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Elftes Kapitel.

»Ihr steht erstaunt? – Blick auf, Maximilian!
Welch Schreckbild schwebet über deinem Haupt?«

Beaumont und Fletcher: Die Prophetin.

Philipp war fünf Wochen in seiner neuen Stellung gewesen, und in der nächsten Woche sollten die Bedingungen der Lehrzeit unterzeichnet werden. Mit strengem und finsterem Wesen hatte er die Pflichten seines neuen Berufes begonnen. Er unterwarf sich Allem, was von ihm gefordert wurde. Er schien auf immer das wilde und unruhige Temperament verloren zu haben, welches seiner Knabenzeit eigen war; aber man sah ihn nie lächeln – kaum öffnete er die Lippen. Seine Seele schien ihn mit ihren Fehlern verlassen zu haben und er verrichtete alle seine Beschäftigungen mit der ruhigen und gedankenlosen Regelmäßigkeit einer Maschine. Erst wenn das Tagewerk gethan und der Laden geschlossen war, ging er, anstatt sich dem Familienkreise im Hinterzimmer anzuschließen, in der Dämmerung des Abends aus, trieb sich vor der Stadt umher und kehrte zu der Stunde zurück, wo die Familie sich zur Ruhe begab. Er hatte jede Woche einmal von seiner Mutter gehört, und nur an dem Morgen, wo er einen Brief erwartete, schien er ruhelos und aufgeregt. Ehe der Briefträger in den Laden trat, war er todtenblaß – seine Hände zitterten – seine Lippen waren zusammengepreßt. Sobald er den Brief gelesen, wurde er ruhig; denn Katharina verbarg ihrem Sohne sorgfältig ihren Gesundheitszustand: sie schrieb heiter, bat ihn sich mit dem Stande zu begnügen, zu dem er herabgesunken, und sprach ihre Freude aus, daß er in seinen Briefen solche Zufriedenheit ausgedrückt, denn die Briefe des armen Knaben waren nicht weniger rücksichtsvoll, als ihre eigenen. Nach der Rückkehr von ihrem Bruder hatte sie so weit ihre Befürchtungen beschwichtigt oder verheimlicht, daß sie ihre Freude darüber äußerte, daß Sidney eine so gute Heimath gefunden, und sie sprach sogar die Hoffnung aus, daß sie in künftiger Zeit abwechselnd bei ihren Söhnen wohnen könne, wenn diese nach überstandenen Lehrjahren unabhängig geworden seien. Solche Hoffnungen verdoppelten Philipp's Beharrlichkeit, und er ersparte jeden Schilling von seinem Wochengelde, und seufzte bei dem Gedanken, daß mit der nächsten Woche seine Lehrzeit beginnen und sein Wochengeld aufhören werde.

Plaskwith konnte nicht umhin, im Ganzen mit dem Fleiße seines Lehrlings zufrieden zu sein, doch war er ärgerlich über sein mürrisches Wesen.

Was die arme Mrs. Plaskwith betraf, so verabscheute sie den schweigsamen, mißmuthigen Knaben vollends, der sich nie in die Scherze des Familienkreises mischte, nicht mit den Kindern spielte, ihr keine Complimente machte, kurz, nichts zu der Geselligkeit des Hauses beitrug. Plimmins, der anfangs bemüht gewesen, sich herabzulassen und dann ihn durch Prahlereien einzuschüchtern gesucht, wurde von dem starken Körperbau und dem wilden Auge Philipp's in Schrecken gesetzt, und er bekannte der Mrs. Plaskwith, daß er dem Zigeuner nicht allein in einer dunklen Nacht begegnen möchte, worauf Mrs. Plaskwith wie gewöhnlich erwiderte, Herr Plimmins mache die besten Witze von der Welt.

Eines Morgens wurde Philipp einige Meilen weit auf's Land geschickt, um den Katalog von einigen Büchern in der Bibliothek des Sir Thomas Champerdown zu verfertigen; denn dieser Herr, der ein Gelehrter war, hatte gefordert, daß man ihm Jemand senden solle, der mit den griechischen Buchstaben bekannt sei, und Philipp war der einzige im Laden, der eine solche Kenntniß besaß.

Es wurde Abend, ehe er zurückkehrte. Herr und Frau Plaskwith waren beide im Laden, als er eintrat, und hatten eben von ihm gesprochen.

»Ich kann ihn nicht ausstehen!« rief Mrs. Plaskwith. »Wenn du ihn annimmst, so werde ich keinen ruhigen Augenblick haben. Der Lehrling, der zu Chatham in der letzten Woche seinem Herrn die Kehle abschnitt, war gerade ein solcher.«

»Pah, Mrs. Plaskwith!« sagte der Buchhändler, indem er eine ungeheure Prise Schnupftabak aus der Westentasche nahm, wie es seine Gewohnheit war. »Ich selber wurde in meiner Jugend wunderbar erhalten – und dies ist mit allen nachdenkenden Leuten der Fall. Ich bemerke auch, daß es mit Napoleon Bonaparte geschah; dennoch aber muß ich gestehen, daß er ein unangenehmer Bursche ist, obgleich er sein Geschäft gut besorgt.«

»Und wie er das Geld liebt!« sagte Mrs. Plaskwith; »er will sich nicht einmal ein Paar neue Schuhe kaufen – das ist schmachvoll. Und sahst du, welchen Blick er Plimmins zuwarf, als dieser darüber scherzte, daß er sich nicht um seine Sohle kümmere? Plimmins sagt immer so hübsche Sachen!«

»Freilich ist er schäbig,« sagte der Buchhändler; »doch der Werth eines Buches hängt nicht stets vom Einbande ab.«

»Ich hoffe, daß er ehrlich ist,« sagte Mrs. Plaskwith, und hier trat Philipp ein.

»Hm,« sagte Plaskwith, »Sie haben ein langes Tagewerk gehabt, aber ich vermuthe, es wird eine Woche währen, ehe es vollendet ist.«

»Ich werde morgen früh wieder hingehen, Herr, und die Sache in noch zwei Tagen vollendet haben.«

»Hier ist ein Brief an Sie,« rief Mrs. Plaskwith; »Sie sind mir das Porto schuldig.«

»Ein Brief!« Es war nicht seiner Mutter Hand – es war eine fremde Handschrift. Er schnappte nach Luft, als er das Siegel brach. Es war der Brief von dem Arzte.

Seine Mutter war also krank – sterbend – vielleicht fehlte es ihr an den nothwendigen Lebensbedürfnissen. Sie hatte ihm ihre Krankheit und ihre Armuth verheimlicht. Seine Unruhe steigerte die letztere zum äußersten Mangel – er stieß einen Schrei aus, der durch den Laden erscholl, und stürzte auf Plaskwith zu.

»Herr, Herr! meine Mutter liegt im Sterben! – sie ist arm, arm – vielleicht leidet sie Noth – Geld, Geld! – borgen Sie mir Geld! – Zehn Pfund! – Fünf! – ich will mein Leben lang umsonst für Sie arbeiten, aber borgen Sie mir das Geld!«

»Siehst du,« sagte Mrs. Plaskwith, ihren Mann anstoßend – »ich sagte dir, was daraus werden würde; bald wird es heißen: die Börse oder das Leben!«

Philipp beachtete oder hörte diese Worte nicht, sondern stand mit zusammengeschlagenen Händen und wilder Ungeduld in seinen Blicken vor dem Buchhändler. Plaskwith schwieg etwas erschrocken.

»Hören Sie mich! Seien Sie menschlich!« rief Philipp, dessen Aufregung alles Feuer seines Charakters zeigte. »Ich sage Ihnen, meine Mutter liegt im Sterben, ich muß zu ihr gehen! Soll ich mit leeren Händen kommen? – Geben Sie mir Geld!«

Plaskwith war kein hartherziger Mann, aber förmlich und reizbar. Der Ton, den sein Lehrling gegen ihn annahm, noch dazu in Gegenwart seiner Frau – das Beispiel ist ansteckend – brachte ihn mehr auf, als er ihn rührte.

»Das ist nicht die Art, mit Ihrem Herrn zu reden – Sie vergessen sich, junger Mann!«

»Vergessen! – Aber Herr, wenn es ihr an den nothwendigen Lebensbedürfnissen fehlt – wenn sie Hunger leidet?«

»Unsinn,« sagte Plaskwith. »Herr Morton schreibt mir, daß er für Ihre Mutter gesorgt habe! Ist es nicht so, Hannah?«

»Ein um so größerer Thor ist er, da er selber eine große Familie hat! Sehen Sie mich nicht so an, junger Mann; ich lasse mich von Ihnen nicht zum Schweigen bringen, obgleich mir das Blut gefriert, wenn ich Sie ansehe!«

»Wollen Sie mir Geld vorstrecken? – Fünf Pfund – Nur fünf Pfund! Herr Plaskwith? –«

»Nicht fünf Schilling! – In solchem Tone mit mir zu reden! – Sie sind nicht der Mann dazu, Herr! – Sehr unschicklich. Kommen Sie und schließen den Laden; besinnen Sie sich, und vielleicht, wenn Sir Thomas Champerdown's Katalog fertig ist, lasse ich Sie in die Stadt gehen. Morgen können Sie nicht fort. Vielleicht ist es nur ein Vorwand; nicht wahr, Hannah?«

»Sehr wahrscheinlich! frage Plimmins um Rath. Komm lieber jetzt, Plaskwith. Er sieht aus wie ein junger Tiger!«

Mrs. Plaskwith ging in das Hinterzimmer. Ihr Mann legte seine Hände auf den Rücken, richtete sein Kinn empor und war im Begriff ihr zu folgen. Philipp, der im letzten Augenblick stumm und todtenblaß dagestanden, wendete sich plötzlich um. Sein Schmerz nahm mehr den Ton der Wuth als der Bitte an – er stellte sich vor seinen Herrn hin, faßte ihn an der Schulter und sagte: »Ich verlasse Sie – machen Sie nicht, daß es mit einem Fluche geschieht. Ich beschwöre Sie, haben Sie Mitleiden mit mir!«

Plaskwith stand still, und hätte Philipp einen milderen Ton angenommen, so wäre Alles gut gewesen. Aber da er von Kindheit auf an's Befehlen gewöhnt war – da alle glühenden Leidenschaften in ihm losgelassen waren – da er den Mann verachtete, den er so anflehte, so verfehlte er seinen Zweck. Unwillig über das Schweigen des Herrn Plaskwith und zu verblendet durch seine Aufregung, um zu sehen, daß jenes Schweigen aus Nachgiebigkeit herrühre, schüttelte er plötzlich den kleinen Mann mit solcher Heftigkeit, daß er ihn beinahe umwarf, und rief: »Sie, die Sie auf fünf Jahre meine Knochen und mein Blut – meinen Leib und meine Seele als Sklaven für Ihr niedriges Gewerbe fordern – verweigern mir Brod für die Lippen einer Mutter?«

Zitternd vor Wuth und vielleicht auch vor Furcht, machte sich Plaskwith aus Philipps Händen los, eilte aus dem Laden und sagte, indem er die Thür zuschlug: »Sie bitten mich noch diesen Abend deßhalb um Verzeihung, oder Sie kommen morgen über Hals und Kopf aus dem Hause! Wahrhaftig! die Welt hat sich gedreht! Ich glaube kein Wort von Ihrer Mutter! Pah!«

Als Philipp allein war, kämpfte er einige Augenblicke mit seiner Wuth und seinem Schmerze. Dann ergriff er seinen Hut, den er beim Eintreten abgelegt hatte – drückte ihn über die Stirn und wollte den Laden verlassen – als sein Blick auf die Ladenkasse fiel. Plaskwith hatte sie offen gelassen, und der Schimmer des Geldes fiel ihm in's Auge – jenes tödtliche Lächeln des Versuchers. Verstand, Vernunft, Gewissen – Alles war in jenem Augenblick ein verwirrtes Chaos. Er sah sich hastig in dem einsamen und dunklen Zimmer um – steckte die Hand in die Schublade, ergriff was oben lag; er wußte nicht, ob es Silber oder Gold war – und brach in ein lautes und bitteres Lachen aus. Dieses Lachen erschreckte ihn – es klang nicht wie sein eigenes. Seine Wange wurde bleich – seine Knie schlotterten – sein Haar sträubte sich – es war ihm, als habe der Teufel das Freudengeschrei über eine gefallene Seele ausgestoßen.

»Nein! – nein! – nein!« murmelte er; »nein, Mutter – selbst nicht für dich!« Und das Geld auf den Boden werfend, entfloh er wie ein Wahnsinniger aus dem Hause. –

Zu einer späten Stunde kehrte Robert Beaufort von seinem Landhause nach Berkeley-Square zurück. Er fand seine Frau sehr unruhig und aufgeregt über das Nichterscheinen ihres einzigen Sohnes. Er hatte seinen Bedienten um sieben Uhr mit den Pferden und einem Billet zurückgeschickt. Er hatte es auf ein weißes Blatt geschrieben, welches er aus seiner Brieftasche gerissen, und es enthielt nur folgende Worte: »Warten Sie nicht mit dem Mittagessen auf mich – ich werde vielleicht erst in einigen Stunden zurückkehren. Es ist mir ein melancholisches Abenteuer begegnet. Sie werden billigen, was ich gethan habe, wenn wir uns wiedersehen.«

Dieser Brief setzte Beaufort ein wenig in Verlegenheit; doch da er sehr hungrig war, so lieh er den Worten seiner Frau, sowie seinen eigenen Vermuthungen nur ein taubes Ohr, bis er sich erfrischt hatte. Dann ließ er den Bedienten kommen und erfuhr von ihm, daß er Herrn Arthur nach dem Unfall, der dem blinden Manne begegnet sei, in dem Hause eines Strumpfwebers in H* zurückgelassen. Dies schien ihm außerordentlich geheimnißvoll, und als eine Stunde nach der andern verging und Arthur noch immer nicht kam, begann er die Furcht seiner Frau zu theilen, bei der sie beinahe in Krämpfe übergegangen war, und gerade um Mitternacht bestellte er seinen Wagen, nahm den Bedienten als Führer mit und machte sich auf den Weg zu der Vorstadt. Mrs. Beaufort wünschte ihn zu begleiten; doch ihr Mann machte die Bemerkung, junge Leute seien junge Leute, und möglicherweise könne eine Dame im Spiel sein, worauf sich denn Mrs. Beaufort nach einigem Nachdenken in die Notwendigkeit fand, zu Hause zu bleiben. Keine Dame, die auf Anstand hält, setzt sich gern der Gefahr aus, in eine falsche Stellung zu gerathen. Beaufort machte sich also allein auf den Weg. Der Wagen war bequem, die Pferde schnell, und er wurde rasch davongeführt. Er hatte keine Vermuthung von dem wahren Grunde, der Arthur zurückhielt; doch er dachte an die Schlingen, deren es in London so viele gibt – an listige Frauenzimmer in der Noth, und ein melancholisches Abenteuer setzt gewöhnlich Liebe voraus und kostet Geld; und Arthur war jung – großmüthig – hatte ein offenes Herz und eine offene Tasche. Doch solche Dinge erschrecken einen Vater, wenn er ein Weltmann ist, nicht so sehr, wie eine ängstliche Mutter, und mit mehr Neugierde als Unruhe sah sich Beaufort nach einem kurzen Schlummer vor dem bezeichneten Laden.

Ungeachtet der späten Stunde war die Hausthür nur angelehnt – ein Umstand, der Beaufort sehr verdächtig war. Er öffnete sie vorsichtig und schüchtern – ein Licht, welches in dem engen Gange auf dem Stuhle stand, warf ein mattes Licht auf eine Treppe. Beaufort stand einen Augenblick zweifelhaft still, ob er rufen, klopfen, zurück oder vorwärts gehen solle, als er einen Tritt oben auf der Treppe hörte – er kam näher und näher – eine Gestalt trat aus dem Schatten hervor, und mit großer Freude erkannte Beaufort seinen Sohn. Arthur schien aber seinen Vater nicht zu bemerken und war im Begriff, an ihm vorüber zu gehen, als Beaufort seinen Arm faßte.

»Was hat dies Alles zu bedeuten, Arthur? An welchem Orte bist du? Wie hast du uns beunruhigt!«

Arthur warf seinem Vater einen traurigen und vorwurfsvollen Blick zu.

»Vater,« sagte er in einem Tone, der strenge und fast gebieterisch klang – »ich will Ihnen zeigen, wo ich gewesen bin; folgen Sie mir – folgen Sie mir, sage ich!«

Er wendete sich um, ohne weiter ein Wort zu reden, und stieg die Treppe wieder hinauf. Ueberrascht, und durch die strengen Worte seines Sohnes zum mechanischen Gehorsam gebracht, that Beaufort was sein Sohn wünschte. Auf der zweiten Treppe stand wieder ein vernachlässigtes, düsteres Licht, welches einen matten Schein verbreitete. Es schimmerte durch die offene Thür eines kleinen Schlafzimmers zur Linken, wo Beaufort zwei weibliche Gestalten erblickte. Die eine – die freundliche Magd – saß auf einem Stuhle und weinte bitterlich; die andere – die gedungene Wärterin, die erst kürzlich gekommen war – nahm ihren grauen Shawl ab, ehe sie sich zu einem Schläfchen niederlegte. Sie richtete ihr leeres, theilnahmloses Gesicht auf die beiden Männer, nahm ein schmerzliches Lächeln an und machte, wie aus Schicklichkeit, die Thür zu.

»Wo sind wir, Arthur, wo sind wir?«

Arthur faßte seines Vaters Hand, zog ihn in das Zimmer zur Rechten, nahm das Licht und stellte es auf einen kleinen Tisch neben einem Bette und sagte: »Hier, Vater – in der Gegenwart des Todes!«

Beaufort warf einen hastigen und furchtsamen Blick auf das stille, bleiche und heitere Gesicht vor ihm und erkannte die Züge der vernachlässigten und einst angebeteten Katharina.

»Ja – sie, die Ihr Bruder so liebte – die Mutter seiner Kinder – starb in diesem elenden Gemache, ferne von ihren Söhnen, in Armuth und Kummer – starb an gebrochenem Herzen! War das gut, Vater? Haben Sie hiebei nichts zu bereuen?«

Entsetzt und von seinem Gewissen gequält, sank der Weltmann auf einen Stuhl neben dem Bette nieder und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Ja,« fuhr Arthur mit Bitterkeit fort, »ja, wir, seine nächsten Verwandten – wir, die wir seine Besitzungen und sein Geld geerbt haben – wir sind so unbekümmert um das große Vermächtniß gewesen, das Ihr Bruder uns hinterlassen hat – um die Wesen, die ihm am theuersten waren – um das Weib, das er liebte – um die Kinder, die durch seinen Tod namenlos und gebrandmarkt auf der Welt zurückblieben. Ja, weinen Sie, Vater, und während Sie weinen, denken Sie an die Zukunft, und wie Sie das Unrecht wieder gut machen wollen. Ich habe dieser Todten versprochen, für ihre Söhne zu sorgen; stimmen Sie, der Sie alle Macht in Händen haben, in das Gelübde ein, jenes Versprechen zu erfüllen, und möge der Himmel nicht an uns Beiden die Leiden dieses Sterbebettes rächen!«

»Ich wußte nicht – ich – ich –« stotterte Beaufort.

»Aber wir hätten es wissen sollen,« fiel Arthur trauernd ein. »Ach, lieber Vater! verhärten Sie Ihr Herz nicht durch falsche Entschuldigungen. Die Todte redet noch zu Ihnen und empfiehlt Ihrer Sorgfalt ihre Kinder. Meine Aufgabe ist vollendet, Vater! Die Ihre wird erst kommen. Ich lasse Sie mit der Todten allein.«

Mit diesen Worten entfernte sich der junge Mann, den die tragische Scene in eine Leidenschaft und Würde versetzt hatte, die über seinen gewöhnlichen Charakter waren, und da er seine Thränen nicht länger unterdrücken konnte, eilte er plötzlich aus dem Zimmer, ging rasch die Treppe hinunter und verließ das Haus. Als er den Wagen und die Livreen seines Vaters erblickte, seufzte er, denn diese Zeugnisse der Bequemlichkeit und des Reichthums schienen ein Hohn für die Verstorbene. Er wendete sein Gesicht ab und ging weiter. Auch bemerkte er eine Gestalt nicht, die in diesem Augenblick bleich, verstört und athemlos an ihm vorbeirannte und in das Haus eintrat, welches er eben verlassen, dessen Thür er offen gelassen, wie er sie gefunden – denn der Arzt hatte sich zehn Minuten vor Beaufort's Ankunft rasch von dem Orte entfernt, wo seine Geschicklichkeit vergebens war. In finstern Gedanken, allein und zu jener späten Stunde und in jener abgelegenen Vorstadt, kehrte der Erbe der Beaufort's zu seinem glänzenden Vaterhause zurück. Aengstlich, furchtsam, hoffend, eilte der ausgestoßene Verwaiste in das Sterbezimmer seiner Mutter.

Beaufort, der Arthur's letzte Worte nicht deutlich verstanden hatte und durch die Seltsamkeit seiner Lage verwirrt war, bemerkte anfangs nicht, daß er allein war. Ueberrascht und erschrocken bei der plötzlichen Stille im Zimmer, stand er auf, zog seine Hände von den Augen und erblickte wieder jenes stumme und feierliche Gesicht. Er sah sich in dem unheimlichen Zimmer nach Arthur um; er rief ihn beim Namen – erhielt keine Antwort; ein abergläubischer Schrecken ergriff ihn; seine Glieder zitterten, er sank wieder auf den Stuhl nieder, schloß die Augen und murmelte, vielleicht zum erstenmal seit seiner Kindheit, Worte der Reue und des Gebets. Er wurde aus seinem bitteren Nachdenken durch einen tiefen Seufzer erweckt. Er schien von dem Bette herzukommen. Täuschten ihn seine Ohren? Hatte die Todte ihre Stimme wieder gefunden? Angstvoll sprang er auf und erblickte vor sich Philipp Mortons bleiches Gesicht; der Sohn der Leiche nahm die Stelle seines Sohnes ein! Das trübe Licht fiel auf sein Gesicht. Dort schien alle Blüthe und Frische der Jugend verschwunden zu sein! Dort auf jenen erblichenen Zügen zeigten sich in voller Macht die widersprechendsten Leidenschaften – Wuth, Schmerz, Verachtung, Verzweiflung. Schrecklich ist es, in dem Gesicht eines Knaben den Sturm und Wirbelwind zu bemerken, der nur das starke Herz eines Mannes besuchen sollte!

»Sie ist todt! – todt! und in Ihrer Gegenwart,« rief Philipp, indem er seine wilden Augen auf seinen gebückt dasitzenden Oheim richtete, »gestorben aus Sorge, vielleicht aus Hunger. Und sind Sie gekommen, um Ihr Werk zu sehen?«

»In der That, ich komme erst eben an,« sagte Beaufort in bittendem Tone; »ich wußte nicht, daß sie krank oder in Mangel sei – bei meiner Ehre nicht! Dieß ist – ist – ist durchaus ein Versehen: ich – ich – kam hieher, um – um einen Andern zu – suchen –«

»So kamen Sie also nicht her, um sie zu unterstützen?« sagte Philipp sehr ruhig. »Sie hatten nicht von ihrem Leiden und ihrem Kummer gehört und eilten auch nicht her, in der Hoffnung, daß es noch Zeit sei, sie zu retten? – Sie thaten dieß nicht, ha! ha! – Wie konnte ich es auch denken?«

»Rief Jemand, meine Herren?« sagte eine klägliche Stimme vor der Thür, und die Wärterin steckte ihren Kopf herein.

»Ja – ja – Sie können hereinkommen,« sagte Beaufort in namenloser und feiger Furcht; aber Philipp war zur Thür geeilt, blickte die Wärterin an und sagte: »Sie ist eine Fremde! – Sehen Sie, eine Fremde! Der Sohn hat jetzt die ihm gebührende Stelle eingenommen. Gehen Sie, Frau!« er schob sie zurück und verriegelte die Thür.

Und da blickte ihn, wie es seinen widerstrebenden Gefährten angeblickt, ruhig und heilig das Gesicht der stillen Leiche an. Er brach in Thränen aus und fiel so dicht neben Beaufort auf die Kniee, daß er ihn berührte, faßte die schwere Hand und bedeckte sie mit glühenden Küssen. »Mutter! Mutter! verlaß mich nicht! Erwache, lächle noch einmal deinem Sohne! Ich würde dir Geld gebracht haben, doch dann hätte ich nicht um deinen Segen bitten können: Mutter, ich bitte jetzt darum!«

»Wenn ich es nur gewußt hätte – wenn Sie nur an mich geschrieben hätten, mein lieber, junger Herr! aber mein Anerbieten wurde zurückgewiesen und –«

»Welches Anerbieten machten Sie ihr, für die mein Vater sein Herzblut würde hingegeben haben! Meines Vaters Gattin! – Ja seiner Gattin! – Anerbietungen!« –

Er stand plötzlich auf, schlug seine Arme übereinander, trat mit zorniger, entschlossener Stirn vor Beaufort hin und sagte: »Hören Sie mich, Sie besitzen den Reichthum, den ich von meiner Wiege an als meine Erbschaft zu betrachten gewöhnt wurde. Ich habe mit diesen Händen um Brod gearbeitet und mich nimmer beklagt, außer gegen mein eigenes Herz und meine Seele. Ich haßte und verfluchte Sie nie – Räuber, der Sie sind! – Ja, Räuber! Denn selbst wäre keine Trauung vollzogen worden, außer vor den Augen Gottes, so war es doch nicht die Meinung meines Vaters, der Natur und des Himmels, daß Sie Alles nehmen und Nichts übrig lassen sollten, was Sie den Ansprüchen der Zärtlichkeit und des Blutes schuldig waren. Er war nicht weniger mein Vater, selbst wenn die Kirche nicht auf meiner Seite war. Plünderer des Waisen, Verächter der menschlichen Liebe, Sie sind nicht weniger ein Räuber, wenn gleich das Gesetz Sie schützt und die Menschen Sie redlich nennen! Doch ich haßte Sie deßhalb nicht. Jetzt, in der Gegenwart meiner todten Mutter – gestorben fern von ihren beiden Söhnen – jetzt verabscheue und verfluche ich Sie. Sie mögen sich für sicher halten, wenn Sie dieses Zimmer verlassen haben – sicher vor meinem Hasse; es mag sein: aber täuschen Sie sich nicht, der Fluch der Wittwe und Waisen wird Ihnen folgen – sich an Sie und die Ihrigen hängen – in der Mitte des Glanzes an Ihrem Herzen nagen – an dem Erbe ihres Sohnes kleben! Es wird ein Sterbebette kommen, neben dem Sie das Gespenst derjenigen, die jetzt so ruhig daliegt, zur Vergeltung aus dem Grabe werden sich erheben sehen! Diese Worte – nein, Sie werden sie nie vergessen – nach Jahren noch werden sie Ihnen in den Ohren klingen und das Mark in ihren Gebeinen erstarren machen! Und nun gehen Sie, Bruder meines Vaters – gehen Sie von der Leiche meiner Mutter in ihre glänzende Wohnung!«

Er öffnete die Thür und deutete auf die Treppe. Ohne ein Wort zu reden, ging Beaufort aus dem Zimmer. Er hörte die Thür zumachen und schließen, als er die Treppe hinunterstieg, doch er vernahm die tiefen Seufzer und das heftige Schluchzen nicht, durch die der verlassene und verwaiste Jüngling seinen Schmerz ausdrückte, der auf den weniger heiligen Paroxismus der Rache und der Wuth folgte.


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