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Constanze. Wenn ich ihn wiederseh' am Hof des Himmels,
Werd' ich ihn nicht erkennen.
König Johann.
Eines Abends, als der Laden geschlossen und das Geschäft beendet war, saß Roger Morton mit seiner Familie in dem zierlichen und bequemen Zimmer, welches sich gewöhnlich hinter dem Laden eines englischen Handelsmannes befindet. Glücklich ist oft jenes kleine Heiligthum, so nahe und doch so fern von der Anstrengung und Sorge des geschäftigen Marktes, wovon der bescheidene Wohlstand und die friedliche Sicherheit desselben sich herleiten. Man blicke nur jene Reihen geschlossener Laden in einer Stadt hinunter und stelle sich die freudigen und stillen Gruppen vor, die drängend versammelt sind bei jenem nächtlichen geselligen Mahle, welches die Gewohnheit den müßigeren Klassen versagt hat, die weder arbeiten noch spinnen. Zwischen die beiden Extreme des Lebens gestellt, ist der Handelsmann, der sich nicht über seine Mittel hinaus wagt, seine Bücher in Ordnung hält und sichern Gewinn sieht, mit Beschäftigung genug, die ihm gesunde Bewegung gewährt, und mit Vermögen genug, um nicht jedes neugeborne Kind mit einem Seufzer begrüßen zu müssen, sowohl von denen, die über ihm, als von denen, die unter ihm stehen, zu beneiden – wenn das ruhelose Herz des Menschen je die Zufriedenheit beneidete!
»So wird also der kleine Knabe nicht kommen?« sagte Mrs. Morton, indem sie Messer und Gabel kreuzte und ihren Teller von sich schob, als Zeichen, daß sie ihr Abendessen beendet hatte.
»Ich weiß nicht. – Kinder, geht zu Bette; so – so ist's recht –. Gute Nacht! – Katharina sagt weder ja noch nein. Sie fordert Zeit, sich zu bedenken.«
»Es war ein sehr hübsches Anerbieten von unserer Seite; manche Leute stoßen ihr eigenes Glück von sich.«
»Das ist sehr wahr, meine Liebe, und du bist eine sehr verständige Frau. Käthchen selber hätte eine anständige Frau sein können, und was noch mehr ist, eine sehr reiche Frau. Sie hätte den jungen Brauer Spencer heirathen können – einen vortrefflichen Mann und sehr wohlhabend!«
»Spencer! ich erinnere mich seiner nicht!«
»Nein, als sie entfloh, zog er sich vom Geschäfte zurück und verließ den Ort. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er war mächtig in sie verliebt. Sie war ungewöhnlich schön, meine Schwester Katharina.«
»Schön ist, wer schön handelt, Morton,« sagte die Frau, die sehr von den Pocken gelitten hatte. »Wir alle haben unsere Versuchungen und Prüfungen; dieß ist ein Jammerthal, und ohne Gnade sind wir übertünchte Gräber.«
Morton mischte seinen Grog und rückte seinen Stuhl in seinen gewöhnlichen Winkel.
»Hast du deines Bruders Brief gelesen,« sagte er nach einer Pause; »er legt dem jungen Philipp ein sehr gutes Lob bei.«
»Das menschliche Herz ist sehr trügerisch,« versetzte Mrs. Morton, die, beiläufig gesagt, ein wenig durch die Nase schnarrte. »Gebe der Himmel, daß er sein möge, was er scheint; aber jung gewohnt, alt gethan.«
»Wir müssen das Beste hoffen,« sagte Morton milde, »und wirf noch ein Stück Zucker in den Grog, meine Liebe.«
»Es ist doch sehr gut, daß wir den andern kleinen Buben nicht bekommen haben. Ich wette, er hat den Katechismus noch nicht einmal gelernt: diese Leute wissen nicht, welche Pflichten eine Mutter hat. Ueberdieß wäre es auch sehr widerwärtig, Morton; wir hätten nie sagen können, wer er eigentlich sei, und ich zweifle nicht, daß Miß Pryinall dieß sehr übel aufgenommen hätte.«
»Miß Pryinall mag zum –!« hier hielt Morton inne, nahm einen großen Schluck Grog und setzte hinzu: »Miß Pryinall will auch ihren Finger in Jedermanns Pastete haben.«
»Aber sie kauft viel Flanell und thut in der Stadt viel Gutes; und sie war es, welche ausfindig machte, daß Mrs. Giles nicht so gut ist, wie sie hätte sein sollen.«
»Die arme Mrs. Giles! – Sie kam in das Arbeitshaus.«
»Die arme Mrs. Giles, in der That! Es wundert mich, Morton, daß du als verheiratheter Mann und Familienvater die arme Mrs. Giles sagst!«
»Meine Liebe, wenn Leute, die wohlhabend gewesen sind, in's Arbeitshaus kommen, so kann man sie wohl arm nennen; aber davon ist hier nicht die Rede; nun wenn der Knabe zu uns kommt, müssen wir ein scharfes Auge auf Miß Pryinall haben.«
»Ich hoffe, er wird nicht kommen – es würde sehr unangenehm sein. Und wenn ein Mann Weib und Kinder hat, so ist es um so besser, je weniger er sich mit anderen Leuten und ihren Kindern zu thun macht. Denn die Schrift sagt: Ein Mann soll seinem Weibe anhangen und –«
Hier wurde laut und heftig an der Thürglocke geläutet und Mrs. Morton brach in die Worte aus:
»Ei! das gesteh' ich! zu dieser Stunde; wer kann das sein? und alle sind schon zu Bette? Geh und sieh nach, Morton.«
Widerstrebend und langsam stand Morton auf, ging zu dem Gange und riegelte die Thür auf. Eine kurze und leise Unterredung folgte, worüber Mrs. Morton sehr ungeduldig wurde, die mit dem Licht in dem Gange stand.
»Was ist, Morton?«
Morton kehrte zurück und sah aufgeregt aus.
»Wo ist mein Hut? O, hier. Meine Schwester ist angekommen, im Gasthause.«
»Mein Himmel! Sie wird sich doch nicht als deine Schwester nennen?«
»Nein, nein; hier ist das Billet – nennt sich eine Dame, die krank ist. Ich werde bald zurück sein.«
»Sie kann nicht hierherkommen – sie soll nicht hierherkommen, Morton. Ich bin ein rechtschaffenes Weib – sie kann nicht hierherkommen. Du verstehest mich.«
Morton hatte von Natur ein strenges Gesicht, strenge gegen Jedermann, nur nicht gegen seine Frau. Die schrillen Töne, die er so lange gewohnt war, drangen in sein Herz wie in sein Ohr. Er machte ein finsteres Gesicht.
»Pah! Frau, du hast kein Gefühl!« sagte er, ging zum Hause hinaus und zog seinen Hut über die Stirn.
Dies war die einzige rauhe Rede, die Morton je an seine bessere Hälfte gerichtet hatte. Sie bewahrte dieselbe auf in ihrem Herzen und Gedächtniß; sie verband sie mit der Schwester und dem Kinde, und sie war keine Frau, die je vergab.
Morton schritt rasch durch die stillen, mondhellen Straßen, bis er das Gasthaus erreichte. In einem von den untern Zimmern wurde an jedem Abend ein Club gehalten, und als er die Schwelle überschritt, rief man ihm »Hurrah« entgegen, stampfte mit den Füßen und klirrte mit den Gläsern. Er war ein steifer, nüchterner, respektabler Mann – ein Mann, der, außer bei Wahlen – er war ein großer Politiker – sich nie unter die Gelage der lärmenden Stadtbewohner mischte. Die Töne und der Ort waren ihm unangenehm. Er blieb stehen, und seine Wange wurde roth. Er war beschämt, da zu sein – beschämt, der verlassenen und, wie er glaubte, irrenden Schwester zu begegnen.
Ein hübsches Dienstmädchen, von Befehlen und Complimenten erhitzt und geröthet, eilte ihm mit einem Teller mit Gläsern über den Weg.
»Ist eine fremde Dame angekommen?«
»Ja, Herr, sie logirt eine Treppe hoch; Nr. 2, Herr Morton.«
Herr Morton! er erbebte beim Klange seines eigenen Namens. »Meine Frau hat Recht,« murmelte er. »Es ist dennoch unangenehmer, als ich dachte.«
Die leicht gebaute Treppe erbebte unter seinen hastigen Schritten. Er öffnete die Thür von Nr. 2 und jene Katharina, die er zuletzt im Alter von sechszehn Jahren in der Blüthe der Jugend gesehen, und die, wäre ihre stolze Miene nicht gewesen, für das Modell einer Hebe hätte gelten können – jene Katharina, alt, ehe ihre Jugend noch vorüber war, bleich, dahingewelkt, das dunkle Haar voll silberner Streifen, die Wangen hohl und das Auge trübe – jene Katharina sank an seine Brust!
»Gott segne dich, Bruder! Wie gütig von dir, zu kommen! Wie lange, seit wir uns nicht gesehen haben!«
»Setze dich nieder, Katharina, liebe Schwester. Du bist matt – du bist sehr verändert – gar sehr. Ich hätte dich nicht wieder erkannt.«
»Ich habe meinen Knaben mitgebracht, Bruder; es ist schmerzlich, mich von ihm zu trennen – sehr – sehr schmerzlich; aber es ist recht, und Gottes Wille geschehe.« Während sie sprach, wendete sie sich zu einem kleinen, unförmlichen Zwerge von Sopha, der sich in dem dunkelsten Winkel des niedrigen und düsteren Zimmers zu verbergen schien, und Morton folgte ihr. Mit der einen Hand zog sie den Shawl zurück, den sie über das Kind geworfen, hielt den Zeigefinger der andern an ihre Lippen und flüsterte: »Wir wollen ihn nicht wecken, er ist so ermüdet. Aber ich wollte ihn nicht zu Bette bringen, bis du ihn gesehen hattest.«
Und dort schlief der arme Sidney, seine schöne Wange ruhte auf seinem Arm, die weichen, seidenen Ringellocken aus der zarten und unumwölkten Stirn entfernt; die natürliche Farbe erhöht durch Wärme und Anstrengung der Reise; das liebliche Gesicht so unschuldig und still: der Athemzug so sanft und regelmäßig, als sei er nie von einem Seufzer unterbrochen worden.
Morton fuhr mit der Hand über seine Augen.
Es lag etwas sehr Rührendes in dem Contraste zwischen dem wachsamen, ängstlichen und unglücklichen Weibe und dem Schlummer des bewußtlosen Knaben. Und wessen Brust, dem das Licht der christlichen Liebe, der natürlichen Zärtlichkeit je gedämmert, hätte in jenem Augenblick vermuthen können, daß das Urtheil der Welt wahr sei, und Katharina ihren angeblichen Irrthum vorwerfen können? Es liegt eine so göttliche Heiligkeit in der Liebe einer Mutter, daß, einerlei wie das Band gebildet ist, das sie an ihr Kind bindet, sie gleichsam geheiligt wird; die Vergangenheit ist vergessen und die Welt mit ihren rauhen Urtheilen steht im Hintergrund, wenn jene Liebe allein sichtbar ist; und der Gott, der die Kleinen überwacht, ergießt sein Lächeln über die menschliche Mittelsperson, in deren Zärtlichkeit seine eigene Zärtlichkeit athmet.
»Du wirst gütig gegen ihn sein – nicht wahr?« sagte Mrs. Morton, und die Bitte wurde in so vertrauensvollem, fast heiterem Tone vorgetragen, welcher zu sagen schien: wer würde gegen ein so schönes und hülfloses Wesen auch nicht gütig sein? – »Er ist sehr verständig und gelehrig; du wirst nie Gelegenheit haben, ihm ein hartes Wort zu sagen – nie! Du hast ja selber Kinder, Bruder!«
»Er ist ein schöner Knabe – sehr schön. Ich will als Vater für ihn sorgen!«
Plötzlich aber fiel ihm sein sauertöpfiges, garstiges, zanksüchtiges Weib ein, doch er sagte bei sich selber: »Sie muß ein solches Kind annehmen – die Frauen finden stets Gefallen an dem, was schön ist.«
Er beugte sich nieder und drückte sanft seine Lippen auf Sidney's Stirn. Mrs. Morton bedeckte ihn wieder mit dem Shawl und zog ihren Bruder an das andere Ende des Zimmers.
»Und nun,« sagte sie, erröthend während sie sprach, »muß ich deine Frau sehen, Bruder. Es ist so viel über ein Kind zu sagen, was nur eine Frau behalten kann. Ist sie gutmüthig und freundlich? Du weißt, ich sah sie nie; du heirathetest, als ich – euch schon verlassen hatte.«
»Sie ist eine sehr würdige Frau,« sagte Morton sich räuspernd, »und hat mir einiges Geld zugebracht; sie hat ihren eigenen Willen, wie die meisten Frauen; aber davon ist hier nicht die Rede – sie ist eine gute Frau, so wie es eben die Frauen sind, und klug und thätig – ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen würde.«
»Bruder, ich muß dich um eine Gunst bitten – um eine große Gunst.«
»In einer Geldangelegenheit?«
»Es hat nichts mit dem Gelde zu thun. Ich kann nicht lange leben – nein, schüttle nicht den Kopf – ich kann nicht lange leben. Ich habe keine Furcht wegen Philipp, er hat so viel Geist – so viel Stärke des Charakters – aber für jenes Kind! ich kann es nicht ganz verlassen: laß mich in dieser Stadt bleiben – ich kann anderswo wohnen, wenn ich ihn nur zuweilen sehe – wenn ich nur weiß, daß ich in seiner Nähe bin, wenn er krank ist – laß mich hier bleiben – laß mich hier sterben!«
»Du mußt nicht so traurig reden – du bist noch jung – jünger als ich – ich denke noch nicht an's Sterben.«
»Der Himmel verhüte es! aber –«
»Nun – nun« – fiel Morton ein, der zu fürchten begann, seine Gefühle möchten ihn zu einem Versprechen treiben, dessen Erfüllung seine Frau ihm nicht gestatten würde: »Du sollst mit Margarethe reden – das heißt mit Mrs. Morton – ich will sie bewegen, daß sie dich besucht – ja, ich denke, ich werde sie schon dazu bewegen können; und wenn du es mit ihr abmachen kannst, so magst du immerhin dableiben – aber siehst du, sie hat mir Geld zugebracht und ist eine sehr besondere Frau –«
»Ich werde sie sehen; ich danke dir – ich danke dir; sie kann es mir nicht abschlagen. – Und, Bruder,« fuhr Mrs. Morton nach einer Pause in festem Tone fort – »und ist es möglich, daß du meine Geschichte nicht glaubst, daß du gleich allen Uebrigen meine Kinder für die Söhne der Schande hältst?«
Es lag ein so redlicher Ernst in Katharinens Stimme, während sie sprach, der Viele hätte überzeugen können. Aber Morton hielt sich an Thatsachen, er war ein praktischer Mann – ein Mann, der glaubte, daß das Gesetz stets Recht habe, und daß das Unwahrscheinliche niemals wahr sei.
Er blickte nieder, während er antwortete: »Ich denke, du bist sehr übel behandelt worden, Katharina, und das ist Alles, was ich über die Sache sagen kann; wir wollen den Gegenstand ruhen lassen.«
»Nein! ich bin nicht übel behandelt worden, mein Gatte – ja mein Gatte war edel und großmüthig von Anfang bis zuletzt. Wegen der Aussichten seiner Kinder – wegen der Erwartungen, die sie durch ihn von seinem stolzen Oheim haben mußten, verheimlichte er die Heirath. Tadle Philipp nicht – verurtheile die Todten nicht.«
»Ich will Niemand tadeln,« sagte Morton etwas ärgerlich; »ich bin ein einfacher Mann – ein Handelsmann, und kann nur nach dem gehen, was in meiner Klasse für recht und ehrlich gilt, und ich kann mir nicht denken, daß Herrn Beaufort's Benehmen das war, man mag es ansehen wie man will; während du glaubst, daß er dich heirathet, schafft er einen Zeugen aus dem Wege, vernichtet einen Trauungsschein und stirbt ohne Testament. Doch das gehört hier nicht zur Sache. Du thust ganz recht, nicht den Namen Beaufort anzunehmen, da es ein ungewöhnlicher Name ist, der nur dazu dienen würde, die Sache öffentlich bekannt zu machen. Je weniger darüber gesagt wird, desto eher ist der Sache abzuhelfen. Du mußt immer bedenken, daß man deine Kinder als natürliche Kinder betrachten wird, und daß sie selber ihr Glück machen müssen. Darin liegt kein Nachtheil! – Ein warmer Tag zu deiner Reise.«
Katharina seufzte und trocknete sich die Augen; sie machte der Welt keine Vorwürfe mehr, da der Sohn ihrer eigenen Mutter ihr nicht glaubte. Die Verwandten sprachen noch einige Minuten über die Vergangenheit und über die Gegenwart; es war Verlegenheit und Zwang auf beiden Seiten zu bemerken – es war so schwierig, einen Gegenstand zu umgehen, und nach einer Trennung von sechszehn Jahren ist wenig mehr gemeinschaftlich selbst zwischen denen, die zusammen um die Kniee ihrer Eltern spielten. Morton war endlich froh, Katharinens Ermüdung als Vorwand gebrauchen zu können, sie zu verlassen. »Erheitere dich, trinke irgend ein warmes Getränk, ehe du zu Bette gehst. Gute Nacht!« Dies waren seine Worte beim Abschied.
Herr und Frau Morton brachten eine schlaflose Nacht zu und führten eine lange Unterredung mit einander. Anfangs erklärte diese achtbare Dame bestimmt, sie wolle und könne Katharina nicht besuchen; einen Besuch von ihr anzunehmen, davon könne nun gar nicht die Rede sein. Aber sie beschloß insgeheim, in diesem Punkte nachzugeben, um mit so viel größerem Nachdruck auf einem anderen Punkte bestehen zu können, nämlich auf der Unmöglichkeit, daß Katharina in der Stadt bleibe. Solche Zugeständnisse zum Zweck des Widerstandes sind nämlich eine sehr gewöhnliche und schlaue Politik verheiratheter Damen. Als Mrs. Morton daher plötzlich und mit guter Manier von der Beredsamkeit ihres Mannes gerührt schien und sagte: »Nun gut, wenn das arme Geschöpf so krank ist und du es so sehr wünschest, so will ich sie morgen besuchen« – da fühlte sich Morton in seinem Herzen durch die vielen trefflichen Gründe besänftigt, die seine Frau angab, weßhalb Katharina nicht in der Stadt wohnen könne. Er sei ein politischer Charakter – er habe viele Feinde; die Geschichte seiner verführten Schwester, die jetzt vergessen sei, werde gewiß wieder zum Vorschein kommen, werde seiner Bequemlichkeit, vielleicht seinem Handel, gewiß seiner ältesten Tochter nachtheilig sein, die jetzt dreizehn Jahr alt sei; es sei daher unmöglich, den bisher beschlossenen Plan auszuführen, Sidney für den nachgelassenen rechtmäßigen Sohn eines entfernten Verwandten auszugeben; es würde ein gefundenes Fressen für Miß Pryinall sein, die Geschichte in der Stadt herumzutragen. Außer allen diesen Gründen fiel Herrn Morton selber ein nicht weniger starker Grund ein, nämlich, daß die ungewöhnliche und schonungslose Strenge seiner Frau es den andern Frauen in der Stadt sehr angenehm machen würde, einen Gegenstand zu finden, der ihr eigenes Gefühl von makelloser Schicklichkeit demüthigen würde. Ueberdies sah er ein, wenn Katharine bliebe, so würde dies eine beständige Quelle der Uneinigkeit in seinem Hause sein; er war ein Mann, der ein ruhiges Leben liebte und so viel als möglich jede Veranlassung zu häuslichem Zwiste vermied. Und als endlich die beiden Eheleute einander den Rücken wendeten und sich zum Schlafen anschickten, waren die Friedensbedingungen geschlossen und die schwächere Partei, wie es gewöhnlich in der Diplomatik der Fall ist, opferte den Interessen der vereinten Mächte.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging Mrs. Morton am Arme ihres Gatten aus. Morton war ein ganz hübscher Mann mit ernster, gesetzter und strenger Miene, die sehr dazu gedient hatte, ihm einen guten Ruf in der Stadt zu verschaffen. Mrs. Morton war klein und hager. Sie hatte ihren Mann dadurch gewonnen, daß sie ihm auf verzweifelte Weise den Hof gemacht hatte, um nichts von der Mitgift zu sagen, die ihn in den Stand setzte, sein Geschäft zu erweitern, seinem Hause eine neue Fronte und ein neues Stockwerk zu geben und sich zu dem ersten Range der Handelsleute in seiner Geburtsstadt zu erheben. Er glaubte noch immer, daß sie außerordentlich zärtlich gegen ihn sei – eine gewöhnliche Täuschung der Ehemänner, besonders wenn sie unter dem Pantoffel stehen. Vielleicht war Mrs. Morton auch wirklich auf ihre Weise zärtlich gegen ihn; denn obgleich ihr Herz nicht warm war, so kann doch viel Zärtlichkeit mit sehr wenig Gefühl vereint sein. Die würdige Dame war jetzt auf's Beste gekleidet, setzte einen besondern Werth darein, die Belohnungen zu zeigen, die der weiblichen Tugend angehören. Blumen schmückten ihren italienischen Strohhut und ihr grün seidenes Kleid hatte vier Troddeln – denn wie ich höre, war dieß damals die Mode. Sie trug auch einen sehr schönen schwarzen Shawl, außerordentlich schwer, obgleich es sehr heiß war, und mit breiter Kante; eine zierliche Broche von gelben Topasen schimmerte an ihrer Brust und eine ungeheure vergoldete Schlange an ihrem Gürtel; ihr Haar oder eigentlicher gesprochen, ihre Frisur bestand in sehr dichten Locken und ihre Füße waren in enge Stiefel eingeschnürt, die den Geruch des neuen Leders noch nicht verloren hatten. Diese letztere Qual war es – denn Hochmuth muß Pein leiden – die Mrs. Mortons schon für gewöhnlich sehr bitteres Temperament noch etwas mehr verbitterte. Die lieblichste Stimmung geht verloren, wenn der Schuh drückt, und zufällig war Mrs. Roger Morton eine von jenen Damen, die im Winter Frostbeulen und im Sommer Hühneraugen haben.
»Also deine Schwester ist eine Schönheit, sagst du?«
» War eine Schönheit, Mrs. Morton – war eine Schönheit. Die Leute verändern sich je zuweilen.«
»Ein böses Gewissen, Morton, ist –«
»Meine Liebe, kannst du nicht schneller gehen?«
»Wenn du meine Hühneraugen hättest, Morton, so würdest du nicht so reden!«
Das glückliche Paar versank in Schweigen, welches nur von verschiedenen »Wie geht's?« »Guten Morgen!« unterbrochen wurde, die sie mit ihren Freunden wechselten, bis sie in das Gasthaus kamen.
»Laß uns schnell hinaufgehen,« sagte Mrs. Morton.
Und still, fast verödet erschien der Gasthof am Morgen, der am Abend so geräuschvoll gewesen war. Die Fensterladen waren zum Theil geschlossen, um die Sonne abzuhalten – das Gastzimmer war leer – der Gang hatte keinen guten Geruch – ein ältlicher Hund lag träge am Fuß der Treppe und schnappte nach den Fliegen – keine Seele war an der Schenke zu sehen. Das Ehepaar, froh, nicht bemerkt zu werden, schlich sich auf den Zehen die Treppe hinauf, und trat in Katharinens Zimmer.
Katharina saß auf dem Sopha und Sidney – gleich Mrs. Roger Morton auf das Feinste gekleidet, aber unbekannt mit der Veränderung, die seines Geschickes wartete, und erfreut über die Ankunft neuer Freunde, wie es hübsche Kinder sind, die gewohnt sind, gelobt und geliebkost zu werden – stand an ihrer Seite.
»Meine Frau – Katharina,« sagte Morton. Katharina stand lebhaft auf und sah ihrer Schwägerin forschend in das harte Gesicht. Sie unterdrückte die krampfhafte Bewegung ihres Herzens als sie sie anblickte, und streckte ihre beiden Hände aus, nicht so sehr um zu grüßen als um zu bitten. Mrs. Roger Morton richtete sich empor und machte eine tiefe Verbeugung – eine unwillkürliche Aeußerung guter Erziehung – sie wurde ihr durch das edle Gesicht und die matronenartige Miene Katharinens abgenöthigt, die ganz verschieden von der war, die sie erwartet hatte. – Sie machte die Verbeugung und Katharina ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Dies ist mein Sohn,« sagte sie, indem sie sich umwendete. Sidney näherte sich seiner künftigen Beschützerin und Mrs. Roger murmelte: »Komm her, mein Lieber! Ein hübscher, kleiner Knabe!«
»Ein so hübsches Kind, wie ich je eins sah!« sagte Morton herzlich, indem er Sidney auf den Schooß nahm und sein goldenes Haar streichelte.
Dies mißfiel Mrs. Roger Morton, aber sie setzte sich nieder und sagte, es sei sehr warm.
»Nun geh zu jener Dame, mein Lieber,« sagte Morton. »Ist sie nicht eine sehr hübsche Dame? – Meinst du nicht, daß sie dir sehr gefallen würde?«
Als gut erzogenes Kind ging Sidney gerade auf Mrs. Morton zu, wie ihm befohlen worden. Mrs. Morton war in Verlegenheit. Manche Leute gerathen mit anderer Leute Kindern in Verlegenheit: ein Kind entfernt allen Zwang aus der Gesellschaft, oder erhöht denselben um das Zehnfache. Mrs. Morton zwang sich aber zu lächeln und sagte: »Ich habe auch einen kleinen Knaben von deinem Alter zu Hause.«
»Ei, das freut mich!« rief Katharina lebhaft, und als machte dieses Bekenntniß sie sogleich zu Freundinnen, rückte sie mit ihrem Stuhle nahe zu ihrer Schwägerin. »Mein Bruder hat Ihnen Alles gesagt?«
»Ja, Madame.«
»Und ich soll hier bleiben – irgendwo in der Stadt – und ihn zuweilen sehen?«
Mrs. Roger Morton sah ihren Mann an – ihr Mann sah nach der Thür und Katharinens rasches Auge wendete sich von der Einen zum Andern.
»Morton wird es Ihnen erklären, Madame,« sagte die Frau.
»Hm! – liebe Katharine, es thut mir leid, daß davon nicht die Rede sein kann« – begann Morton, der, wenn es nöthig war, auch eine Geschäftsmiene annehmen konnte. »Du siehst, Geschehenes ist geschehen und es ist unnütz, es wieder aufzurühren. Manche Leute in der Stadt werden sich deiner erinnern.«
»Niemand soll mich sehen – Niemand – als du und Sidney.
»Es wird aber doch gewiß herauskommen, nicht wahr, Mrs. Morton?«
»Ganz gewiß. In der That, Madame, es ist unmöglich. Morton ist sehr respectabel, und seine Nachbarn achten so sehr auf Alles, was er thut; und dann, wenn wir im Herbste eine Wahl haben, so hat er viel Einfluß im Orte und ist ein öffentlicher Charakter.«
»Das gehört hier nicht zur Sache,« sagte Morton. »Aber, Katharina, kann nicht dein kleiner Knabe einen Augenblick in das nächste Zimmer gehen, ich denke, Margaretha, du gehst hinein und machst dich mit ihm bekannt.«
Froh die Last der Erklärung auf ihren Mann zu schieben, die sie anfangs mit aller Wichtigkeit einer schützenden Miene hatte geben wollen, faßte Mrs. Morton die Hand des Knaben, öffnete die Thür, die zu dem Schlafzimmer führte, und ließ Bruder und Schwester allein. Jetzt begann Morton mit mehr Takt und Delikatesse, als man von ihm hätte erwarten sollen, Katharina über die Trennung zu beruhigen. Er verweilte besonders bei dem, was zum Besten des Kindes gereiche. Die Knaben seien so roh in ihrem Umgange bei einander. Er habe es sogar für besser gehalten, Philipp dem Herrn Plaskwith als einen entfernten Verwandten vorzustellen und bat Katharina beiläufig, Philipp diesen Wink mitzutheilen. Sidney würde früher oder später in die Schule müssen – er würde Kameraden haben – und wenn seine Geburt bekannt sei, würde er manchen Kränkungen ausgesetzt sein – um so viel besser und leichter sei es daher, ihn für den rechtmäßigen Sohn eines entfernten Verwandten auszugeben.
»Und wenn ich todt bin,« rief die arme Katharina ihre Hände zusammenschlagend, »soll er nie erfahren, daß ich seine Mutter war?«
Der Schmerz, der in dieser Frage lag, erschütterte das Herz des Bruders. Er war gerührt, ungeachtet der weltlichen Gedanken und Gewohnheiten, die sich über sein menschliches Gefühl aufgeschichtet hatten. Er umarmte Katharina und drückte sie an seine Brust.
»Nein, meine Schwester – meine arme Schwester – er soll es auch erfahren, wenn er alt genug ist, es zu verstehen und sein Geheimniß zu bewahren. Er soll es auch erfahren, wie sehr wir dich ehrten und schätzten; wie jung du warest, wie man dir schmeichelte und dich in Versuchung führte; wie du getäuscht wurdest – denn bei meiner Seele, ich habe mich überzeugt, daß es nicht deine Schuld war. Auch soll er wissen, wie zärtlich du dein Kind liebtest, wie du um seinetwillen dir den Trost versagtest, in seiner Nähe zu sein. Er soll Alles – Alles gut wissen!«
»Bruder – Bruder, ich übergebe ihn dir – ich bin zufrieden. Gott belohne dich. Ich will gehen – schnell gehen. Ich weiß jetzt, daß du für ihn sorgen wirst.«
»Und du siehst ein,« fuhr Morton fort, indem er sich wieder niedersetzte und seine Augen trocknete, »daß es, unter uns gesagt, das Beste ist, wenn Mrs. Morton hierin ihren Willen bekommt. Sie ist eine sehr gute Frau – sehr gut; aber es ist klug, sie nicht zu reizen. – Du kannst jetzt hereinkommen, liebe Frau.«
Mrs. Morton und Sidney traten wieder ein.
»Wir haben Alles abgemacht,« sagte der Mann. »Wann können wir ihn haben?«
»Nicht heute,« sagte Mrs. Roger Morton, »das sehen Sie wohl ein, Madame, wir müssen erst sein Bett in Ordnung bringen und seine Bettücher auslüften – ich bin sehr pünktlich.«
»Gewiß, gewiß. Er wird allein schlafen? – Verzeihen Sie.«
»Er soll ein Zimmer für sich haben,« sagte Morton. »Nicht wahr, meine Liebe? Neben Martha's Zimmer. Martha ist unsere Ladenjungfer – ein sehr gutmüthiges Mädchen und hat die Kinder gern.«
Mrs. Morton sah ernsthaft aus, dachte einen Augenblick nach und sagte: »Ja, er kann das Zimmer haben.«
»Wer kann das Zimmer haben?« fragte Sidney unschuldig.
»Du, mein Lieber,« versetzte Morton.
»Und wo wird Mama schlafen? Ich muß in der Nähe von Mama schlafen.«
»Mama geht fort,« sagte Katharina in festem Tone, in welchem nur das scharfe Ohr des Mitgefühls die Verzweiflung hätte erkennen können – »Mama geht auf eine kurze Zeit fort; aber dieser Herr und diese Dame werden sehr – sehr freundlich gegen dich sein.«
»Wir wollen unser Möglichstes thun, Madame,« sagte Mrs. Morton.
Und während sie sprach, ging dem Knaben plötzlich ein Licht auf – er stieß einen lauten Schrei aus, riß sich von seiner Tante los, stürzte sich an die Brust seiner Mutter, verbarg sein Gesicht dort und schluchzte bitterlich.
»Ich fürchte, er ist sehr verzogen,« flüsterte Mrs. Roger Morton. »Ich denke, wir können nicht länger bleiben – es würde Verdacht erregen. Guten Morgen, Madame; wir werden morgen bereit sein.«
»Gehab dich wohl,« sagte Morton und setzte hinzu, indem er sie küßte: »Sei gutes Muths, ich werde selber kommen und den Abend bei dir zubringen.«
Es war am Abend nach dieser Unterredung. Sidney war zu seiner neuen Heimath gegangen; sie waren alle freundlich gewesen – Herr Morton, die Kinder, Martha die Ladenjungfer. Mrs. Roger selbst hatte ihm ein großes Stück Brod mit Gelée gegeben. Er sah den ganzen Abend finster aus, und gleich einem Hunde weigerte er sich, an einem fremden Orte etwas zu essen. Sein kleines Herz war voll und seine in Thränen schwimmenden Augen beständig auf die Thür gerichtet. Doch zeigte er nicht den heftigen Schmerz, den man hätte erwarten sollen. Er war von Natur schüchtern und seine Verlassenheit unter den unbekannten Gesichtern erschreckte und erkältete ihn. Aber als Martha ihn in sein Zimmer brachte, ihn auskleidete und er niederkniete, um sein Gebet zu sprechen, und er zu den Worten kam: »Gott segne die liebe Mama und mache ein gutes Kind aus mir,« da konnte sein Herz seine Last nicht länger tragen und er schluchzte mit einer Leidenschaft, die das gutmüthige Mädchen beunruhigte. Sie war indeß an Kinder gewöhnt, liebkoste ihn und suchte ihn zu besänftigen, erzählte ihm von all den hübschen Dingen, die er thun werde, und von den hübschen Spielsachen, die er erhalten werde; und endlich zum Schweigen gebracht, wenn auch nicht überzeugt, schloß er die Augen und schlief ein, während seine Wimpern noch von Thränen naß waren.
Es war bestimmt worden, daß Katharina in jener Nacht mit einem Omnibus zurückkehren sollte, der um zwölf Uhr die Stadt verließ. Es war schon nach elf; Mrs. Morton hatte sich zu Bette begeben und ihr Mann, der nach seiner Gewohnheit noch im Wohnzimmer geblieben war, um bei seinem letzten Glase Grog eine Cigarre zu rauchen, hatte gerade den Stummel auf die Seite geworfen und zog seine Uhr auf, als er ein leises Klopfen am Fenster hörte. Er stand stumm und beunruhigt da, denn das Fenster ging auf eine Hintergasse hinaus, die Nachts dunkel und öde war, und wegen des heißen Wetters hatte man den eisenbeschlagenen Fensterladen noch nicht geschlossen. Das Klopfen wurde wiederholt und dann hörte er eine matte Stimme. Er sah sich nach seinem Säbel um, ging dann vorsichtig zum Fenster und sah hinaus: »Wer ist da?«
»Ich bin's – Katharina! Ich kann nicht gehen, ohne meinen Knaben noch einmal zu sehen. Ich muß ihn sehen – ich muß ihn noch einmal sehen!«
»Liebe Schwester, – das Haus ist geschlossen – es ist unmöglich. Gott sei mir gnädig, wenn Mrs. Morton dich hörte!«
»Ich bin schon stundenlang vor diesem Fenster auf- und abgegangen – ich habe gewartet, bis Alles in deinem Hause still war, bis Niemand, nicht einmal ein Dienstbote die Mutter sieht, die zu dem Bette ihres Kindes schleicht. Bruder! bei der Erinnerung an unsere eigene Mutter beschwöre ich dich, laß mich noch einmal – zum letztenmal meines Knaben Gesicht sehen!«
Als Katharina dies, in der einsamen Straße stehend, sagte – Dunkel und Einsamkeit unten, Gott und die Sterne droben – hatte sie eine Majestät an sich, die ihren Bruder mit Ehrfurcht erfüllte. Obgleich sie so nahe war, konnte er ihre Züge nicht deutlich sehen; aber ihre Stellung – ihre Hand hoch erhoben – der Umriß ihrer dahingewelkten, aber noch immer gebieterischen Gestalt, waren eindrucksvoller bei dem trüben Lichte.
»Komm herum, Katharina,« sagte Morton nach einer Pause, »ich will dich einlassen.«
Er schloß das Fenster, schlich sich zur Thür, riegelte sie leise auf und ließ die Schwester ein. Er sagte ihr, sie möge folgen; dann beschattete er das Licht mit der Hand und schlich die Treppe hinauf. Katharinens Schritt war geräuschlos.
Sie gingen unbelästigt und ungehört an dem Zimmer vorüber, wo seine Frau ihrer Gewohnheit nach ein Kapitel aus einem frommen Buche las, ehe sie ihre Nachthaube aufsetzte und zu Bette ging. Sie kamen zu dem Zimmer, wo Sidney lag; Morton öffnete vorsichtig die Thür, blieb auf der Schwelle stehen und hielt das Licht so, daß es das Kind nicht erweckte, aber Katharina dennoch das Bett finden konnte. Das Zimmer war klein, aber sehr reinlich, denn Reinlichkeit war Mrs. Mortons vorzüglichste Tugend. Mit bebender Hand schlug die Mutter die weißen Vorhänge zurück und unterdrückte das Schluchzen, als sie das junge ruhige Gesicht ansah, welches zu ihr gewendet war. Sie sah ihn einige Augenblicke in leidenschaftlichem Schweigen an – wer kann sagen, welche Gebete sich unter jenem Schweigen regten? Dann beugte sie sich nieder und küßte mit bleichen, krampfhaften Lippen die kleinen Hände, die nachlässig auf der Decke lagen. Hierauf wendete sie ihr Gesicht mit stummer Bitte in ihrem Blicke zu ihrem Bruder, zog einen Ring vom Finger – einen Ring, der bis dahin nie ihre Hand verlassen hatte – einen Ring, den Philipp Beaufort am Tage nach der Geburt dieses Kindes ihr angesteckt. »Laß ihn diesen Ring um den Hals tragen,« sagte sie und hielt inne, um nicht laut zu schluchzen und den Knaben zu stören. Bei dieser Gabe war es ihr, als rufe sie den Geist des Vaters an, den freundlosen Waisen zu überwachen; dann drückte sie fest ihre Hände zusammen, wie man bei einem großen Schmerze zu thun pflegt, stieg die Treppe hinunter, erreichte die Straße und flüsterte ihrem Bruder zu: »Jetzt bin ich glücklich; Friede deiner Schwelle!« Ehe er antworten konnte, war sie fort.