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Ros. Zum Glück ist er zum zweitenmal zu ihnen gekommen.
Hamlet.
Am folgenden Abend nach der Unterredung, die wir in unserem letzten Kapitel erwähnt haben, war es sehr still in der Vorstadt H*. Die Verlassenheit und Stille der Hauptstadt im September hatte sich auch den benachbarten Weilern mitgetheilt – ein Dorf in der Mitte der Provinz hätte kaum stiller erscheinen können; die Lampen waren angezündet, viele von den Läden schon geschlossen, einige von den nüchternen Paaren und einsamen, alten Jungfern des Orts wanderten langsam heim von ihrem Abendspaziergange; zwei oder drei Hunde spielten auf der Hauptstraße ungeachtet der Verbote, welche die Obrigkeit an den Mauern hatte anheften lassen, von Zeit zu Zeit von einer langsamen Kutsche gestört, die zwischen der Stadt und der Vorstadt hin- und herfuhr oder von einer schnellen Post, die rasch vorüberrollte und von einer Staubwolke und dem lebhaften Horn des Postillons angemeldet wurde. Nach und nach hörten auch diese Zeichen des Lebens auf – die Spaziergänger verschwanden, die Posten waren vorüber, die Hunde machten den späteren und verstohleneren Wanderungen der Katzen Platz, welche den Mond lieben. In weiten Zwischenräumen ergossen die bedeutenderen Kaufläden – die Leinwandhändler, die Apotheker und der Schnapsladen – ihre Lichtströme aus den noch unverschlossenen Fenstern über die Straße. Aber mit diesen Ausnahmen stand das Geschäft des Ortes still.
Um diese Zeit kam aus dem Hause einer Modehändlerin – ein Laden schien es nicht zu sein und an der Thüre war nur ein gelbes Schild, worauf stand: »Miß Semper, Putzhändlerin und Kleidermacherin« – um diese Zeit, sage ich, kam aus diesem Hause die zierliche und anmuthige Gestalt eines jungen Frauenzimmers. In der linken Hand hielt sie einen kleinen Korb, über dessen Inhalt sie so eben verfügt zu haben schien, denn er war leer; und als sie quer über die Straße ging, fiel das Laternenlicht auf ein Gesicht in der ersten Blüthe der Jugend, welches sich durch einen Ausdruck kindlicher Unschuld und Reinheit auszeichnete. Es war ein regelmäßiges und außerordentlich liebliches Gesicht, doch lag etwas darin, was den Beschauer traurig machte; man wußte nicht, was es war, denn es war nicht selber traurig, im Gegentheil die Lippen lächelten und die Augen funkelten. Als sie nun mit leichtem, raschem Schritte über die dunkle Straße dahinschwebte, kam ein Mann, der sich bisher unter dem Eingange des Hauses eines Advokaten verborgen hatte, leise angeschlichen und folgte ihr in geringer Entfernung. Ohne zu wissen, daß sie verfolgt wurde, und ohne Gefahr zu fürchten, ging das Mädchen munter weiter und schwenkte ihren Korb spielend in der Hand hin und her, und sang mit leiser, aber musikalischer Stimme einige Verse, die mehr der Kinderstube, als dem Alter anzugehören schienen, welches die schöne Sängerin bereits erreicht hatte.
Als sie zu einem Winkel kam, den die Hauptstraße mit einer Gasse bildete, dir eng und zum Theil erleuchtet war, sah ein Polizeidiener, der sich dort aufgestellt hatte, sie scharf an und berührte seinen Hut mit einer Miene der Achtung, worin zugleich einiges Mitleid zu liegen schien.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht,« sagte das Mädchen mit freiem und heiterem Tone, als sie an ihm vorüberging.
»Soll ich Sie nach Hause begleiten, Miß?« sagte der Mann.
»Weshalb? Mir ist ganz wohl!« antwortete das junge Frauenzimmer mit einer Betonung und einem Blicke unschuldiger Ueberraschung.
Gerade zu dieser Zeit erreichte der Mann, der ihr bis dahin gefolgt war, die Stelle und ging die Gasse hinunter.
»Ja,« versetzte der Polizeimann; »aber es wird dunkel, Miß.«
»So ist es jeden Abend, wenn ich nach Hause gehe, außer wenn der Mond scheint. – Gute Nacht. Der Mond,« fuhr sie mit sich selber redend fort; »ich pflegte mich vor dem Monde zu fürchten, als ich ein kleines Kind war.« Und nach einer kurzen Pause sang sie leise:
»Der Mond, er ist ein irrer Geist,
Der Nachts zur Strafe umgeht.
Wie traurig ist der Wandelstern,
So lustig er sich umdreht!
Ihm schaut' ich in das Aug' als Kind,
Bis daß mein Hirn sich verwirrt;
Jetzt wein' ich oft und denke mir
Daß es sich nie mehr
entwirrt.«
Als das Gemurmel dieser Worte in der Entfernung verhallte und das Mädchen in der Gasse verschwand, schüttelte der Polizeimann, der ihr zugehört hatte, traurig den Kopf und sagte, während er weiter ging: »Das arme Kind! Man sollte sie nicht so allein gehen lassen; und doch, wer sollte ihr etwas zu Leide thun?«
Inzwischen ging das Mädchen auf der Gasse weiter, die aus kleinen, aber nicht unbedeutenden Häusern bestand, bis dieselbe mit einem Steige endete, der auf den Kirchhof führte. Hier hing die letzte Laterne, und einige trübe Sterne erhellten bleich das hohe Gras und die zerstreuten Grabsteine, ohne den dunklen Schatten zu durchdringen, den die Kirche über einen großen Theil des geheiligten Bodens warf. Gerade als sie über den Steg ging, näherte sich ihr der Mann, den wir vorhin erwähnt haben, und der sich über den Zaun gelehnt hatte, als warte er auf Jemand, und sagte in mildem Tone: »Ah, Miß? Es ist ein einsamer Ort für ein so schönes Wesen, allein zu wandeln. Sie sollten nicht so weit zu Fuß gehen.«
Das Mädchen stand still und sah dem Mann voll, aber ohne Unruhe in's Gesicht.
»Gehen Sie fort!« sagte sie in halb ärgerlichem, halb freundlichem Tone des Befehls. »Ich kenne Sie nicht.«
»Aber ich bin von Jemand, der Sie kennt, geschickt worden, um mit Ihnen zu reden, Miß – von Einem, der Sie bis zur Verzweiflung liebt – der Sie schon früher bei Mrs. West gesehen hat. Es thut ihm so leid, daß Sie zu Fuß gehen – er sagt, Sie sollten jede Bequemlichkeit haben – und deßhalb hat er Ihnen seinen Wagen geschickt. Er hält auf der andern Seite des Kirchhofes. Kommen Sie jetzt.« Und er berührte ihren Arm, doch nur sehr leicht.
»Bei Mrs. West?« sagte sie, und zum ersten Mal zeigte ihre Stimme und ihr Blick einige Furcht. »Gehen Sie sogleich fort! Wie wagen Sie, Fanny anzurühren!«
»Aber meine liebe Miß, Sie haben keinen Begriff davon, wie sehr mein Herr Sie liebt und wie reich er ist. Sehen Sie nur, er schickt Ihnen all' dieß Geld – es ist Gold – ächtes Gold. Sie sollen haben, was Sie wollen, wenn Sie nur mitkommen wollen. Nun, sein Sie nicht thöricht, Miß.«
Das Mädchen antwortete nicht, sondern eilte mit einem plötzlichen Sprunge an dem Manne vorbei und lief leicht und rasch auf dem Wege dahin in entgegengesetzter Richtung von dem, welchen der Versucher angedeutet hatte, als er sie aufgefordert, in den Wagen zu steigen. Der Mann eilte ihr nach, erreichte sie im Augenblicke und hielt sie an ihren Kleidern fest.
»Halt! Sie müssen kommen – Sie müssen!« sagte er drohend, und indem er ihr Kleid losließ, umschlang er ihre Taile mit seinem Arme.
»O nein!« rief das Mädchen bittend und dem Anscheine nach unterwürfig, indem sie ihr schönes, sanftes Gesicht zu ihrem Verfolger wendete und ihre Hände zusammen schlug. »Sein Sie ruhig! Fanny ist eine Thörin, Niemand ist je rauh gegen die arme Fanny.«
»Es will auch Niemand rauh gegen Sie sein, Miß,« sagte der Mann, sich gerührt stellend; »doch ich darf nicht ohne Sie kommen. Sie wissen nicht, wogegen Sie sich sträuben. Kommen Sie.« Und er versuchte, sie sanft zurückzuziehen.
»Nein, nein!« sagte das Mädchen, deren Bitte sich in Zorn verwandelte, und deren Stimme sich zu einem lauten Schrei erhob, »nein! Ich will –«
»Nun dann,« fiel der Mann ein, indem er sich rasch umsah und mit einer schnellen und geschickten Bewegung ein großes Taschentuch über ihr Gesicht warf, und während er es mit der einen Hand fest an ihren Mund hielt, erhob er sie vom Boden. Noch immer heftig ringend, gelang es dem Mädchen, das Tuch von ihrem Munde zu bringen, und noch einmal ertönte ihr Schrei des Schreckens in dem verletzten Heiligthum.
In diesem Augenblicke wurde eine laute und tiefe Stimme gehört: »Wer ruft?« Und eine hohe Gestalt schien sich wie aus dem Grabe zu erheben und aus dem Schatten der Kirche hervorzukommen. Im nächsten Augenblicke wurde der Räuber mit starker Hand an der Schulter ergriffen. »Was ist dieß? Und noch dazu auf geheiligtem Boden! Laß sie los, Elender!«
Der Mann, der aus Aberglauben und zum Theil aus wirklicher Furcht zitterte, ließ seine Gefangene los, die sogleich vor ihrem Retter auf die Kniee fiel.
»Sie werden mir doch auch nicht etwas zu Leide thun wollen,« sagte sie, indem Thränen über ihre Wangen herunter rollten. »Ich bin ein gutes Mädchen – und mein Großvater ist blind.«
Der Fremde beugte sich nieder und erhob sie vom Boden, dann sah er sich mit einem Auge, welches durch die Dunkelheit Feuer sprühte, nach dem Räuber um und bemerkte, daß der Feigling sich davonschlich. Er hielt es nicht der Mühe werth, ihn zu verfolgen.
»Mein armes Kind,« sagte er mit jener Stimme, welche der Starke gegen den Schwachen, der Mann gegen ein verwundetes Kind annimmt – mit der Stimme der zarten Ueberlegenheit und des Mitleids, »Sie haben jetzt keine Ursache, sich zu fürchten, beruhigen Sie sich. Wohnen Sie in der Nähe? Soll ich Sie nach Hause begleiten?«
»Ich danke Ihnen! Das ist gütig von Ihnen! Bitte, thun Sie es!« Und mit kindlichem Vertrauen faßte sie seine Hand, wie ein Kind die einer erwachsenen Person faßt; so gingen sie mit einander weiter.
»Und kennen Sie jenen Mann?« sagte der Fremde. »Hat er Sie schon früher belästigt?«
»Nein – reden Sie nicht von ihm: ce me fait mal!« und sie fuhr mit der Hand über die Stirne.
Das Französisch wurde mit so gut französischem Accent gesprochen, daß der Fremde ihre einfache Kleidung mit einiger Neugierde überblickte.
»Sie sprechen gut Französisch.«
»Meinen Sie? Ich wollte, ich wüßte mehr Wörter – mir fallen nur wenige ein. Wenn ich sehr glücklich oder sehr traurig bin, kommen sie mir in den Kopf. Aber ich bin jetzt glücklich. Mir gefällt Ihre Stimme – und Sie gefallen mir auch. – O, ich habe meinen Korb fallen lassen!«
»Soll ich zurückkehren und ihn holen, oder Ihnen einen andern kaufen?«
»Einen andern? – O nein! – Kommen Sie mit zurück. Wie freundlich Sie sind! – Ah, ich sehe ihn!« Und sie riß sich von ihm los und eilte vorwärts, um ihn aufzuheben.
Als sie ihn wieder hatte, lachte sie – sprach mit ihm – küßte ihn. Ihr Begleiter lächelte und sagte: »Ein Geliebter hat Ihnen wahrscheinlich den Korb gegeben – es scheint übrigens ein ganz gewöhnlicher Korb zu sein.«
»Ich habe ihn – seit – seit – ich weiß nicht, wie lange! Er kam mit mir aus Frankreich und war voll kleiner Spielsachen. Die sind dort und es thut mir so leid!«
»Wie alt sind Sie?«
»Ich weiß nicht.«
»Mein hübsches Kind,« sagte der Fremde mit innigem Mitleid in seiner vollen Stimme, »Ihre Mutter sollte Sie zu dieser Stunde nicht allein ausgehen lassen.«
»Mutter, – Mutter! –« wiederholte das Mädchen im Tone der Ueberraschung.
»Haben Sie keine Mutter?«
»Nein! – Ich hatte einst einen Vater. Aber er starb, wie man sagt. Ich sah ihn nicht sterben. Ich weine zuweilen, wenn ich daran denke, daß ich ihn nie wiedersehen soll! Aber,« sagte sie, indem ihr schwermüthiger Ton in den der Freude überging, »er soll hier ein Grab haben, wie die Väter der andern Mädchen auch – einen schönen Stein darauf – und Alles von meinem Gelde!«
»Von Ihrem Gelde, mein Kind!«
»Ja, von dem Gelde, welches ich verdiene. Ich verkaufe meine Arbeit und bringe das Geld meinem Großvater; aber jede Woche lege ich ein wenig zurück zu einem Grabstein für meinen Vater.«
»Soll der Grabstein auf diesen Kirchhof kommen?« Sie waren jetzt in einer andern Gasse, und während der Fremde sprach, hielt er sie zurück und beugte sich nieder, um ihr in's Gesicht zu sehen, und murmelte dann bei sich selber: »Ist es möglich? – Ja, sie muß es sein!«
»Ja, ich liebe jenen Kirchhof – mein Bruder sagte mir, ich sollte dort Blumen streuen, und Großvater und ich sitzen dort im Sommer, ohne zu reden. Ich spreche überhaupt nicht viel, sondern singe lieber:
Was gut und harmlos ist, sagt man,
Hat eine Stimm' zum Singen –
Das Mädchen bei der Arbeit sitzt,
Der Vogel übt die Schwingen;
Die Kleinen beten in der Kirch',
Den Himmel zu ererben,
Die Engel, sagt man, freuen sich,
Wenn die Bejahrten sterben!«
Und ohne um die verborgene Moral zu wissen, die in den letzten Versen lag, und die finster oder erfreulich sein kann, je nachdem wir den Werth des Lebens schätzen, wendete sich Fanny zu dem Fremden um und sagte: »Warum sollten sich die Engel freuen, wenn die bejahrten Menschen sterben?«
»Weil sie von einer falschen und ungerechten Welt erlöst sind, wo der erste Mensch ein Rebell und der zweite ein Mörder war!« murmelte der Fremde, mit den Zähnen knirschend.
Das Mädchen verstand ihn nicht, schüttelte sanft ihren Kopf und gab keine Antwort. Nach wenigen Augenblicken blieb sie vor einem kleinen Hause stehen.
»Das ist mein Haus.«
»Ist es so?« sagte ihr Begleiter, indem er mit lebhaftem Blicke das Aeußere des Hauses betrachtete; »und Ihr Name ist Fanny?«
»Ja – Jeder kennt Fanny. Kommen Sie mit hinein.« Und das Mädchen öffnete die Thür mit einem Schlüssel. Der Fremde beugte seine stattliche Gestalt, als er durch die niedrige Thür eintrat, und folgte seiner Führerin in ein kleines Zimmer.
An einem Tische, auf welchem ein trübes Licht mit langer Schnuppe brannte, saß ein sehr alter Mann, und als er sein Gesicht zu der Thür wendete, sah der Fremde daß er blind war. Das Mädchen sprang zu seinem Stuhl, schlang ihre Arme um den Hals des alten Mannes und küßte seine Stirne; dann setzte sie sich auf einen Schemel zu seinen Füßen nieder, legte ihre gefalteten Hände auf seine Kniee und sagte: »Großpapa, ich habe dir Jemand mitgebracht, den du lieben mußt. Er ist so gütig gegen Fanny gewesen.«
»Und erinnert ihr Beide euch meiner nicht?« sagte der Gast.
Der alte Mann, dessen ausdrucksloses Gesicht auf kindisches Alter deutete, erhob sich ein wenig bei dem Tone der fremden Stimme.
»Wer ist das?« sagte er matt und ärgerlich. »Wer will Etwas von mir?«
»Ich bin der Freund Ihres verlorenen Sohnes. Ich bin es, der vor zehn Jahren Fanny in Ihr Haus brachte und sie Ihrer Sorgfalt übergab. Und Sie segneten Ihren Sohn und verziehen ihm und gelobten, als Vater an Fanny handeln zu wollen.«
Der alte Mann, der sich jetzt langsam erhoben hatte, zitterte heftig und streckte seine Hände aus. »Kommen Sie nahe – nahe – lassen Sie meine Hände auf Ihren Kopf legen. Ich kann Sie nicht sehen; aber Fanny redet von Ihnen und betet für Sie, und Fanny ist ein Engel für mich gewesen!«
Der Fremde näherte sich und kniete fast nieder, als der alte Mann seine Hände über seinen Kopf ausstreckte und unhörbare Worte murmelte. Todtenblaß – mit halbgeöffneten Lippen – einen lebhaften und schmerzlichen Ausdruck in ihrem Gesichte – blickte Fanny forschend das dunkle, ausdrucksvolle Gesicht des Fremden an, schlich sich Zoll für Zoll näher und berührte furchtsam seine Kleidung, seine Arme, sein Gesicht. »Bruder,« sagte sie endlich zweifelhaft und furchtsam, »Bruder, ich dachte, ich könnte dich nie vergessen! Aber du gleichst meinem Bruder nicht, du bist älter – du bist – du bist! – Nein! Nein! Du bist nicht mein Bruder!«
»Ich bin sehr verändert, Fanny, und du auch!«
Er lächelte, während er sprach, und das Lächeln, welches lieblich und mitleidig war, veränderte den gewöhnlich strengen, ernsten und stolzen Ausdruck seines Gesichtes vollkommen.
»Jetzt kenne ich dich,« rief Fanny im Tone wilder Freude. »Und du kommst aus dem Grabe zurück! Meine Blumen haben dich endlich zurückgebracht! Ich wußte es. Bruder! Bruder!«
Hier warf sie sich an seine Brust und brach in leidenschaftliche Thränen aus. Dann zog sie sich plötzlich zurück, berührte seinen Arm mit ihrem Finger und blickte bittend zu ihm auf.
»Sage mir jetzt, ist er wirklich todt? Er, mein Vater! – Auch er ging plötzlich verloren, wie du. Kann er nicht auch wieder zurückkommen, wie du?«
»So trauerst du noch immer um ihn? Armes Mädchen!« sagte der Fremde ausweichend, indem er sich niedersetzte. Fanny erwartete noch immer eine Antwort auf die rührende Frage; als sie aber keine erhielt, schlich sie sich in einen Winkel des Zimmers, stützte ihr Gesicht auf ihre Hände und schien nachzudenken – endlich flossen Thränen über ihre Wangen nieder und sie weinte still und unbemerkt.
»Aber, Herr,« sagte der Gast nach einer kurzen Pause, »wie kommt dieß? Fanny sagt mir, sie unterstütze Sie durch ihre Arbeit. Sind Sie denn so arm? Ich ließ Ihnen doch Ihres Sohnes Vermächtniß zurück, und Sie selber, wie ich hörte, waren zwar nicht reich, litten aber doch keinen Mangel!«
»Es ruhte ein Fluch auf meinem Gelde,« sagte der alte Mann finster. »Es wurde uns gestohlen.«
Es trat wieder eine Pause ein und endlich brach Simon das Schweigen.
»Und Sie, junger Mann – wie ist es Ihnen ergangen? Ich hoffe, Sie haben Glück gehabt.«
»Ich stehe noch immer, wie vor Jahren, allein in der Welt, ohne Verwandte und Freunde. Aber Gott sei Dank, ich bin kein Bettler!«
»Keine Verwandte und keine Freunde!« wiederholte der Greis. »Keinen Vater – keinen Bruder – kein Weib – keine Schwester!« –
»Keine! Niemand, dem etwas daran liegt, ob ich lebe oder sterbe,« antwortete der Fremde mit einer Mischung von Stolz und Traurigkeit in seiner Stimme. »Aber wie es in dem Liede heißt:
Ich kümmere mich um Niemand nichts,
Und Niemand kümmert sich um mich!«
Es lag ein gewisses Pathos in dem Spotte, womit er diese allbekannten Verse sprach, obgleich er sich zu gleicher Zeit aufraffte, als sei er sich eines gewissen Trostes bewußt, indem er sich auf sich selber verließ und nicht von Andern abhängig war, wozu ihn sein muthiges Herz und seine starken Glieder befähigt hatte.
In dem Augenblicke fühlte er eine sanfte Berührung an seiner Hand und erblickte Fanny, die durch ihre noch fließenden Thränen zu ihm aufsah.
»Du hast Niemand, der für dich sorgt? Sage das nicht! Komm und wohne bei uns, Bruder; wir wollen für dich sorgen. Ich habe nie die Blumen vergessen – nie! Komm! Fanny wird dich lieben. Fanny kann für Drei arbeiten!«
»Und man nennt sie eine Blödsinnige!« murmelte der alte Mann mit leerem Lächeln auf seinen Lippen.
»Meine Schwester! Du sollst meine Schwester sein! Verlorenes Wesen, welches selbst die Natur betrogen und verrathen hat. Schwester! – Wir Beide sind Waisen! – Schwester!« rief der finstere und strenge Mann leidenschaftlich und mit gebrochener Stimme; dann breitete er seine Arme aus, und ohne zu erröthen oder an Scham zu denken, warf sich Fanny an seine Brust. Er küßte ihre Stirne mit einem Kusse, der in der That rein und heilig war, wie der eines Bruders, und Fanny fühlte, daß er eine Thräne auf ihrer Wange zurückgelassen, die nicht von ihr herkam.
»Nun,« sagte er mit veränderter Stimme, indem er des Greises Hand faßte, »was sagen Sie! Soll ich meine Wohnung bei Ihnen aufschlagen? Ich habe ein wenig Geld, ich kann euch Beide beschützen und unterstützen. Ich werde oft fort sein – in London oder anderswo, und werde Sie nicht zu viel mit meiner Gegenwart belästigen. Aber Sie sind blind und Fanny – Sie sollten nicht allein sein. Diese Gegend und jener Kirchhof sind mir theuer. Auch ich habe meine Mutter verloren, Fanny – und jenes Grab« – er hielt inne und setzte mit bebender Stimme hinzu: »und du hast das Grab mit Blumen bestreut?«
»Bleiben Sie bei uns,« sagte der blinde Mann, »nicht um unsertwillen, sondern um Ihrer selbst willen. Die Welt ist ein böser Ort. Ich bin schon längst der Welt überdrüssig gewesen. Ja, kommen Sie und wohnen in der Nähe des Kirchhofes – je näher Sie dem Grabe sind, desto sicherer sind Sie und Sie haben etwas Geld, sagen Sie?«
»Ich will also morgen kommen. Ich muß jetzt fort. Morgen, Fanny, werden wir uns wiedersehen.«
»Mußt du gehen?« fragte Fanny zärtlich. »Aber du wirst wiederkommen. Du weißt, ich glaubte immer, wer mich verließ, stürbe. Ich bin jetzt klüger. Aber dennoch, wenn du mich verlässest, so ist es mir, als wenn du für Fanny gestorben wärest!«
In diesem Augenblicke hatten die drei Personen eine solche Stellung und einen solchen Ausdruck des Gesichtes angenommen, die ein Maler von Geist und Geschicklichkeit gerne würde studirt haben. Der Fremde hatte die Thür erreicht, und als er dastand, bildete seine edle Höhe – seine Stärke und Gesundheit in der Blüthe des Mannesalters zugleich einen seltsamen Gegensatz zu der gespensterartigen Schwäche des Greises und der anmuthigen Zartheit Fanny's, die halb Mädchen, halb noch Kind war. Es lag etwas Fremdes in seiner Miene und in der halb militärischen Kleidung und dem rothen Bande der Ehrenlegion. Seine Gesichtsfarbe war fast so dunkel, wie die eines Mauren, und sein rabenschwarzes Haar lockte sich dicht um seinen stattlichen Kopf. Der militärische Schnurrbart – dicht, aber glänzend wie Seide – beschattete die feste Lippe, und der Spitzbart, den die verbannten Carlisten angenommen, erhöhte die Wirkung der starken und stolzen Züge und den Ausdruck des kriegerischen Gesichts.
Aber als Fanny's Stimme in seinem Ohre erklang, wendete er sein stolzes Gesicht ab, und die dunklen Augen, fast orientalisch in ihrem Glanze und ihrem tiefen Schatten – schienen sanft und feucht. Und da stand Fanny in einer Stellung so unbewußter Traurigkeit und so kindlicher Unschuld; ihre Arme niederhängend – ihr Gesicht lebhaft zu dem seinigen gewendet – und ein halbes Lächeln auf den Lippen, welches die auf den Wangen noch nicht getrockneten Thränen nur um so rührender machte. Während der hagere, schwache, alte Mann mit weißem Haar und gefurchten Wangen die blinden Augen in das Leere richtete, wurde sein Gesicht, welches gewöhnlich nur den Geistesschlaf des vorrückenden kindischen Alters ausdrückte, plötzlich ernst und gedankenvoll, als Fanny vom Tode sprach.