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Die »Fünf Hafen« lichtete die Anker. Der neu erwachte, starke Süd des Frühlings schwellte die Segel der kanonenstrotzenden Galeere, und auf einem terrassenförmigen Vorsprung der mauerartig steilen Küste Sal'-si-puedes, Spring-wenn-du-kannst, welche den Englischen Hafen von der Cumberland-Bai trennt, starrte ihr
Robinson – nennen wir den schottischen Steuermann bei dem Namen, der ihn unsterblich machte – nach, zwiespältig in seinen Gefühlen: freudig, den rohen Gesellen und insbesondere dem gewalttätigen
Dampier entronnen zu sein und gepeinigt von den drohenden Qualen unendlicher Einsamkeit. Denn er war das einzige menschliche Wesen des Eilandes. Und schließlich übermannte ihn die Angst, und er schrie und winkte den nordostwärts dem Kontinent entgegeneilenden Schiffen nach. Es war zu spät.
Mit sinkender Sonne verließ er die kahlen, buntstreifigen Felswände, an denen die dunkelfarbigen Fardelas nisten, in guter Eintracht mit verwilderten Tauben. Robinson stieg ins Tal hinab, wo er sich wohl in der Nähe des Strandes ausstreckte, an dem damals noch die hohen Naranjillos mit ihren durchsichtigen Laubkronen dicht herantraten. Und nun zog die Nacht herauf, die des Lenzes von Juan Fernandez. Der Oktober hatte begonnen. Am Himmel, welcher sich im dunkelsten Blau wölbte, das sich denken läßt, flimmerte die reiche Sternenwelt der südlichen Halbkugel; tief, fast am Horizonte stand das Kreuz des Südens und beinahe im Zenit der Orion, ein Heimatsgruß für den Verbannten. Schlaflos wanderten seine Augen das Lichtmeer auf und nieder; dann aber wurde seine Aufmerksamkeit durch seltsame Laute abgelenkt: ein Heulen und Bellen kam und verlor sich; es war das schauerliche Konzert in Rudeln pirschender Hunde, welche auf Ratten Jagd machten, da die auf Ziegen tagsüber vergeblich gewesen war. Dazwischen hörte er das Fauchen der Katzen und den Schrei der Schleiereule.
Die Tier- und Pflanzenwelt von Juan Fernandez hatte sich in dem Jahrhundert, welches reichlich seit seiner Entdeckung verflossen war, nicht unwesentlich verändert, vermehrt durch europäische Typen, welche absichtlich eingeführt wurden, oder als unvermeidliche Begleiter der kaukasischen Rasse pestilenzartig eingedrungen waren, wie die Ratten. Die Rattenplage nahm jene Dimensionen an, wie weiland in Hameln. Der Chronist erzählt, daß die Nager die Katzen töteten und Schlachten mit den Hunden lieferten! Später entstand sogar ein Rattenlied, das, in den Rhythmus des »Rattenfängers« übersetzt, etwa so lauten würde:
Tausende von Ratten rennen
In den Häusern, in den Straßen,
In den Läden, in den Gärten,
In den Bergen, in den Tälern. –
Tausend Ratten sind geschäftigt,
Alle Dächer zu durchbohren,
Alle Wände zu durchwühlen,
Hundert Gänge aufzubrechen
Nach den Kellern, nach den Speichern.
Ach, sie nehmen ihre Mahlzeit
Ohne Maß und ohne Schranken,
Und in jedem Krämerladen
Sind sie trotz des Herrn Gebieter.
Elf Sack Mehl vertilgten manchen
Monat sie und so viel Charqui,
Bohnen, Mais, daß zehn Familien
Damit gut bestanden hätten.
Nicht das Zeug und nicht die Wäsche
Schonen diese wüsten Räuber,
Die aus tausend Kehlen gellend
Schreien wie zum Spott und Hohne.
Glücklicherweise ist es nicht nur das Ungeziefer der Alten Welt, welches in der Neuen die günstigsten Entwicklungsbedingungen fand. Die einstmals riesigen Herden verwilderter Pferde in den Prärien Nordamerikas, die unermeßlichen der Rinder in den argentinischen Pampas beweisen zur Genüge, daß sich an die Ferse des »Weißen Mannes« nicht ausschließlich Plagen hefteten.
Die Robinsoninsel aber verwandelte sich in ein Ziegeneiland. Von nur vier Exemplaren, die bereits der Entdecker aussetzte, stammen die zahlreichen Völker ab, welche Juan Fernandez noch heute bewohnen. Sie besuchen kaum die waldreichen Schluchten, sondern werden auf den Hochplateaus, und besonders jenen steppenartigen, von langhalmigem Teatinagras bedeckten Niederungen der südwestlichen Insel. Beinahe alle Ziegen sind dunkelbraun und besitzen als einzige Zeichnung einen schwarzen, am Rücken entlang laufenden Streifen und ebensolche an den Außenseiten der Beine. Sie ähneln so merkwürdig ihren wilden Genossen der Pyrenäen, des Kaukasus und der Gebirge Persiens und schmiegen sich durch ihr Gewand innig den düsteren Steilküsten an, ihren Zufluchtsorten bei Gefahr. Hierher vermag ihnen weder Mensch noch Hund zu folgen, höchstens vom Meere aus ein Schuß sie herunter zu holen. Freilich darf man nicht annehmen, Juan Fernandez habe wilde Ziegen ausgesetzt! Die Stammeltern waren bunte Hausziegen, wie sie hin und wieder noch in unseren Tagen der Jäger dort erlegt. Erst in der Aufeinanderfolge vieler Geschlechter bildete sich die Schutzfärbung heraus, welche überall auf monotone Töne gestimmt ist. Genau wie bei den wilden Eseln – einer hohen, kräftigen Rasse mit kastanienfarbenem langen Haarkleid – welche die höchsten Erhebungen des östlichen Eilandes bevölkern und sich die Ziegenjäger zu erbitterten Feinden gemacht haben. Die wilden Esel besitzen nämlich ein fabelhaftes Witterungsvermögen, und beim entferntesten Nahen einer Gefahr stoßen sie heftige Schreie aus, welche die Ziegen mit jäher Flucht auf die unnahbaren Felswände beantworten. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts gab es noch eine kleine Herde, der aber leidenschaftlich nachgestellt wurde. In großer Fülle sind sie dagegen auf dem schwerer zugänglichen Masafuera vorhanden. Man hat keine Ahnung, wann und von wem die Esel eingeführt wurden. Aber zu Robinsons Zeiten waren sie wahrscheinlich noch nicht auf Masatierra.
Auf dem Pfade zum Lugaus.
Cycasfarne und Lumadickicht.
Verf. phot.
Dagegen sind wir genau orientiert, wie die Hunde, welche unseren Eremiten die erste Nacht wach erhielten, auf die Perle des Pacifico gelangten. Wie wir erzählten, war Juan Fernandez das Stelldichein der Seeräuber, die aber weniger sein landschaftlicher Zauber als die feisten Ziegenziemer herbeilockte. Da kam nun der Vizekönig Melchior Portacarrero (1683) auf die Idee, die Ziegen durch Hunde auszurotten. Ein Experiment praktischen Kampfes ums Dasein! Bei nächster Gelegenheit mußte ein spanischer Kreuzer Schäferhunde landen. In der Tat, sie vermehrten sich und schlossen sich wie ihre Vettern, die Wölfe, zu Rudeln zusammen, um die Ziegen zu jagen und zu stellen; sie veranstalteten gewissermaßen Treibjagden. Anfangs mögen sie Glück gehabt haben, dafür zeugt ihre starke Fruchtbarkeit, aber allmählich lernten die Ziegen den neuen Feinden begegnen, und die Hunde wurden derart vom Hunger gepeinigt, daß sie nachts die Wohnungen der Menschen angriffen, welche sie auszurotten strebten, was ihnen jedoch erst bis 1880 gelungen ist. Ein seltsamer Mythus bildete sich betreffs der Hunde heraus; sie sollen das Bellen auf Juan Fernandez verlernt haben! So berichtete ganz ernsthaft ein chilenischer Geschichtsschreiber.
Der Wunsch des erfinderischen Vizekönigs scheiterte also an der Schlauheit und Wehrhaftigkeit der Ziegen, welche den Hunden förmliche Schlachten geliefert haben, in denen ein gewiegter alter Bock den Anführer spielte, und die fleischgierigen Räuber den kürzeren zogen.
Auch die Katzen, welche man gegen die Ratten ausspielte, haben nicht allzuviel ausgerichtet und sich offenbar mehr an die einheimischen Vögel gehalten, denn auch sie befolgten in Juan Fernandez das Gebot, »seid fruchtbar und mehret euch!« mit Hingebung und Glück.
Zu den verschiedenen fremden Vierfüßlern gesellte sich nur ein einziger unserer domestizierten Vögel, die Taube. Leider ist ihre Geschichte auf der Insel ebenfalls in völliges Dunkel gehüllt, indessen muß sie seit undenklichen Zeiten dort zu Hause sein, denn sie veränderte ihr Federkleid derart, daß sie kaum noch ihre Ahnin, die Felsentaube, verrät. Fast schwarz färbte sich das schieferfarbene Gefieder. Die einst leuchtend weißen Binden sehen heute wie berußt aus, und von dem metallischen Schimmer, der Brust und Nacken schillern ließ, erhielt sich nur ein matter Abglanz.
Nun kennen wir das Hoch- und Niederwild, welches die Jagdgründe der Zauberinsel barg, als unser Robinson sie betrat, zumal wenn wir uns der Tierwelt erinnern wollen, mit der die Vorsehung Land und Meer belebt hatte. –
Auf die sternenklare Nacht folgte ein heller, sommerlicher Frühlingstag, der unserem Einsiedler sein Reich in all seiner festlichen Schönheit zeigte: den üppigen Wald, welcher sich hoch in den Schluchten hinaufzog, und den zurzeit ein braun-goldener Schimmer überhauchte von den jungen Trieben der Luma. Hier und dort überwölbte ihn die weitausgreifende Krone des silberästigen Naranjillo oder der volle Wipfel einer Palme, deren rote Fruchtbüschel weithin leuchteten, Schwärme von Zorzales herbeilockend, die an ihrer Süße sich labten. Und über Wald und Busch hinaus ragte nackt und kahl der Yunque, dessen schwindelnde Felsen, in blaugraues Licht getaucht, weich und duftig erschienen.
Robinsons Blicke wanderten die Umrisse der Gebirge, gegen welche die Morgensonne ihre alles durchdringenden Strahlen warf, auf und ab; sie spähten nach einer Lücke, nach einem Tale, das die Felsmauer durchbrechen möchte, denn ein neues Hoffnungsflämmchen hatte sich ihm entzündet in der Frage: wer weiß, was es hinter den Bergen gibt? Und er unterschied einen Einschnitt, eine Art Paß, zwar in ziemlicher Höhe, aber offenbar in einigen Stunden erreichbar. Er machte sich ungesäumt auf. Die Leute nennen ihn heute Portezuelo. –
Ich bin den Weg manches liebe Mal geschritten und kann als Führer dienen. Wir verlassen die Ufer des rauschenden Baches, der, von beinahe mannshohen Pangues und Minzen eingehegt, der Bahia Cumberland entgegenströmt und wenden uns gegen eine Anhöhe, die von einem Haine herrlicher Quitten bedeckt ist, zurzeit im Schmucke großer, weißer Blüten. Robinson betrachtete sie mit freudigem Staunen (im nächsten Herbst – April und Mai – sollte er ihre prächtigen Früchte ernten) und trat alsbald in dichten Buschwald. Ein Schwirren und Summen erfüllte das Dämmerdunkel, und ein verlorener Sonnenblitz entflammte rot oder grün auf dem Gefieder eines Kolibri, welcher die tief violetten Blüten des Juan Bueno in zitterndem Flügelschlag besuchte. Noch einmal geht's zu Tale, den Bach zu kreuzen und dann einen Bergrücken hinan, dessen schmaler Grat in erträglicher Steigung dem Portezuelo zustrebt. Zykasfarne decken die Flanken. Die im Schmucke ihrer feurigen Blütenpracht stehenden Alpenrosen von Juan Fernandez säumen den Grat; aber auch Gehege eleganter Myrtenbäumchen, noch voll von überwinterten, schwarzen Beeren, den süßen, aromatischen Murtillas, der Wonne aller, die sie je kosteten. Sie drängten zur Ernte und mögen unserem freiwilligen Eremiten das erste Frühstück gespendet haben.
Das Tal der Kolonie, welches sich vom Lugaus (sattelförmiger Einschnitt etwa in der Mitte der hintersten Bergkontur) zur Cumberlandbai hinabsenkt.
Im Vordergrunde Wäldchen von Feigenbäumen!
Verf. phot.
Die Insel schien ihn an sich ketten zu wollen. Denn kaum von seiner Mahlzeit aus dem schwellenden Polster der Farnkräuter erhoben, traf er auf einen Erdbeerkamp. Die großblätterigen Pflanzen, welche wie ein Rasen eine weite Strecke überwuchert hatten, prangten trotz der frühen Jahreszeit in Blüten und Früchten zugleich, und letztere, von denen es weiße und rötliche gab, waren von einem Umfang, wie Robinson solche nie zuvor gesehen hatte, und dabei süß und saftig. Es handelte sich um echte Erdbeeren, aber keineswegs um die seiner schottischen Heimat. Gewiß nicht; sie wurden aus Südchile nach Juan Fernandez verschlagen. Dort, namentlich in den Gegenden der Mapucheindianer, welche ihre Frauen und Pferde so reich mit Silber schmücken, ist sie zu Hause, und von hier aus trat sie ihren siegreichen Eroberungszug in die Gärten der ganzen Welt an. Denn jene Erdbeeren, welche im Juni und Juli ihre köstlichen Riesenfrüchte auf unseren Rabatten zeitigen, stammen aus Chile. Ein französischer Gelehrter und Reisender nahm im Jahre 1712 oder 13 fünf Pflänzchen mit, die den Stamm jener reichen Kulturen bildeten, die es schon im 18. Jahrhundert in Westeuropa gab, und die sich unter der veredelnden Hand des Gärtners zu den »Mammuterdbeeren« und ähnlichen Kolossen auswuchsen.
Zwiefach gestärkt setzte Robinson seinen Weg fort. Bald umfing ihn Waldesdunkel; durch tropisch wuchernde Gebüsche hatte er seinen Pfad zu bahnen, und nunmehr wölbte sich über ihm ein fremdartiges Blätterdach, so wundervoll, so zart und luftig, wie er es nie geschaut: wie ein Spitzengewebe oder wie das arabeskenreiche Gitterwerk des Deckengewölbes eines köstlichen Domes. Es waren die Kronen himmelanstrebender Baumfarne, die sich nicht dicht genug aneinanderschlossen, um nicht hundertfältig das Blau des Äthers durchleuchten zu lassen und den durchbrochenen Rosetten eines edlen Bauwerks glichen. Mit den Baumfarnen wetteiferten Palmen, die Chonta, mit dem grünen, weißgeringelten, kerzengeraden Stamm und den üppigen Wedeln. Robinson ahnte damals noch nicht, welche Wichtigkeit sie für seines Leibes Nahrung und Notdurft in Zukunft bekommen sollte.
Ein letzter, steiler Anstieg an schroffer Felswand entlang, die im Schmucke weißer Glockenblumen stand. Der Wind pfiff auf seinem Eilmarsche durch den sattelförmigen Portezuelo. Die Canelos haben sich mit langen Moosbärten behängt. Die Vegetation bekommt einen Hochgebirgsanstrich. Der Paß war erreicht. Nach drei Himmelsrichtungen schweifte sein Blick über das blaue Meer, das an der Insel in ungestümer Brandung zerschellte. Er sah ihre weiße Gischtzone, die wie ein Kranz das Eiland umschlang. Er hörte dumpf ihr Rollen. Im Osten hemmte das Auge ein stumpfer Kegel. Er beschloß, ihn zu erklettern. Eine ungehinderte Rundsicht belohnte diese letzte Mühe. Gegen Morgen Gebirge von unruhigen Formen, mit abenteuerlichen Spitzen; mit jähen, mauerartigen Abfällen auch die Steilküsten erzeugend, an denen der Blick schwindelnd Hunderte von Metern hinabglitt. Täler durchbrechen sie, aus denen üppiges Grün hervorquillt. Im Westen hügelig Gelände, steppenartige Niederungen mit hohem jungen Gras. Die Insel verliert sich in isolierten wie »Bischofsmützen« gestalteten Felspfeilern, die das Meer oft überschäumt. Im Rücken, dort, woher er gekommen, die breite, waldumrahmte Cumberlandbai mit dem wie ein Kristall geformten Cerro Diamante; vor sich die Bucht von Villagra, in der Ziegenherden weideten und Seehunde am Strande sich sonnten, und dann nochmals eine Insel, das kleine Eiland Santa Clara.
Das war sein meerumschlungenes Reich, an dessen Schwelle wie eherne Erzgebilde plumpe See-Elefanten lagerten, und das wie eine Kette Soldaten Pinguine gravitätisch bewachten.
Unzählige Male kehrte Robinson nach jenem Kegel zurück, der noch heute Robinsons Lugaus genannt wird, und an dessen nördlichem Abhang sich eine eiserne Tafel befindet, die in englischer Sprache folgendes dem Gedächtnis bewahrt: Dem Andenken an
Alexander Selkirk,
Seemann.
Gebürtig aus Largo in Der Grafschaft Fife,
Schottland.
Welcher auf der Insel in völliger Einsamkeit vier
Jahre und vier Monate lebte.
Er wurde gelandet von der Galeere »Fünf Hafen«,
96 Tonnen, 16 Geschütze, A.+D. 1704 und wieder mitgenommen
durch den Kaper »Herzog« am 12. Febr. 1709.
Er starb als Leutnant S. M. S. »Weymouth« A.+D. 1723,
47 Jahre alt.
Diese Tafel wurde errichtet in der Nähe von
Selkirk's Lugaus durch den Kommandanten Powell
und die Offiziere S. M. S. »Topaze« A.+D. 1868.
Auf dem Pfade zum Lugaus. Farnwildnis.
Verf. phot.