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Erheiterte des Schicksals düstern Blick
Durch müß'ge Träume.
Crabbe.
»Warum kommt denn der Vater nicht heim? Er ist schon so lange fort!«
»Mein lieber Philipp, Geschäfte halten ihn zurück; aber er wird in wenigen Tagen hier sein – vielleicht schon heute!«
»Ich möchte gern, daß er sähe, wie viel ich gelernt habe.«
»Gelernt, Philipp, was denn?« sagte die Mutter lächelnd. »Doch gewiß kein Latein; denn ich habe nicht gesehen, daß du ein Buch öffnetest, seit du darauf bestandest, daß der arme Todd fortgeschickt wurde.«
»Todd! O er war ein solcher Einfaltspinsel und sprach durch die Nase; was könnte er von Latein wissen?«
»Mehr, fürchte ich, als du je davon wissen wirst, wenn nicht –« und hier war ein Schwanken in der Stimme der Mutter zu bemerken, »wenn nicht dein Vater einwilligt, daß du auf die Schule kommst.«
»Nun, ich möchte wohl nach Eton gehen? – Das ist die einzige Schule für einen Gentleman. Ich habe es Vater sagen hören.«
»Philipp, du bist zu stolz!«
»Stolz! – du nennst mich oft stolz; aber wenn du das thust, küssest du mich. Küsse mich jetzt auch, Mutter!«
Die Dame drückt den Sohn an ihre Brust, strich ihm das lockige Haar aus der Stirn und küßte ihn; doch der Kuß war traurig und im nächsten Augenblick schob sie ihn sanft von sich und murmelte ohne zu beachten, daß er es hörte: »Wenn aber meine Anhänglichkeit an den Vater den Kindern schaden sollte!«
Der Knabe stutzte und seine Stirn wurde finster, doch sagte er nichts. Ein leiser Schritt wurde gehört und der jüngste Sohn trat durch die Glasthür herein, die auf den grünen Rasenplatz hinausführte, und die Mutter wendete sich zu ihm mit erheitertem Auge.
»Mama! Mama! hier ist ein Brief an dich. Ich nahm ihn John weg; es ist Vaters Hand.«
Die Dame stieß einen Freudenruf aus und ergriff den Brief. Der jüngere Sohn nestelte sich zu ihren Füßen auf einem Schemel ein und blickte zu ihr auf, während sie las; der ältere stand allein da und lehnte sich mit nachdenkendem, ja finsterem Gesichte auf seine Flinte.
Es war ein starker Contrast zwischen den beiden Kindern. Der ältere Sohn, der etwa fünfzehn Jahre alt war, schien älter zu sein, nicht nur wegen seiner Größe, sondern wegen seiner dunkeln Gesichtsfarbe und eines gewissen stolzen, ja gebieterischen Ausdrucks in seinen Zügen, die nichts von der sanften und flüssigen Anmuth der Kindheit hatten, aber dennoch regelmäßig und ausdrucksvoll waren. Seine dunkelgrüne Jägerkleidung mit dem Gürtel und der Tasche, die Mütze mit der goldenen Quaste auf seinen vollen Locken, die den Glanz der Rabenfedern hatten, mischten vielleicht zu früh das Männliche seines Geschmackes mit der Liebe zum Phantastischen und Malerischen, was den vorherrschenden Geist der Mutter bezeichnete. Der jüngere Sohn hatte kaum sein neuntes Jahr erreicht, und die schönen braunen Ringellocken, die fast bis auf seine Schultern niederfielen, die blühende und zarte Röthe, die zugleich auf dauernde Gesundheit und sorgliche Pflege deutete; die großen, dunkelbraunen Augen; der bewegliche und fast weibliche Umriß der harmonischen Züge bildeten zusammen ein solches Ideal kindlicher Schönheit, wie Lawrence es gerne gemalt oder Chantry es würde modellirt haben.
Und die zärtlichste Sorgfalt einer Mutter, die noch ihren Liebling allein für sich hat, war in dem breiten niederfallenden Kragen vom feinsten Batist und in der Kleidung von blauem Sammet mit den silbernen Knöpfen und der gestickten Schärpe sichtbar. Beide Knaben hatten die Miene und das Aussehen solcher, die das Schicksal schmeichelnd in's Leben einführt – Alles deutete auf Reichthum, vornehme Geburt und Luxus; verzogen schienen sie und verhätschelt, als hätte die Erde keinen Dorn für ihre Füße und der Himmel keinen Wind, um ihre jungen Wangen zu rauh zu berühren. Die Mutter war außerordentlich schön gewesen, und obgleich die erste Blüthe der Jugend verschwunden war, so besaß sie doch noch Schönheit genug, um eine neue Liebe zu erobern, was eine leichtere Aufgabe ist, als eine alte Liebe zu fesseln. Beide Söhne, obgleich sehr verschieden von einander, waren ihr ähnlich; sie hatte die Züge des jüngeren, und wahrscheinlich würde Jeder, der sie in ihrer frühen Jugend gesehen, in dem heiteren und lieblichen Gesichte des Kindes das Spiegelbild der Mutter erkannt haben. Der Ausdruck ihres Gesichts, besonders wenn sie schweigend oder gedankenvoll war, glich jetzt aber mehr dem des älteren Knaben – die Wange einst so rosig, war jetzt blaß, und die Zeit hatte ihr in der gewölbten Lippe und der hohen Stirn einen Ausdruck des Stolzes und Nachdenkens gegeben. Wenn man sie in ihren einsameren Stunden hätte sehen können, würde man bemerkt haben, daß der Stolz mit der Scham nicht unbekannt geblieben und daß das Nachdenken der Schatten der Leidenschaften, der Furcht und der Sorge sei.
Aber jetzt, als sie die hastigen, kurzen, aber wohlbekannten Schriftzüge las wie eine, deren Herz in ihren Augen war, sah man nur Freude und Triumph in ihrem bewegten Gesichte. Ihre Augen sprühten, ihre Brust hob sich; endlich drückte sie den Brief an ihre Lippen und küßte ihn wiederholt mit leidenschaftlichem Entzücken. Dann begegneten ihre Augen den finsteren, fragenden und lebhaften Blicken ihres Erstgeborenen; sie umschlang ihn mit ihren Armen und weinte heftig.
»Was ist geschehen, liebe Mutter?« sagte der Jüngste, sich zwischen Philipp und seine Mutter drängend.
»Euer Vater kommt zurück, heute – diese Stunde, und du – du – Kind – du, Philipp –« Schluchzen unterbrach ihre Worte und machte sie sprachlos.
Der Brief, der diese Wirkung hervorgebracht hatte, lautete folgendermaßen:
»An Mrs. Morton, Fernside-Cottage.
»Theuerstes Käthchen!
»Mein letzter Brief bereitete dich auf die Nachricht vor, die ich dir jetzt mitzutheilen habe – mein armer Oheim ist nicht mehr. Obgleich ich ihn, besonders in den letzten Jahren, selten gesehen habe, so hat mich doch sein Tod lebhaft ergriffen; aber ich habe wenigstens den Trost, zu denken, daß mich jetzt nichts mehr verhindern kann, dir Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Ich bin der einzige Erbe seines Vermögens – es steht in meiner Macht, theuerstes Käthchen, dir eine verzögerte Vergeltung für Alles das zu gewähren, was du um meinetwillen gelitten – ein heiliges Zeugniß für deine lange Enthaltsamkeit und tadellose Liebe, für das erlittene Unrecht und deine innige Hingebung. Unsere Kinder auch – meinen edlen Philipp! – küsse sie, Käthchen – küsse sie tausendmal für mich.
»Ich schreibe in großer Eile – das Leichenbegängniß ist eben vorüber und mein Brief wird nur dazu dienen, dir meine Rückkehr anzumelden. Geliebte Katharine, ich werde fast eben so bald bei dir sein, als diese Zeilen vor deine Augen kommen – vor jene theuren Augen, die ungeachtet aller Thränen, die sie über meine Fehler und Thorheiten vergossen, dennoch nie weniger freundlich geblickt haben.
»Ewig der deine
» Philipp Beaufort.«
Dieser Brief hatte Alles gesagt und es bleibt wenig zu erklären übrig. Philipp Beaufort war einer von jenen Männern, von denen es viele in der eigenthümlichen Klasse der Gesellschaft gibt, welcher er angehörte – leichtsinnig, gedankenlos, gut gelaunt, großmüthig, mit unendlich besseren Gefühlen als Grundsätzen.
Obgleich er selber nur ein sehr mäßiges Vermögen erbte, wovon drei Theile bereits in den Händen der Juden waren, ehe er sein fünfundzwanzigstes Jahr erreichte, hatte er die glänzendsten Erwartungen von seinem Oheim, einem alten Junggesellen, der aus einem Hofmann ein Menschenhasser – kalt – verschlagen – scharfsichtig – weltlich gesinnt – sarkastisch und gebieterisch geworden war, und von diesem Verwandten hatte er inzwischen ein hübsches und in der That reichliches Jahrgeld erhalten. Etwa sechszehn Jahre vor der Zeit, wo diese Erzählung beginnt, hatte Philipp Beaufort, wie die Sage ging, Katharina Morton entführt, damals wenig mehr als ein Kind – ein mutterloses Kind – in einer Kostschule zu Ansichten und Wünschen erzogen, die weit über ihren Stand hinausgingen, denn sie war die Tochter eines Handelsmanns in der Provinz. In der Blüthe des Lebens besaß Philipp Beaufort viele von den Eigenschaften, welche die Augen blenden, und viele von den Künsten, welche die Neigungen Anderer verrathen. Einige argwöhnten, daß sie insgeheim verheirathet seien, doch das Geheimniß wurde so strenge bewahrt, daß es allen Nachforschungen des finsteren Oheims trotzte. Immer aber lag etwas, nicht nur in dem zugleich bescheidenen und würdevollen Wesen Katharina's, sondern mehr noch in ihrem Charakter, der stolz und hochmüthig war, was den Verdacht bestätigte. Beaufort, ein Mann, der wenig auf Formen achtete, bezeigte ihr einen auffallenden und aufmerksamen Respekt, und seine Anhänglichkeit war offenbar nicht nur auf Leidenschaft, sondern auf Vertrauen und Achtung gegründet. Die Zeit entwickelte geistige Eigenschaften in ihr, die denen Beaufort's weit überlegen waren, und sie hatte Muße genug, dieselben zu cultiviren. Mit dem Einfluß, der von ihrem Geiste herrührte, vereinte sie eine offene, zärtliche und einnehmende Gemüthsart; ihre Kinder verstärkten das zwischen ihnen waltende Band. Beaufort liebte die Jagd leidenschaftlich. Er lebte den größten Theil des Jahres in einem schönen Landhäuschen, an welches er Jagdställe angebaut hatte, die die Bewunderung der Grafschaft erregten, und wenn gleich das Landhäuschen in der Nähe von London war, so lockten ihn die Vergnügungen der Hauptstadt doch selten länger als auf wenige Tage dorthin, gewöhnlich nur auf wenige Stunden, und stets eilte er mit erneuerter Wonne zu dem Orte zurück, den er als seine Heimath betrachtete.
Von welcher Art auch die Verbindung zwischen Katharina und ihm sein mochte – und von der wahren Art derselben haben wir dem Leser im einleitenden Kapitel eine ausführlichere Kenntniß gegeben, als die Welt davon besaß – so hatte doch wenigstens ihr Einfluß einen Mann von allen Ausschweifungen und vielen Thorheiten entwöhnt, von dem es, ehe er sie kannte, sehr wahrscheinlich geschienen, daß er, vermöge der außerordentlichen Heiterkeit und Sorglosigkeit seiner Natur und einer sehr unvollkommenen Erziehung, sich allen Lastern, die damals Mode waren, als Gegenmittel gegen die Langeweile hingeben werde. Wäre ihre Verbindung öffentlich von der Kirche geheiligt gewesen, so würde man Philipp Beaufort als das Muster eines zärtlichen Gatten und Vaters geachtet haben. Je näher er mit Katharinens guten natürlichen Eigenschaften bekannt wurde, und je mehr er sich desto inniger an seine Heimath fesselte, desto inniger hatte Beaufort mit der Großmuth wahrer Neigung gewünscht, den Kummer einer zweideutigen Stellung durch öffentliche Bekanntmachung ihrer Heirath von seiner Gattin zu entfernen. Aber Beaufort, obgleich großmüthig, war nicht frei von der weltlichen Gesinnung, die ihm überall unter der Gesellschaft begegnet war, wo er seine Jugend zugebracht. Sein Oheim, das Oberhaupt einer von jenen Familien, die Jahr für Jahr von den Gemeinen zur Pairswürde übergehen, aber keine ausgezeichnete Klasse in der Aristokratie von England bilden – Familien von alter Herkunft, ungeheuren Besitzungen, zugleich adelig und unbetitelt – sein Oheim konnte über seine Güter nach eigener Laune verfügen. Obgleich er Philipp zu lieben behauptete, so sah er ihn doch selten. Als die Nachricht von der ungesetzlichen Verbindung seines Neffen ihm hinterbracht wurde, entschloß er sich anfangs, dazwischen zu treten; als er aber bemerkte, daß Philipp nicht mehr spielte, sich nicht mehr in Schulden stürzte und sich von der Rennbahn zu den sicheren und sparsameren Zeitvertreiben der Jagd zurückgezogen hatte, begnügte er sich mit den Nachforschungen, die ihn überzeugten, daß Philipp nicht verheirathet sei; und vielleicht hielt er es im Ganzen für klüger, über einen Fehler die Augen zu schließen, der nicht von den Rechnungen begleitet war, die bisher die menschlichen Schwächen seines sorglosen Neffen bezeichnet hatten. Er trug indeß zuweilen Sorge, in Beziehung auf irgend eine scandalöse Geschichte des Tages seine Meinung auszusprechen, nicht aber über den Fehler, sondern über die Art, ihn wieder gut zu machen.
»Wenn je ein Gentleman,« sagte er, indem er Philipp grämlich anblickte, »so weit seine Herkunft vergessen sollte, in seine Familie eine Person einzuführen, die seine eigene Schwester nicht in ihr Haus aufnehmen könnte, so würde er ja zu ihrem Stande hinabsinken und Reichthum seine Schande nur noch offenbarer machen. Wenn ich einen einzigen Sohn hätte, und dieser Sohn einfältig genug wäre, etwas so Herabwürdigendes zu begehen, und unter seinem Stande zu heirathen, so möchte ich lieber meinen Bedienten zu meinem Erben haben. Du verstehst mich, Phil?«
Philipp verstand ihn, und indem er sich in dem edlen Hause, in dem stattlichen Park umsah, war seine Großmuth der Prüfung nicht gewachsen. Vielleicht hätte Katharina – so groß war ihre Macht über ihn – leicht über seine eigennützigen Berechnungen gesiegt; doch ihre Liebe war zu zart, um je für sich die Hoffnung auszusprechen, die am tiefsten in ihrem Herzen verborgen lag. Und ihre Kinder? ach! um die that es ihr leid, aber für sie hoffte sie auch; vor ihnen lag eine weite Zukunft, und sie hegte alles Vertrauen zu Philipp. In der letzten Zeit hatten sich beträchtliche Zweifel erhoben, wie weit der edle Beaufort die Erwartungen erfüllen werde, in denen sein Neffe aufgewachsen war. Philipp's jüngerer Bruder war viel bei dem alten Herrn gewesen und schien bei ihm in großer Gunst zu stehen; sein Bruder war ein Mann, der Philipp in vieler Hinsicht unähnlich war – nüchtern, schmiegsam, anstandsvoll, ehrgeizig, mit lächelndem Gesichte und eiskaltem Herzen.
Aber der alte Herr wurde gefährlich krank und ließ Philipp an sein Sterbebett rufen. Robert, der jüngere Bruder, war auch zugegen mit seiner Frau – er hatte mit Vorsicht geheirathet – und mit seinen Kindern – er hatte deren zwei, einen Sohn und eine Tochter. Kein Wort sagte der Oheim über die Vertheilung seines Vermögens, bis eine Stunde vor seinem Ende. Und dann drehte er sich in seinem Bette herum, wendete sich erst zu dem einen Neffen, dann zu dem andern und lallte hervor:
»Philipp, du bist ein Thunichtgut, aber ein Gentleman – Robert, du bist ein vorsichtiger, nüchterner, lobenswerther Mann und es ist sehr Schade, daß du kein Geschäftsmann geworden bist, du hättest dir ein großes Vermögen erwerben können! – Du wirst keines erben, wenn du es gleich denkst, wie ich bemerkt habe. Philipp, hüte dich vor deinem Bruder. Nun laßt den Pfarrer kommen.«
Der alte Mann starb: das Testament wurde geöffnet. Philipp erhielt eine Rente von 20,000 Pfund jährlich; Robert einen Diamantring, eine goldene Repetiruhr, 5000 Pfund und eine interessante Sammlung von Schlangen in Gläsern.