andere schaudert in der Einsamkeit der Nacht. Für Hoffnung und Glück scheint der Tagesstern immer, ihnen ist der Lufthimmel stets anmuthstrahlend. Für die Sorge und Dürftigkeit wechselt die Nacht nicht mit dem Pendelschlage der Uhr oder dem Schatten des Sonnenzeigers. Morgen für den Erben, Nacht für den Obdachlosen und Gottes Auge in beiden.