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Constanze. Wo bist du denn, mein Sohn?
– Was wird aus mir?
König Johann.
Es war drei Tage nach dem Tode Philipp Beaufort's – denn der Wundarzt kam nur, um den Ausspruch des Stallknechts zu bestätigen. In dem Gesellschaftszimmer des Landhauses, bei geschlossenen Fenstern, lag die Leiche im Sarge, der Deckel war noch nicht geschlossen. Am Boden ausgestreckt lag thränenlos, sprachlos die unglückliche Katharina; der arme Sidney, zu jung, um seinen ganzen Verlust zu begreifen, schluchzte an ihrer Seite, während Philipp abgesondert von ihnen neben dem Sarge saß und stumm auf das kalte erstarrte Gesicht hinsah, welches nie einen finstern Blick für seine knabenhaften Thorheiten gehabt hatte.
In einem andern Zimmer, welches der letzte Besitzer sein Studirzimmer genannt hatte, saß Robert Beaufort. Alles in diesem Zimmer erinnerte an den Dahingeschiedenen. Zum Theil von dem übrigen Hause getrennt, stand es vermöge einer Wendeltreppe mit einem obern Zimmer in Verbindung, wohin Philipp sich zu begeben pflegte, wenn er spät und allzu heiter von einem ländlichen Feste zurückkehrte. Ueber einem zierlichen, altmodischen Bureau von niederländischer Arbeit, welches Philipp in den ersten Jahren seiner Verheirathung in einer Auktion gekauft hatte, befand sich Katharinens Bild in der Blüte ihrer Jugend. An einem Pflock neben der Thüre, die zu der Treppe führte, hing noch sein grober Reitmantel. Das Fenster ging auf den Weideplatz hinaus, wo die alten Jagdpferde und ungeschulten Füllen frei grasten. An den Wänden des Studirzimmers – eine sehr unpassende Benennung – Kupferstiche von merkwürdigen Fuchsjagden und berühmten Jagdrennen. Flinten, Angelruthen und Fuchsschwänze waren mit weidmännischer Zierlichkeit geordnet und ersetzten die Stelle der Bücher. Auf dem Kamingesimse stand eine Cigarrenkiste und lag ein Buch über Thierheilkunde und die letzte Nummer von dem Journal für Jäger. In jenem Zimmer, welches das männliche, abgehärtete, ländliche Leben des Verstorbenen gekannt hatte, saß der gebückte, abgelebte Robert Beaufort, jetzt gesetzlicher Erbe, allein; denn noch an dem Todestage hatte er seinen Sohn mit einem Briefe an seine Frau heimgeschickt, um ihr die Veränderung in seinen Glücksumständen anzukündigen und ihr aufzutragen, seinen Advokaten mit Extrapost in das Sterbehaus zu senden. Das Bureau und die Schubladen, sowie die Koffer, welche die Papiere des Verstorbenen enthielten, waren offen; der Inhalt war durchsucht worden; kein Zeugniß über die geheime Trauung, keine Andeutung über ein solches Ereigniß, kein Papier war gefunden worden, worin die letzten Wünsche des verstorbenen reichen Mannes ausgesprochen waren. Er war gestorben und hatte keine Andeutung seines Willens hinterlassen. Robert Beaufort's Gesicht war ruhig und gefaßt.
Es wurde an die Thüre geklopft und der Advokat trat ein.
»Herr, die Leichenbesorger sind da und Herr Greaves hat befohlen, die Glocken läuten zu lassen; um drei Uhr wird er zu der Leichenfeierlichkeit bereit sein.«
»Ich bin Ihnen verbunden, Blackwell, daß Sie diese traurigen Geschäfte übernehmen. Mein armer Bruder! – Es war so plötzlich! Aber das Leichenbegängniß, sagen Sie, soll heute stattfinden?«
»Das Wetter ist so warm!« sagte der Advokat, seine Stirn abwischend, und während er sprach, hörte man die Todtenglocke.
Es trat eine Pause ein.
»Es müßte ein schrecklicher Schlag für Mrs. Morton sein, wenn sie wirklich seine Frau wäre,« sagte Blackwell; »doch ich vermuthe, Personen solcher Art haben wenig Gefühl. Ich muß sagen, es war ein Glück für die Familie, daß dieses Ereigniß geschah, ehe Herr Beaufort sich zu einer so unpassenden Heirath bewegen ließ.«
»Es war in der That ein Glück, Blackwell. Haben Sie die Postpferde bestellt? Ich werde gleich nach dem Leichenbegängniß aufbrechen.«
»Was soll mit dem Landhäuschen geschehen, Herr?«
»Sie können es zum Verkauf ausschreiben.«
»Und Mrs. Morton und die Knaben?«
»Hm – wir wollen es überlegen. Sie ist die Tochter eines Handelsmannes. Ich denke, ich sollte wohl anständig für sie sorgen, he?«
»Es ist mehr als die Welt von Ihnen erwarten kann, Herr; ganz anders wäre der Fall, wenn sie wirklich seine Frau wäre.«
»O, ganz anders in der That! Klingeln Sie, daß man ein brennendes Licht bringt, wir wollen diese Schränke versiegeln. Und – ich denke, ich könnte wohl ein Butterbrod mit Fleischschnitten essen! – Der arme Philipp!«
Das Leichenbegängniß war vorüber, der Todte in die Erde gesenkt. Wie seltsam scheint es, daß dieselbe Person, die wir so hoch priesen, die wir von den Winden nicht wollten rauh berühren lassen, die wir in unsern Armen vor der Kälte schützten, von deren Fußtritten wir jeden Stein würden entfernt haben, so plötzlich aus dem Gesicht geschafft wird – als etwas Abscheuliches, was die Lebenden nicht ansehen können – als etwas Verächtliches und Ekelhaftes, was verborgen und vergessen werden muß!
Und dieselbe Composition von Knochen und Muskeln, die noch gestern so stark war – welche Männer achteten, Weiber liebten und an die sich die Kinder anklammerten – heute so machtlos und unfähig, die zu vertheidigen und zu schützen, die dem Verstorbenen zunächst am Herzen lagen; seine Reichthümer ihm entrissen, seine Wünsche verächtlich behandelt, sein Einfluß mit dem letzten Seufzer dahinsterbend! Ein Athemzug von seinen Lippen macht all jenen mächtigen Unterschied zwischen dem was war und ist!
Die Postpferde standen vor der Thür, als der Leichenzug zu dem Hause zurückkehrte.
Robert Beaufort verbeugte sich steif gegen Mrs. Morton und sagte, indem er sein Taschentuch noch vor den Augen hielt: »Ich werde Ihnen in wenigen Tagen schreiben, Madame; Sie sollen finden, daß ich Sie nicht vergesse. Das Landhaus wird verkauft werden; aber wir wollen Sie nicht drängen. Leben Sie wohl, Madame; lebt wohl, Kinder!« und er streichelte seinem Neffen den Kopf.
Philipp schlich sich auf die Seite und machte ein finsteres und stolzes Gesicht gegen seinen Onkel, der bei sich selber murmelte: »Aus diesem Knaben wird nichts Gutes werden!« Der kleine Sidney steckte seine Hand in die des reichen Mannes und sah ihm bittend ins Gesicht: »Kannst du der armen Mama nicht etwas Angenehmes sagen, Onkel Robert?«
Beaufort räusperte sich und stieg in die Droschke, die seinem Bruder gehört hatte. Der Rechtsgelehrte folgte und sie fuhren ab.
Eine Woche nach dem Leichenbegängniß schlich sich Philipp in das Gewächshaus, um einige Früchte für seine Mutter zu holen; sie hatte seit Beaufort's Tode fast gar nichts genossen. Sie war zu einem Schatten abgemagert; ihr Haar war grau geworden. Jetzt endlich hatte sie Thränen gefunden und weinte still, aber unaufhörlich.
Der Knabe hatte einige Trauben gepflückt und legte sie sorgfältig in seinen Korb; er war im Begriff, einen Pfirsich auszuwählen, der reifer schien als die übrigen, als seine Hand heftig ergriffen wurde und John Green's, des Gärtners, rauhe Stimme rief: »Was haben Sie vor, Master Philipp? Sie dürfen sie nicht berühren, ehe sie reif sind!«
»Was nimmst du dir heraus, Kerl!« rief der junge Herr im Tone des Erstaunens und der Wuth.
»Lassen Sie nur ihre hochmüthige Miene, Master Philipp! Was ich meine, ist, daß morgen einige vornehme Leute kommen werden, um das Haus anzusehen, und ich will auch meine Früchte zeigen können und nicht zugeben, daß ein junger Bube, wie Sie, sie antastet. Verstehen Sie mich, Master Philipp?«
Der Knabe wurde sehr blaß, aber schwieg, und der Gärtner, der sich freute, die früher erlittene üble Behandlung vergelten zu können, fuhr fort: »Sie dürfen nicht so verächtlich umblicken, junger Herr; Sie sind kein so großer Mann, wie Sie sich einbildeten; jetzt sind Sie nichts, wie Sie bald finden werden. So marschiren Sie hinaus, wenn's beliebt; ich will die Glasthüre wieder schließen.«
Während er sprach, faßte er den Knaben rauh am Arm; aber Philipp, der jähzornigste aller Menschen, war stark für seine Jahre und furchtlos wie ein junger Löwe. Er ergriff eine Gießkanne, die der Gärtner niedergesetzt hatte, während er seinem ehemaligen Tyrannen Vorwürfe machte, und schlug den Mann so heftig und plötzlich damit über's Gesicht, daß er auf die Beete zurückfiel und das Glas unter ihm zerbrach. Philipp wartete nicht, bis sein Feind wieder auf die Beine kam, sondern nahm seine Trauben, setzte sich ruhig in den Besitz des bestrittenen Pfirsichs, verließ den Ort, und der Gärtner hielt es nicht für klug, ihn zu verfolgen. Für Knaben unter gewöhnlichen Verhältnissen – für Knaben, die ihren Weg durch eine Kinderstube, wo sie viel gescholten werden, durch eine Familie, wo es auch nicht an Vorwürfen fehlt, oder durch eine öffentliche Schule bahnen müssen – würde nichts in diesem Wortwechsel gelegen haben, was sich ihrem Gedächtniß einprägen oder ihre Nerven, nachdem der erste Ausbruch der Leidenschaft vorüber war, hätte erbeben machen sollen; aber für Philipp Beaufort war es eine Epoche im Leben; es war die erste Beleidigung, die ihm je widerfahren war; es war sein Eintritt in die veränderte, rauhe und schreckliche Laufbahn, wozu der verzogene Liebling der Eitelkeit und Liebe sich von jetzt an verurtheilt sah. Sein Stolz und seine Selbstachtung hatten einen furchtbaren Schlag erlitten. Er trat in's Haus und es überfiel ihn eine Schwäche; seine Glieder zitterten; er setzte sich im Vorsaal nieder und stellte den Korb mit den Früchten neben sich hin, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte. Es waren nicht die Thränen eines Knaben, die aus seichter Quelle fließen; es waren die glühenden, qualvollen, widerstrebenden Thränen, welche Männer vergießen, und die gleichsam das Blut aus dem Herzen pressen. Man hatte ihn nie in die Schule geschickt, damit ihm keine Kränkung widerfahren möchte. Er hatte verschiedene Lehrer gehabt, die ihm Respekt beweisen mußten, anstatt Respekt von ihm zu fordern. Einer folgte dem Andern nach seiner eigenen Laune und Willkür. Vermöge seiner schnellen Auffassungsgabe hatte er sich indeß mehr Kenntnisse angeeignet, obgleich von gemischter und unzusammenhängender Art, als Knaben seines Alters gewöhnlich besitzen, und seine umherschweifende, unabhängige Lebensweise hatte dazu gedient, seinen Verstand frühzeitig zu reifen. Ungeachtet aller Vorsicht war er zu einiger, wenn gleich nicht sehr deutlicher Kenntniß seiner eigenthümlichen Stellung gelangt; doch hatte er bis zu dem Tage keine Unbequemlichkeit davon verspürt. Er begann jetzt seine Augen auf die Zukunft zu richten und unbestimmte und dunkle Ahnungen – ein Bewußtsein, daß er mit seines Vaters Tode den Beschützer, den Schutz und Rang verloren habe – überliefen ihn kalt. Während er so nachdachte, wurde die Glocke geläutet; er erhob seinen Kopf; es war der Postbote mit einem Briefe. Philipp stand heftig auf, nahm mit abgewendetem Gesichte, worauf die Thränen noch nicht getrocknet waren, den Brief an, ergriff dann den kleinen Korb mit Früchten und ging in seiner Mutter Zimmer.
Die Fensterladen waren halb geschlossen wegen des hellen Tages – o, welch ein Hohn liegt in dem Lächeln der glücklichen Sonne, wenn sie den Elenden anscheint! Mrs. Morton saß oder hockte vielmehr mit niederhängendem Kopfe in einem fernen Winkel, ihre thränenvollen Augen in das Leere gerichtet, ohne auf etwas zu achten, das wahre Bild des verlassenen Kummers, und Sidney flocht Blumenketten zu ihren Füßen.
»Mama! – Mutter!« flüsterte Philipp, indem er ihren Hals mit seinen Armen umschlang, »blicke auf! blicke auf! Mein Herz bricht, dich so zu sehen. Koste diese Früchte; du wirst auch sterben, wenn du so fortfährst; und was wird aus uns – aus Sidney werden?«
Mrs. Morton sah verwirrt zu seinem Gesichte auf und bemühte sich zu lächeln. »Sieh auch, ich habe dir einen Brief gebracht; vielleicht eine gute Nachricht; soll ich das Siegel brechen?«
Mrs. Morton schüttelte sanft den Kopf und nahm den Brief. Ach! wie verschieden war er von dem, welchen Sidney ihr vor noch nicht vierzehn Tagen überreicht hatte – es war Robert Beaufort's Hand. Sie schauderte und legte ihn nieder. Zum erstenmal wurde ihr wie von einem Blitz ihre seltsame Lage und die schreckliche Zukunft erhellt. Was waren ihre Söhne von jetzt an? was sie selber? So heilig auch das Band ihrer Ehe war, das Gesetz konnte gegen sie entscheiden. Das Schicksal von drei Personen konnte von Robert Beaufort's Verfügung abhängen. Sie schnappte nach Luft, nahm den Brief wieder auf und überblickte den Inhalt; er lautete folgendermaßen:
»Liebe Madame!
»Da ich weiß, daß Sie natürlich begierig sein werden, Ihre und Ihrer Kinder künftige Aussichten zu erfahren, da mein armer Bruder Sie ohne alle Versorgung gelassen hat, so benutze ich die erste Gelegenheit, Sie von meinen Absichten zu benachrichtigen. Ich darf Ihnen nicht erst sagen, daß Sie eigentlich keine Art von Anspruch an die Verwandten meines verstorbenen Bruders haben; auch will ich Ihre Gefühle nicht durch jene moralischen Betrachtungen verletzen, die, wie ich hoffe, zu dieser Zeit des Kummers sich Ihnen unwillkürlich aufdrängen müssen. Ohne weiter auf Ihre eigenthümliche Verbindung mit meinem Bruder anzuspielen, mag es mir indeß erlaubt sein, hinzuzufügen, daß diese Verbindung wesentlich dazu beitrug, ihn von den rechtmäßigen Mitgliedern seiner Familie zu trennen, und indem ich mich mit ihnen über Ihre und Ihrer Kinder Versorgung berathe, finde ich, daß außer den zu beachtenden Bedenklichkeiten eine sehr natürliche Erbitterung in ihren Gemüthern obwaltet. Aus Achtung gegen meinen armen Bruder, obgleich ich ihn in den letzten Jahren wenig sah, bin ich bereit, jene Gefühle auf die Seite zu setzen, die ich, wie Sie leicht einsehen werden, als Vater und Gatte mit den übrigen Mitgliedern meiner Familie theile. Sie werden sich jetzt wahrscheinlich entschließen, sich bei Ihren eigenen Verwandten aufzuhalten, und damit Sie ihnen nicht gänzlich zur Last sein mögen, will ich Ihnen hundert Pfund jährlich aussetzen, die, wenn Sie es vorziehen, vierteljährlich können ausgezahlt werden. Sie können auch einiges Leinzeug und Silbergeschirr auswählen, wovon ich das Verzeichniß beischließe. Was Ihre Söhne betrifft, so bin ich nicht abgeneigt, sie in eine lateinische Schule zu schicken, und wenn sie das gehörige Alter haben, sie ein Geschäft lernen zu lassen, welches ihrem künftigen Stande angemessen ist, über dessen Wahl Ihre eigene Familie Ihnen den besten Rath ertheilen kann. Wenn sie sich anständig betragen, so können sie stets auf meinen Schutz rechnen. Ich will Ihren Auszug nicht beschleunigen; aber wahrscheinlich wird es schmerzlich für Sie sein, länger, als durchaus nöthig ist, an einem Ort zu bleiben, der so viele unangenehme Erinnerungen in Ihnen erwecken muß, und da das Landhäuschen soll verkauft werden und mein Schwager, der Lord Lilburne, meint, er werde Gebrauch davon machen können, so werden Sie häufig von Fremden belästigt werden, die es ansehen wollen, und Sie werden wohl einsehen, daß Ihr verlängerter Aufenthalt zu Fernside dem Verkaufe hinderlich ist. Ich erlaube mir, eine Anweisung auf hundert Pfund beizuschließen, damit Sie Ihre gegenwärtigen Ausgaben bestreiten können, und bitte, wenn Sie sich anderswo niedergelassen haben, mir mitzutheilen, wo das erste Viertel des Jahresgehalts ausbezahlt werden soll.
»Ich werde an Herrn Jackson schreiben – so heißt, meine ich, der Schultheiß – um ihm meine Instruktionen in Betreff des Verkaufs der Pferde, der Entlassung der Diener u. s. w. zu ertheilen, so daß Sie keine weitere Mühe damit haben.
»Ich bin, Madame,
»Ihr gehorsamer Diener
»
Robert Beaufort.«
»Berkeley-Square, den 12. Sept. 18..«
Der Brief fiel Katharinen aus den Händen. Ihr Kummer hatte sich in Unwillen und Verachtung verwandelt.
»Der Unverschämte!« rief sie mit sprühenden Augen. »Dies mir! – mir! – der Gattin, der rechtmäßigen Gattin seines Bruders! der Mutter der rechtmäßigen Kinder seines Bruders!«
»Sage das noch einmal, Mutter! – noch einmal!« rief Philipp mit lauter Stimme. »Seine Gattin! – seine angetraute Gattin!«
»Ich schwöre es,« sagte Katharina feierlich. »Ich bewahrte das Geheimniß um eures Vaters willen. Um Euretwillen aber muß jetzt die Wahrheit bekannt gemacht werden.«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« murmelte Philipp mit bebender Stimme, indem er seinen Bruder umarmte. »Unser Name ist nicht gebrandmarkt, Sidney.«
Bei diesen Worten, die so voll unterdrückter Freude und geheimen Stolzes waren, fühlte die Mutter sogleich Alles, was ihr Sohn geargwöhnt und verheimlicht hatte. Sie fühlte, daß unter seinem stolzen und ungeregelten Charakter eine zarte und edle Rücksicht für sie verborgen gelegen; daß selbst seine Fehler aus seiner zweideutigen Stellung geflossen, und ein Schmerz der Reue über das lange Opfer, welches die Kinder dem Vater dargebracht, fuhr durch ihr Herz. Eine Furcht, eine schreckliche Furcht folgte, die noch schmerzlicher war, als die Reue. Die Beweise, die sie und ihre Kinder vor der Welt von der Schande befreien sollten! Die Worte ihres Gatten an dem letzten schrecklichen Morgen tönten ihr in die Ohren. Der Pfarrer todt, der einzige Zeuge abwesend, das Register vernichtet! Aber die Abschrift jenes Registers! Die Abschrift! konnte nicht die hinreichen? Sie seufzte und schloß ihre Augen, als wollte sie die Zukunft aufschließen; dann sprang sie auf, eilte aus dem Zimmer und ging gerade zu Beaufort's Studirzimmer. Als sie den Thürdrücker faßte, erbebte sie und fuhr zurück. Aber die Sorge für die Lebenden war in dem Augenblick stärker, als die Trauer um den Todten: sie trat in das Zimmer; sie ging mit festem Schritte auf das Bureau zu. Es war verschlossen und Robert Beaufort's Siegel auf dem Schloß. Dasselbe Siegel auf jedem Schrank, auf jedem Koffer deutete auf Rechte, die mehr geachtet wurden als ihre eigenen. Aber Katharina ließ sich nicht schrecken, sie wendete sich um und erblickte Philipp an ihrer Seite; sie deutete schweigend auf das Bureau; der Knabe verstand sie sogleich. Er verließ das Zimmer und kehrte in wenigen Augenblicken mit einem Meißel zurück. Das Schloß wurde erbrochen; zitternd und begierig untersuchte Katharina den Inhalt, öffnete ein Papier nach dem andern, einen Brief nach dem andern, vergebens: kein Trauungsschein, kein Testament, kein Tagebuch war zu finden. Sollte der Bruder den unheilvollen Beweis weggenommen haben? Ein Wort genügte Philipp zu erklären, was sie suchte, und er suchte noch genauer als sie. Ueberall wurde nachgesucht, wo Papiere verborgen sein konnten, nicht nur in jenem Zimmer, sondern auch im ganzen Hause, doch Alles war vergebens.
Drei Stunden später waren sie in demselben Zimmer, wo Philipp seiner Mutter Robert Beaufort's Brief gebracht hatte. Katharina saß thränenlos aber todtenblaß mit bekümmertem Herzen da.
»Mutter,« sagte Philipp, »darf ich jetzt den Brief lesen?«
»Ja, Knabe, und entscheide für uns Alle.« Sie schwieg und beobachtete sein Gesicht, während er las. Er fühlte, daß ihr Auge auf ihn gerichtet war und unterdrückte seine Bewegungen. Als er zu Ende gelesen, erhob er seinen dunklen Blick zu Katharinens Gesichte.
»Mutter, mögen wir nun zu unserem Recht gelangen oder nicht, so wirst du dennoch die Barmherzigkeit dieses Mannes ausschlagen. Ich bin jung – ein Knabe; aber ich bin stark und thätig. Ich will Tag und Nacht für dich arbeiten. Ich vermag es – das fühle ich; Alles will ich lieber als sein Brod essen.«
»Philipp! Philipp! du bist mein echter Sohn; deines Vaters Sohn! Und hast du keinen Vorwurf für deine Mutter, die so ungerecht handelte, dein Geburtsrecht zu verbergen, bis leider die Entdeckung zu spät war? O, mache mir Vorwürfe, mache mir Vorwürfe! Es wird eine Güte von dir sein. – Nein! küsse mich nicht! ich kann es nicht ertragen. Mein Sohn! wenn, wie mein Herz mir sagt, uns der Beweis mißlingt, weißt du, was ich in den Augen der Welt bin und was Ihr seid?«
»Ich weiß es!« sagte Philipp mit Festigkeit, indem er zu ihren Füßen auf die Kniee fiel. »Wie auch Andere dich nennen mögen, du bist meine Mutter und ich dein Sohn. Du bist nach dem Urtheil des Himmels meines Vaters Gattin und ich sein Erbe.«
Katharina beugte ihr Haupt nieder und sank mit einem Thränenstrom in seine Arme. Sidney schlich sich zu ihr und drückte seine Lippen auf ihre kalte Wange. »Mama! was quält dich, Mama! Mama!«
»O Sidney! Sidney! Wie ähnlich seinem Vater! Sieh ihn an, Philipp! Thun wir recht, selbst diese Kleinigkeit auszuschlagen? Soll auch er ein Bettler sein?«
»Nimmermehr ein Bettler!« sagte Philipp mit einem Stolze, der zeigte, welche harte Lehren er noch zu lernen habe. »Die rechtmäßigen Söhne eines Beaufort sind nicht geboren, ihr Brod zu betteln!«