Giovanni Boccaccio
Dekamerone oder die 100 Erzählungen
Giovanni Boccaccio

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Fünfundvierzigste Erzählung.

Es wohnten einmal in der Stadt Fano zwei Männer aus der Lombardei, von welchen der eine Guidotto von Cremona hieß, und der andere Giacomino von Pavia, welche beide in ihrer Jugend Soldaten und beständige Waffenbrüder gewesen und jetzt schon bejahrte Leute waren. Wie Guidotto sein Ende merkte und keinen Sohn hatte, auch keinen Freund oder Verwandten, auf den er sich besser verlassen konnte, als auf Giacomino, so gab er diesem umständliche Nachricht von seinen weltlichen Angelegenheiten, empfahl ihm ein kleines Mädchen von ungefähr zehn Jahren, welches er bei sich hatte, und starb.

Um diese Zeit hob sich die Stadt Faenza wieder ein wenig empor aus dem traurigen Zustande, in welchen sie durch langwierige Kriege war versetzt worden, und die Ausgewanderten konnten demnach frei und ungehindert wieder dahin kommen. Giacomino, welcher in vorigen Zeiten daselbst gewohnt hatte, und welchem die Lage des Ortes gefiel, entschloß sich demnach, mit seiner ganzen Habe wieder dahin zu ziehen und nahm das Mädchen mit, welches ihm Guidotto hinterlassen hatte, und das er wie sein eigenes Kind liebte und behandelte. Wie es heranwuchs, ward es eines der schönsten Mädchen in der Stadt und ebenso tugendhaft, als liebenswürdig und schön. Sie ward daher der Gegenstand der Wünsche vieler Jünglinge; besonders aber verliebten sich in sie zwei treffliche und biedere junge Leute in solchem Maße, daß sie vor Eifersucht einander herzlich haßten. Der eine hieß Giannole di Severino, der andere Minghino di Mingole. Wie das Mädchen fünfzehn Jahre alt war, hätte jeder von ihnen sie gerne zur Frau gehabt, wenn es seine Eltern erlaubt hätten; weil aber diese ihre Ursachen hatten, ihre Einwilligung zu versagen, so trachteten beide Jünglinge darnach, sich ihren Besitz auf eine oder die andere Weise selbst zu verschaffen.

Giacomino hatte in seinem Hause eine ältliche Magd und einen Diener, namens Crivello, der ein lustiger Bursch und ein guter Geselle war. Mit diesem machte Giannole Bekanntschaft, entdeckte ihm zu gelegener Zeit seine Liebe und bat ihn zugleich, ihm zur Erreichung seiner Wünsche behülflich zu sein, wofür er ihm eine ansehnliche Belohnung versprach.

Crivello antwortete: »Ich weiß Dir anders nicht zu helfen, als daß ich Dich, wenn der Alte einmal irgendwo zu Gaste geht, zu dem Mädchen in's Zimmer lasse. Denn wenn ich für Dich sprechen wollte, so würde sie mich nicht anhören. Genügt Dir das, so will ich Dir's zusagen und halten, und Du magst hernach thun, was Du willst und was Du kannst.«

Giannole war sehr damit zufrieden und der Handel war geschlossen.

Minghino hatte an seiner Seite die alte Magd so kirre gemacht, daß er sie vermocht hatte, verschiedene Botschaften an das Mädchen zu bestellen, sodaß sie fast anfing, ihm geneigt zu werden; auch hatte die Magd ihm versprochen, ihn zu ihr zu führen, sobald ihr Herr einmal des Abends nicht zu Hause wäre.

Nicht lange nachdem diese Unterhandlungen gepflogen worden, wußte Crivello es so einzurichten, daß Giacomino zum Nachtessen zu einem Freunde ging, welches er dem Giannole wissen ließ, und mit ihm Abrede nahm, daß er auf ein gegebenes Zeichen kommen und die Thür offen finden sollte. Die Magd, welche von diesem Verständnisse nichts wußte, ließ an ihrer Seite dem Minghino Nachricht geben, daß Giacomino nicht zu Hause essen würde; er möchte sich demnach in der Nähe aufhalten, damit sie ihm zu gelegener Zeit ein Zeichen geben und ihn einlassen könnte.

Wie der Abend kam, und die beiden Liebhaber zwar nichts von ihren beiderseitigen Entwürfen wußten, aber sich doch vor einander fürchteten, so ließen sich beide von einigen bewaffneten Freunden begleiten, indem sie sich auf die Warte stellten. Minghino ging mit den Seinigen nach dem Hause eines Freundes in der Nachbarschaft des Mädchens, um verabredete Zeichen abzuwarten; Giannole mit seinen Leuten wartete nicht weit von dem Hause auf der Straße. Nachdem Giacomino ausgegangen war, suchten Crivello und die Magd einander wechselweise zu entfernen. »Warum gehst Du noch nicht schlafen? (fragte Crivello) was wankst Du noch immer im Hause herum?« Und sie fragte ihn wieder: »Warum gehst Du nicht nach Deinem Herrn? worauf wartest Du noch, da Du Dich schon satt gegessen hast?« So bemühten sie sich lange vergeblich, einander fortzuschicken. Endlich, wie die Zeit kam, die Crivello mit Giannole verabredet hatte, dachte dieser: »Was kümmere ich mich um die Alte! wenn sie nicht ruhig sein will, so kann sie etwas abkriegen.« Er gab also das verabredete Zeichen, worauf Giannole den Augenblick mit zweien von seinen Begleitern hereinkam, das Mädchen im Saale fand und sie entführen wollte. Sie sträubte sich aber und schrie, und ihre Magd gleichfalls. Dies hörte Minghino und sprang mit den Seinigen herbei, indem man das Mädchen eben aus der Thüre schleppen wollte. Sie zogen ihre Schwerter und riefen: »Ha! Ihr Treulosen; Ihr seid des Todes! Euer Frevel soll Euch nicht gelingen. Was treibt Ihr für Gewaltthätigkeit?« Es kam zum Handgemenge; über dem Getümmel kamen auch die Nachbarn mit Licht und mit Waffen zum Vorschein, schalten über den Unfug und standen dem Minghino bei. Nach langem Raufen entriß Minghino dem Giannole das Mädchen und führte es wieder in's Haus; doch nahm die Schlägerei nicht eher ein Ende, bis die Wache kam und einige von den Kämpfern in Verhaft nahm und in's Gefängnis führte, unter welchen auch Minghino, Giannole und Crivello sich befanden.

Wie der Lärm gestillt und Giacomino indessen nach Hause gekommen war, bekümmerte sich dieser zwar sehr über das, was vorgefallen war; doch war es ihm nach genauer Erkundigung wenigstens lieb zu vernehmen, daß das Mädchen keinen Teil an dem Anschlage gehabt hatte; damit aber dergleichen in Zukunft nicht wieder geschehen mochte, so nahm er sich vor, sie bei der ersten Gelegenheit zu verheiraten.

Wie der Morgen kam, und die Verwandten der Jünglinge die Ursache ihres Scharmützels erfuhren und wußten, daß es den beiden jungen Leuten übel bekommen könnte, wenn Giacomino sein Recht gegen sie verfolgte, gingen sie zu ihm und baten ihn mit freundlichen Worten, auf die empfangene Beleidigung, welche ihm die unbesonnenen Jünglinge zugefügt hätten, nicht so sehr Rücksicht zu nehmen, als auf seine Freundschaft und sein Wohlwollen gegen sie selbst, die ihn deswegen um Verzeihung bäten, und für sich und die jungen Leute sich zu jedem Ersatz erböten, den er verlangen würde.

Giacomino, der zu seiner Zeit Vieles gesehen und erfahren hatte, und ein gutmütiger Mann war, gab ihnen mit wenigen Worten zur Antwort: »Meine Herren, wenn ich auf meinem eigenen Grund und Boden wohnte, so wie ich auf dem Eurigen mich befinde, so würde ich dennoch Freundschaft genug für Euch haben, um Euch in diesem Stücke so wie in jedem anderen zu willfahren; wie viel mehr denn in diesem, da die Beleidigung auf Euch selbst zurückfällt. Denn dieses Mädchen ist weder aus Cremona, noch aus Pavia gebürtig, wie manche vielleicht glauben, sondern aus dieser Stadt Faenza; obgleich weder ich, noch derjenige, welcher sie mir anvertraut hat, noch sie selbst jemals erfahren haben, wessen Tochter sie ist. Ich will demnach Euch zu Gefallen gerne Alles thun, was ihr von mir begehrt.«

Die guten Männer erstaunten, wie sie hörten, daß das Mädchen eine Faentinerin wäre; sie dankten dem Giacomino für seine biedere Äußerung und baten, er möchte ihnen doch sagen, wie das Mädchen in seine Hände gekommen, und woher er wisse, daß sie aus Faenza gebürtig sei.

Giacomino antwortete: »Guidotto von Cremona war mein Freund und Waffenbruder. Wie er starb, sagte er mir, wie Kaiser Friedrich diese Stadt eingenommen, und Jedermann Beute gemacht habe, sei er mit seinen Kameraden in ein Haus gekommen, welches sie zwar voll Hausrat und Sachen gefunden hätten, aber ohne Bewohner, außer diesem Kinde, welches damals ungefähr zwei Jahre alt gewesen, und wie es ihm auf der Treppe entgegen gekommen sei, und ihn Vater genannt habe. Dies habe ihn sehr gerührt, und er habe das Kind, samt Allem, was er in dem Hause vorgefunden, mit nach Fano genommen. Dort hat er mir das Mädchen bei seinem Absterben anvertraut, und mir empfohlen, sie zu rechter Zeit zu verheiraten, und ihr das Ihrige zum Mahlschatz mitzugeben. Seitdem sie mannbar geworden, ist mir noch niemand vorgekommen, dem ich sie nach meinem Wunsche hätte zur Frau geben mögen, so gern ich sie auch versorgt sehen möchte, damit nicht wieder solche Auftritte vorfallen wie der gestrige.«

Von ungefähr war ein gewisser Guilielmino da Medicina mit gegenwärtig, welcher mit dem Guidotto bei jenem Vorfall zugegen gewesen war, und sich noch sehr wohl erinnerte, wessen Haus Guidotto damals geplündert hatte. Auch der Eigentümer war jetzt mit in der Gesellschaft, und Guilielmino sagte zu ihm: »Hörst Du wohl, Bernabuccio, was Giacomino sagt?«

»Ja (sprach dieser), und es bringt mich zum Nachdenken, denn ich erinnere mich, daß ich in jenen Unruhen ein Töchterchen von eben dem Alter verlor, dessen Giacomino erwähnt.«

»Wahrscheinlich ist diese dieselbe (sprach Guilielmino); denn ich hörte damals den Guidotto sagen, wo er geplündert hätte, und nach seiner Beschreibung zu urteilen, war es in Deinem Hause gewesen. Erinnerst Du Dich nicht vielleicht irgend eines Merkmals, woran Du Dein Kind erkennen könntest? Du wirst gewiß bei näherer Untersuchung finden, daß sie es selbst ist.«

Bernabuccio erinnerte sich, daß seine Tochter eine kreuzförmige Narbe über dem linken Ohre haben müßte, wo man ihr kurz vor den Unruhen ein Geschwür aufgeschnitten hatte. Er bat demnach den Giacomino um Erlaubnis, das Mädchen zu sehen. Giacomino gab sie ihm mit Freuden. Wie Bernabuccio sie kaum erblickte, glaubte er schon in ihrem Gesichte jeden Zug ihrer Mutter, die noch eine hübsche Frau war, zu erkennen; allein noch nicht zufrieden damit, bat er den Giacomino, ihm zu erlauben, ihr die Locke über dem Ohr ein wenig zu lüften. Giacomino hatte nichts dawider; Bernabuccio hob die Haarlocke des züchtig verschämten Mädchens ein wenig in die Höhe und fand augenblicklich die Narbe von dem Kreuzschnitt. Da er nun nicht mehr zweifeln konnte, daß sie seine leibliche Tochter war, fühlte er sich bis zu Thränen gerührt, und ihres jungfräulichen Widerstrebens ungeachtet, schloß er sie zärtlich in seine Arme. »Bruder! (sprach er zu Giacomino) sie ist meine leibliche Tochter, die mir Guidotto entführt hat. In unserem ersten Schrecken hatten ich und meine Frau sie vergessen, und weil mein Haus bei der Plünderung niedergebrannt ward, so haben wir bis diese Stunde geglaubt, unser Kind wäre in den Flammen umgekommen.«

Jetzt rührten seine Worte, sein Alter und sein geheimes Gefühl das Herz des schüchternen Mädchens, sodaß es sich seiner Umarmung ohne Widerstand überließ und kindliche Thränen an seinem Busen vergoß. Bernabuccio sandte unverzüglich nach seiner Frau, nach seinen übrigen Kindern und nach seinen Verwandten, zeigte ihnen allen die wiedergefundene Tochter und führte sie endlich nach unzähligen Umarmungen von allen Seiten mit Freuden nach Hause.

Giannole war ein Sohn des Bernabuccio. Wie der Stadtvogt (ein sehr wackerer Mann) erfuhr, daß er der leibliche Bruder des Mädchens war, welches er hatte entführen wollen, verzieh er ihm mit Gelindigkeit seinen Jugendfehler, und mit Genehmigung des Giacomino und Bernabuccio ward Minghino in diese Verzeihung nicht nur mit eingeschlossen, sondern er bekam auch mit Zustimmung aller seiner Verwandten das Mädchen, welches Agnes hieß, zur Gattin. Um ihretwillen wurden auch Crivello und alle Übrigen, die in die Sache verflochten waren, auf freien Fuß gestellt; Minghino machte eine große und stattliche Hochzeit, führte sein Weibchen heim und lebte mit ihr viele Jahre friedlich und glücklich.

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