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Der Löwe und der Wolf

Der Löwe, von dem wir hier erzählen, war sehr böse und gefräßig. Er fraß so viele, viele Tiere auf, ohne viel Unterschied zu machen. Da veranstalteten die Tiere eine große Versammlung, und der Wolf sprach: »Hörer, Brüder und Schwestern, Schweine und Igel, Adler und Küchlein! Hörer meine Worte und behaltet sie im Herzen! Der Löwe, das gierige Tier, frißt uns alle ohne Unterschied auf. Ich möchte euch heute einen Vorschlag machen: wir werfen das Los, und derjenige, der vom Lose getroffen wird, muß sich zum Könige begeben und sagen, daß er ihm zum Futter dienen möchte!«

Die Tiere waren hiermit einverstanden, und diejenigen, die das Los nicht getroffen, freuten sich, nun jeden Tag ungestört im Walde herumspazieren und sich ohne Furcht Futter holen zu können; diejenigen aber, die das Los traf, waren traurig, und mit Tränen näherten sie sich der Behausung des gefräßigen Löwen und klopften an seiner Tür an. »Wer ist dort?« – »Ach, – ich!« – »Wer bist du?« – »Ich bin ein kleines Küchlein. Mich traf heute das Los« – Da öffnete der Löwe, besah sich das kleine, arme Tierchen und rief: »Wie mager du bist! Und ich bin kein Freund von Federn. Aber immerhin füllst du wohl ein kleines Eckchen aus im Löwenmagen.« – Dann machte er Aum und Agg und verschluckte das Tierchen.

Ein anderes Mal traf das Los eine kleine Ziege. Sie klopfte an die Tür und der Löwe rief: »Wer ist dort?« – »Ich! Mich traf heute das gräßliche Los. Und ich bin noch so jung!« – Der Löwe brummte: »Wirklich, fett bist du nicht! Du hinterlistiges Geschöpf!« – Und wieder machte er Aum und Agg und würgte das Tier hinunter.

Traf das Los aber eine Kuh, so freute sich der Löwe und sprach jedesmal, sobald sich eine Kuh meldete: »Endlich! Ich habe wahrhaftig Lust, wieder einmal ein fettes Stück Fleisch zu verzehren!« Dann machte er Aum und Agg und fraß die arme Kuh.

Nun aber kam ein eigentümlicher Tag: das Los traf den Wolf selbst, denselben Wolf, der jenen weisen Rat gegeben hatte. – Er sprach zu sich: »Wie stelle ich es an, um nicht gefressen zu werden? – Ich werde den Löwen hintergehen müssen! Ein langer Körper hat wenig Verstand, und der Körper des Löwen ist nicht klein!« Damit schlich er hin zur Behausung des Königs und klopfte an. – Der Löwe rief: »Wer ist da?« – »Ich, Freund! Heute hat mich das Los getroffen. Nur möchte ich dir für die Gnade, die du mir damit beweisest, daß du mich aufrissest, einen Dienst erweisen. Ich weiß ein Geheimnis.« »Ein Geheimnis?« – »Ja! Ein zweiter Löwe ist hier! Er ist viel, viel größer als du und hat nebst anderen Gedanken auch den im Kopfe, dich zu bekämpfen und aufzufressen!« – »Mich?« – »Ja, dich«' – »Wo ist der Nichtswürdige, der Vermessene?« – »Komm mit! Ich will dir seinen Aufenthaltsort zeigen!«

Die beiden gingen und gingen; zuletzt gelangten sie an einen zwischen hohen Felsenwänden liegenden tiefen, dunklen Teich, und der Wolf sprach jetzt: »Hier unten im Wasser haust er; ich höre sein Lachen. Du mußt dich hier ganz nahe an den Rand stellen und versuchen, mit deinen Augen – ach, wie schön sind sie! – bis auf den Grund hinabzuspähen!«

Der Löwe war sehr darauf erpicht, seinen im Wasser lebenden Feind zu sehen, und stellte sich ganz nahe an den Rand des Teiches. Da gab ihm der schlaue Wolf einen tüchtigen Stoß, und der Löwe fiel in das Wasser, wo er versank und ertrank.

Der Wolf aber wurde von den Tieren als ihr Rettet betrachtet; sie sagten in Zukunft nur noch: »Herr Wolf!«

 


 


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