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In einer Wüste wohnte ein Löwe, der einen Affen als seinen Liebling bei sich hatte. Es fügte sich, daß der Löwe nach einem benachbarten Orte auf die Reise ging. Zuvor aber übergab er dem Affen seine Wohnung zur Bewachung.
Während der Abwesenheit des Löwen nahm ein Luchs Besitz von seinem Wohnplatze, weil es eine gute Stelle war, und er wählte sich ihn zu seiner Behausung.
Der Affe sagte zum Luchs: »Dies ist die Residenz des Löwen; wie kannst du dir anmaßen, ohne seine Erlaubnis hier dein Obdach zu nehmen?«
Der Luchs erwiderte: »Diesen Platz hab ich als Erbteil von meinem Vater, was weißt du davon?«
Der Affe schwieg still.
Der weibliche Luchs aber sagte zum Männchen: »Es ist nicht ratsam, hierzubleiben, denn einem Löwen sich widersetzen, heißt, mit seinem eigenen Blute scherzen.«
Das Männchen erwiderte: »Ei nun, Frau, wenn der Löwe kommt, so will ich ihn durch eine Kriegslist von hier vertreiben.«
Nach einigen Tagen traf die Nachricht ein, daß der Löwe komme.
Der Affe ging ihm entgegen, erzählte ihm das Vorgefallene und sagte: »Ich machte dem Luchs Vorstellungen, worauf er entgegnete, der Platz sei ein Teil seines Erbgutes.«
Der Löwe sagte: »O Affe, es kann kein Luchs sein. Wie könnte ein solches Tier sich meinen Platz zueignen? Es scheint mir, daß es eine wilde Bestie sei, die stärker ist als ich.«
Der Affe antwortete: »Es ist nicht stärker als du.«
Der Löwe sagte: »Wie du sprichst! Es gibt viele Tiere, die mich an Stärkt übertreffen.«
Der Löwe war erschrocken und machte sich auf den Weg nach seinem Hause.
Vor seiner Ankunft aber gab der Luchs seinem Weibchen die Weisung: »Wenn der Löwe in die Nähe seiner Wohnung kommt, so mache deine Jungen schreien, und wenn ich fragen werde: 'Warum schreien die kleinen Wichte?', so mußt du sagen: 'Sie wollen heute frisches Löwenfleisch haben und wollen das von gestern abend nicht fressen.'«
Der Löwe näherte sich nun der Wohnung, und die Jungen fingen an zu schreien.
Der Luchs fragte: »Warum schreien die kleinen Wichte?«
Die Alte antwortete: »Weil sie hungrig sind.«
Der Luchs fuhr fort: »Was? Ist nichts mehr übrig von dem Vorrate an Löwen- und Menschenfleisch, das ihnen gestern gegeben wurde?«
Das Weibchen sagte: »Sie wollen kein Fleisch von gestern fressen. sie wollen frisches haben.«
Der Luchs sagte zu der jungen Brut: »Beruhigt euch und habt ein wenig Geduld! Ich habe gehört, daß der hiesige Löwe heute angekommen sei, und wenn diese Nachricht wahr ist, dann sollt ihr, so Allah will, frisches Fleisch die Menge zu verzehren haben.«
Der Löwe ward bestürzt, als er diese Worte hörte, da er nicht wußte, daß es ein Luchs sei, der so sprach. Er entfloh und fragte den Affen: »Habe ich dir's nicht gesagt, daß ein gewaltiges Tier in meiner Wohnung ist?«
Der Affe sagte: »Sei nicht erschrocken, denn dieses Tier ist sehr schwach und winzig, und es sprach seine hochtrabenden Worte nur, um dich zu betrügen.«
Der Löwe näherte sich noch einmal seinem Wohnplatze, und das Luchsweibchen ließ wiederum die Jungen schreien.
Der Luchs rief dem Weibchen zu: »Beruhige die Jungen! Heute werde ich Löwenfleisch finden, denn der Affe, der mein Freund ist, hat mir versprochen und mir zugeschworen, den Löwen durch List und Trug heute hierherzubringen. Warte ein wenig und bringe die kleinen Wichte zum Schweigen! Leide es nicht, daß sie Lärm machen! Wenn er meine Stimme erkennen sollte, so wird er nicht hierherkommen.«
Als der Löwe diese Worte vernahm, packte er sogleich den Affen, und nachdem er ihn in Stücke zerrissen, ergriff er die Flucht und kam nie wieder zurück.