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Die Tauben und die Maus

Ein Jäger streute einige Reiskörner aus, spannte darüber sein Netz und verbarg sich dann hinter einem Gebüsch. Bunthals, der Taubenkönig, erblickte den Reis und sprach zu seinem Gefolge: »Woher wohl in diesem menschenleeren Walde die Reiskörner kommen mögen? Fressen davon möchtet ihr wohl gern: wehe uns aber, wenn es uns dann so ergehen würde wie dem Wanderer mit dem Tiger!«

»Wie erging es denn dem?« fragten die Tauben.

»Ich sah es einst in einem Walde. Ein alter Tiger hatte sich in einem See gebadet und mit einer Handvoll Gras kam er nun wieder ans Land. Einem Wanderer, der vorüberging, streckte er die geschlossene Hand entgegen. ›Hier, Wanderer‹, sprach er, ›geb' ich dir ein goldenes Armband. Komm nur und nimm's!‹

Der Mensch aber blieb furchtsam stehen und fragte: ›Wie könnte ich dir, der du ein Mörder bist, vertrauen?‹

›Ja, Wanderer‹, sagte der Tiger, ›in meinen Jugendjahren war ich sehr schlecht. Dann aber starben mir meine Frau und meine Kinder dahin, weil ich viele Kühe und Menschen erwürgt hatte. Da ich nun sehr traurig ward, gab mir mein Freund den Rat, ich solle mich bessern und einen frommen Lebenswandel beginnen. Das tat ich denn, und viele gute Werke hab ich seitdem verrichtet, an frommen Waschungen im Ganges es auch nicht fehlen lassen, wie Mohammed der Prophet sie allen Gläubigen vorgeschrieben hat. Auch die Zähne sind mir inzwischen schon ausgefallen. Gleichwohl aber heißt es noch immer: 'Der Tiger frißt den Menschen!' Ha, ich und einen Menschen fressen! Die niederträchtigste Verleumdung ist's, wenn man so noch immer von mir spricht. Ein goldenes Armband schenken will ich dir, weil du sehr arm bist, wie ich mir denke. Wohlan denn, nimm im See eine fromme Waschung vor, und nachher sei das Armband dein!‹

Nach diesen Worten vertraute der Wanderer des Tigers Lockung und badete sich im See. Dessen Grund aber war hoch mit Schlamm bedeckt, und in diesen sank er nun so tief ein, daß er sich fast nicht von der Stelle rühren konnte.

›Ha, ha, ha!‹ lachte der Tiger jetzt: ›Bist du in den großen Morast gesunken? Warte nur, ich hole dich wieder heraus!‹ – Näher und näher rückte er dem Wanderer dabei auf den Leib. ›Tor ich, der ich war!‹ dachte der Mensch da: ›Einem Mörder zu vertrauen!‹ Und kaum noch hatte er so gedacht, da ergriff der Tiger ihn und erwürgte ihn und fraß ihn auf. Darum, so sag' ich euch«, setzte der Taubenkönig hinzu, »unüberlegt soll man niemals handeln und den Lockungen seines Feindes nicht vertrauen.«

»Ach«, sagte eine junge Taube, »einen weisen Rat soll man zwar befolgen; wenn der Hunger aber mahnt, darf man nicht allzu ängstlich sein.«

So sprechend, ließ sie sich unter dem Netze nieder, um die Reiskörner aufzupicken, und die anderen Tauben taten's ihr nach, selbst den König nicht ausgenommen – Das Netz fiel über ihnen nun zusammen, und so waren sie alle gefangen.

Mit argen Schimpfreden ward die Verführerin jetzt geschmäht. »Schiebt nicht auch unsere eigene Schuld auf sie!« sagte der König Bunthals aber. »Unser eigenes Verschulden ist's, wenn wir auf die Stimme des Verführers hören, statt der Warnung der Vernunft zu folgen. Mit Vorwürfen und Klagen wird euch jetzt nicht geholfen. Seien wir daher alle eines Sinnes und schwingen wir uns gemeinsam in die Höhe! Vielleicht, daß es unseren vereinten Kräften gelingt, das Netz mit uns emporzuheben!«

Dieser Rat leuchtete den Tauben ein. Sie befolgten ihn, und ihrem vereinten Ansturme vermochte das Netz nicht zu widerstehen. Es löste sich vom Boden; die Tauben trugen es mit sich in die Höhe und flogen mit ihm, da sie sich darein verstrickt hatten, davon.

Der Jäger, der das sah, war davon so überrascht, daß er sich zum Schießen auf die Tauben erst dann bereit machte, als es dazu schon zu spät war. Er tröstete sich nun mit dem Gedanken, daß die Tauben mit dem Netze nicht weit würden fliegen können und ihm daher bald zur Beute werden müßten.

Wirklich dauerte es auch nicht lange, da seufzten die Tauben unter der schweren Last, und sie fragten den König Bunthals: »Was sollen wir nun tun?«

»In der Nähe«, sagte der, »wohnt mein Freund, der Mäusekönig Hiranjaka. Der soll mit seinen scharfen Zähnen das Geflecht des Netzes zernagen.«

Der Gedanke fand den Beifall aller Tauben, und sie flogen nach des Mäusekönigs Höhle.

Aus Furcht vor einem feindlichen Überfall hatte Hiranjaka alle hundert Zugänge zu seinem unterirdischen Palast verschlossen. Als er nun das Geflatter der Tauben hörte, da erschrak er sehr, und er regte sich nicht in seiner Höhle, denn er meinte, daß Feinde ihn überfallen wollten.

»Freund Hiranjaka!« rief König Bunthals laut. »Warum kommst du nicht, deinen Freund Bunthals zu begrüßen?«

Da verließ den Mäusekönig alle Furcht. Hinausgehend zu seinen Besuchern sagte er: »Oh, ich bin sehr glücklich, daß mein Freund Bunthals gekommen ist!«

Nunmehr erblickte er das Netz und die Tauben, die darin zappelten. »Aber, Freund«, fragte er, »was ist denn das?«

Der Taubenkönig erzählte ihm nun alles, was vorgefallen war. Sofort wollte der Mäusekönig mit der Kraft seiner Zähne den Freund aus dem Netze befreien. Bunthals aber sagte: »Nicht so, lieber Freund! Zuerst zernage die Maschen, in denen meine Getreuen sich fingen!«

Das mißfiel dem Mäusekönig aber sehr.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »ob die Kraft meiner kleinen Zähne dazu ausreichen wird, das ganze Netz zu zernagen. Dir laß mich daher zuerst die Freiheit geben! Dem nicht zu widerstreben gebietet die Klugheit.«

»Mag dem immerhin so sein«, entgegnete der Taubenkönig, »mein väterlich gesinntes Herz gibt es gleichwohl nicht zu, und angesichts der Gefangenschaft meiner Getreuen könnte ich mich der eigenen Freiheit nicht freuen. Mich darum laß den letzten sein, den du befreist!«

»Freund«, sprach der Mäusekönig, freudig gerührt, »du verdienst die Herrschaft, die du ausübst, und noch eine weit größere dazu. Darum – dein Wille geschehe!«

Mit der Schärfe seiner Zähne zernagte der treue Freund seiner Freunde das Netz, und als den letzten befreite er den Taubenkönig.

Herzlich dankten ihm die Tauben dafür, und der wiedergewonnenen Freiheit froh flogen sie davon.

Zum Könige der Mäuse aber, der in seine Höhle zurückkehrte, sprach die Krähe Leichtfittich, die alles gesehen hatte: »O Hiranjaka, mit dir möcht' ich sofort Freundschaft schließen! Nimm mich als deine Freundin an!«

Hiranjaka jedoch erwiderte: »Wie könnte ich dich als meine Freundin ansehen? Wer mir nach dem Leben trachtet, der ist nimmer mein Freund!«

 


 


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