Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.
Der moderne Robinson

Und wiederum verstummte die menschliche Zunge auf Juan Fernandez. Nur selten betrat es die Bemannung einer Fischerbark. Einige Male setzten weltreisende Naturforscher ihren Fuß auf die Insel – die Franzosen Charles Bertero und Claude Gay, die Engländer Maria Graham und David Douglas – aber kein einziger Kolonist, kein Verbannter, kein Robinson. Und niemand verspürte mehr Lust, in ihrem Hafen zu ankern, und am wenigsten auf ihren Fluren zu wandeln oder gar in ihre Wälder einzudringen. Denn die Insel war kein heiteres Märchenland mehr, sie war trotz des blauen Himmels, der über ihr leuchtete und ihre Felsen in blauem Lichte badete, eine Stätte der Verdammten.

Die Legion der Ermordeten war wieder auferstanden. In seltsamen Vermummungen spukten sie in den Wäldern. Man hatte gehört, wie sie miteinander debattierten, wie sie riefen und Hohngelächter ausstießen. Doch man hatte auch erlauscht, wie sie beteten in endlosem, dumpfen Gemurmel. Mit Lichtern bewegten sie sich zu vielen, bald wirr, bald wie in feierlichen Prozessionen. – So erzählte man sich am Festlande, so raunt es noch heute auf Masatierra.

Erst im letzten Drittel des verflossenen Säkulums brach eine neue Zeit für Juan Fernandez an, eine Morgenröte besserer Tage, die Epoche der Ordnung einleitend. Sie knüpft sich an einen deutschen Namen, den ein Schweizer Edelmann nach der fernen Insel trug: Alfred von Rodt.

Alfred von Rodt war ein gebürtiger Berner, indes österreichischer Offizier geworden und bei Schloß Nachod 1866 schwer verwundet. 1870 trat er dem französischen Heere bei und machte die Schlacht bei Champigny mit. Die zwei unglücklichen Kriege (in seinem Sinne!) hatten ihm offenbar Europa verleidet, in dem das Land seines Hasses, Preußen-Deutschland, zu ungeahnter Macht emporstieg. Er ging nach Südamerika; erst nach Brasilien, dann über Argentinien nach Chile. Inzwischen hatte Don Alfredo, in welchen er sich naturgemäß verwandelte, das 34. Lebensjahr vollendet.

Da, im Sommer 1877, als er in dem reizenden Meerbade Viña del Mar bei Valparaiso die Renten seines erklecklichen Vermögens verzehrte, las er eines Tages, wie die chilenische Regierung die Verpachtung der Insel Juan Fernandez zum besten Gebot ausschrieb. Sein Entschluß stand im Augenblick fest. Er kannte zwar nicht die Insel, wohl aber vieles ihrer seltsamen Geschichte. Ein neuer Robinson, aber in größerem Stile, wie es seinen Mitteln entsprach, das war in der Tat ein erstrebenswertes, einzigartiges Ziel! In diesem Momente versöhnte er sich mit dem Geschicke, welches ihm den Lorbeer vorenthalten hatte und seinen Tatendrang in Melancholie zu ersticken drohte; er sah in ihm eine Fügung.

Jugendlicher Eifer erfaßte ihn. Der Pachtkontrakt wurde unterschrieben, obwohl er teuer zu stehen kam; denn außer einer übertriebenen Miete war er die Verpflichtung eingegangen, zweimal im Monat ein Schiff nach Valparaiso zu senden, um die Insel in laufender Verbindung mit dem Festlande zu erhalten. – Die chilenische Regierung hatte sich in den Zeiten, wo ihre Staatsbürger das Eiland bevölkerten, mit ein bis zwei Transporten im ganzen Jahr begnügt!

Nachdem der Herr von Rodt noch glücklicher Besitzer einer alten, wenn auch nicht wohlfeilen Bark geworden war – Enthusiasmus steht hoch im Preise in Südamerika! – brachte ihn eine chilenische Korvette in sein Reich. Aber wenn er nun glaubte, vom erhabenen Standpunkte ausrufen zu dürfen: »dies alles ist mir untertänig!« so hatte er sich zum ersten Male geirrt. Als Eigentum der Regierung erwiesen sich lediglich ein Dutzend verwilderte Pferde, die Ruinen eines Hauses und ein Flaggenmast. Alles übrige reklamierte, die entsprechenden Aktenstöße unter dem Arme, ein früherer Mieter: Ferdinand Lopes. So blieb Don Alfredo nichts anderes übrig, als abermals in seine Börse zu greifen und mit 4000 Pesos (damals etwa 16 000 Mark) den hartnäckigen Vorgänger abzufinden.

Der neue und moderne Robinson beabsichtigte, nicht allein die Wälder und Ziegenherden zu beherrschen, sondern auch ein kleiner König über Menschen zu sein. Ihr Patriarch gewissermaßen. Er hatte auch nicht im Sinne, das Dolcefarniente von Viña del Mar fortzusetzen, sondern Arbeit sollte die Tage füllen, die rüstige Arme, von ihm angespornt, fröhlich vollbrachten. Aus Juan Fernandez sollte ein Strom von Gütern dem Festlande zufließen und sich dort in Gold und gute Wechsel umsetzen, zum Wohle und höheren Ruhme der neuen Kolonie und ihres projektenreichen Hauptes. Darum hatte Don Alfredo die Werbetrommel gerührt und ein buntes, internationales Volk von Männern und Frauen angelockt, das mit ihm segelte.

Und alle gediehen. Besonders die Kinder, deren Zahl sich in zweieinhalb Jahren verdreifachte – nur der Chef selbst verzehrte sich in Sorgen. Denn, welche Entdeckung! Die »Untertanen« bedurften weder des väterlichen Schutzes noch der Ermahnung zur Tätigkeit. Man konnte auf der Insel ohne Arbeit leben! Was brauchten sie? Das tägliche Brot spendete das Meer, die Berge, der Wald. Das bißchen Geld für Kleidung die eingesalzenen Seehunds- und Ziegenfelle, bunte Muscheln und Korallen. Hummer gab's alle Tage, auch in der ärmsten Hütte! Niemand brauchte Kostgeld zu zahlen, niemand Pacht, ausgenommen der Herr der Insel, der Patron.

Was gedachte doch der industrielle Robinson alles zu verfrachten in den »Karl Edwards« Edwards, Name einer angesehenen chilenischen Familie., seine Bark, die allmonatlich zur Küste ging? Mastochsen, Kühe und Rinder, Pferde und Schafe, Seehunds- und Ziegenfelle, Haifischöl, getrocknete Fische, lebende und eingemachte Hummern, die Stämme der Chonta, Holzkohle und Kartoffeln und mancherlei Gemüse und Früchte. Aber der »Karl Edwards« segelte mit leerem Bauche, bis er nach kaum einjährigem Dienste zerschellte.

Schon nach fünf Jahren war Don Alfredo so weit, daß er seine Rettung nur noch in der Gründung einer Aktiengesellschaft sah. Er veröffentlichte einen wundervollen Prospekt, der einen ebenso sicheren wie reichlichen Reingewinn garantierte.

Armer Alfredo! Prediger der Wüste! Deine Epopöe auf die Schätze der Insel blieb ohne Widerhall. Und Du bist gottlob nie in die Notwendigkeit versetzt worden, jährlich für 6000 Sack Holzkohle Wald verbrennen zu müssen, wie Du versprachest. Unverstanden und – verzeihe – über die Löffel barbiert hast Du es später noch ein Vierteljahrhundert lang als Wohltat empfunden, daß man auch ohne Arbeit und Geld auf der Insel leben kann. Und Du bist der eifersüchtige Beschützer des Eilands geworden, ihrer Palmen und Baumfarne, ihrer Ziegen, Hummer und Kolibri. Ja, Du hast Gesetze gegen ihre Vernichtung schaffen helfen, denn Du gönntest sie keinem anderen. So wurde Deine Schwäche ihr Segen. Und Du sollst selbst darum gesegnet sein, der Du den ewigen Schlaf schläfst auf dem Friedhofe, dem Meere nahe, das Du so liebtest, bei Deinem Töchterlein, welches in jener Weihnachtsnacht aus Fieberträumen Dir voranging.


 << zurück weiter >>