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XXXVIII

Weder Anne-Marie noch Frau Coßmann hatten daran gedacht, die Geschichte mit dem Pumafell wieder anzuschneiden. Als Heinrich Coßmann aber in dem Kasten auf der Veranda nach dem Garn suchte, um die Weinreben hochzubinden, fand er das Fell, von dessen Vorhandensein er nichts wußte.

»Was ist das für ein Fell?« fragte er seinen Bruder Friedrich.

»Das könnte gut der Rest vom Schützenfest sein, sieht mir bloß zu rostig aus für einen Puma.«

»Diesen Pelz hat ohne Zweifel ein Puma spazierengeführt. Das sieht man ja deutlich am Zagel und am Kopf. Schönes Fell übrigens und sauber gegerbt. Aber wo kommt das Ding her … das ist auch meinerseits eine Frage«, antwortete Friedrich Coßmann.

»Wenn du es nicht weißt … auf meinem Mist ist es bestimmt nicht gewachsen.«

»Komisch!« lachte Friedrich Coßmann.

Als Martha auf die Veranda kam, um den Tisch für das Geburtstagsessen zu decken, hielt er ihr den Pelz hin und fragte: »Bist du etwa der Besitzer des Bärenfells?«

»Bären?« lachte Martha, »die gibt es hier doch gar nicht. Und einen Hund wird man doch wohl noch von einem Ochsen unterscheiden können, denke ich. Das ist ein ganz ordinäres Hundefell. Muß man gut einmotten, sonst laufen uns die drei Haare noch auf und davon.«

»Also dir gehört das Stück auch nicht …«, sagte Friedrich Coßmann, »außerdem ist es längst nicht so ordinär, wie du meinst.«

»Soll es wertvoll sein, trotzdem: mit solchen Kostbarkeiten schleppe ich mich nicht herum«, erwiderte Martha und legte das Tischtuch auf. Und nun kam auch schon Anne-Marie mit dem Eßgeschirr und hätte es beinahe fallenlassen, als sie den Vater mit dem Fell hantieren sah. Er wußte nicht, was er mit dem Stück anfangen sollte. Heinrich sagte: »Hänge es doch an die Wand zu den beiden Gürteltierschalen und den indianischen Pfeilen. Einen Puma zu erlegen, wird man uns doch wohl noch zutrauen, auch wenn es Schwindel ist.«

»No, mit fremden Federn soll man auch die Wand nicht schmücken.«

»Siehe die Pfeile an der Wand!« sagte Martha.

»Stören sie dich etwa?« fragte Anne-Marie.

»No, ich meinte nur, weil man von fremden Federn sprach.«

»Am Ende bist du wohl der glückliche Besitzer der Trophäe?« fragte der Vater Anne-Marie.

Anne-Marie sah das Fell an und sah dem Vater in die Augen. Sie fühlte, daß er guter Laune war und das Fell nicht ungern im Hause hatte. Und darauf sagte sie: »Der Cayrú hat uns das Fell gebracht, er wisse nichts damit anzufangen. Außerdem würde es ihn immer an den furchtbaren Tod seiner Mutter erinnern.«

»Kann man verstehen«, sagte Friedrich Coßmann. »Aber wo bleibt in diesem Fall der Aberglauben? Jetzt werden die bösen Geister kommen und den Jungen plagen. Meinst du nicht auch?« fragte er Anne-Marie.

»Ich glaube nicht, daß Cayrú sich vor bösen Geistern so fürchtet, wie du annimmst, Vater. Ich denke, wir werden das Fell doch hier behalten und Cayrú dafür etwas geben. Es ist doch kein unnützes Stück … es gefällt mir.«

»Wenn es dir gefällt … meinetwegen. Laß dir aber nicht etwa einfallen, es als Kopfputz zu benutzen und im Busch damit herumzulaufen. Die Indios würden dich dann sicher für Zupáy halten und hier die ganze Gegend räumen.«

»No, Vater, der Zupáy reizt mich nicht. Ich hoffe, daß dieses Fell aber der Anfang für einen seinen Pelz sein wird.«

»Du bist ja mit einem Male so prosaisch, Mädchen?«

»Das lernt man doch hier bei dir, nicht wahr?«

»Bei mir?«

»Bei dir und bei Onkel Heinrich.«

»Endlich sind wir erkannt!« lachte Onkel Heinrich. »Und gleichzeitig hast du ein ausgezeichnetes Geburtstagsgeschenk damit für mich ausgeknobelt.«

»Du willst also sagen, Onkel, daß dir mein wirkliches Geburtstagsgeschenk nicht gefällt?«

»Entschuldige … so war der Spaß denn doch nicht gemeint. Mit dem Buch hast du mir eine große Freude bereitet. Geschichten aus Afrika lese ich immer gern.«

»Dann geht ja alles in Ordnung, und das Festessen kann seinen ungetrübten Verlauf nehmen …«, lachte Anne-Marie.

Die gute Stimmung hielt auch während der Mahlzeit an. Selbst Frau Coßmann ging heute ein wenig mehr aus sich heraus. Sie lachte sogar mit, als Anne-Marie dem Vater zurief (der Muttchen gefragt hatte, ob man sich hier an der Festtafel den Rock ausziehen dürfe, es sei reichlich warm): »Laß uns doch nicht so entsetzlich zivilisiert sein!«

»Du meinst … wir können uns hier sogar in der Badehose produzieren?« erwiderte in dem gleichen Ton Onkel Heinrich. »Dann mach mal den Anfang, wir folgen gern nach!«

»Ich werde mich hüten«, erwiderte Anne-Marie. »Ganz so wie bei den Kannibalen in Afrika ist es hier nun doch nicht.«

»Nanu … in diesem Fall bist du wieder für Zivilisation?« fragte Onkel Heinrich.

»Für die Schicklichkeit, Onkel, für jene goldene Mitte, von der es heißt: Eins schickt sich nicht für alle«, antwortete Anne-Marie mit großer Betonung.

»Richtig zurückgegeben, verehrte Nichte! Denn immerhin haben wir hier zwei junge und unbescholtene Damen sitzen«, antwortete Onkel Heinrich etwas spitz und ironisch.

»Das solltest du dir auch für andere Gelegenheiten gut merken, verehrter Onkel Heinrich«, sagte Anne-Marie und sah dabei Martha an, die kaum das Gesicht verzog. Sie verstand mit der Flachserei zwischen Anne-Marie und ihrem Onkel nichts anzufangen. Es waren noch viele Hemmungen in ihr, zumal wenn sie an das primitive Leben in ihrem Elternhaus zurückdachte und jetzt in der Lage war, Vergleiche anzustellen und bitter zu fühlen, was alles sie in den Jahren des Elends und der Enge hatte entbehren müssen.

Außerdem fiel es ihr heute besonders stark auf, daß Heinrich Coßmann immer, wo er nur konnte, sie mit den Augen festhielt. Gewiß waren die freundlichen und werbenden Blicke ihr nicht unangenehm. Sie hatte viel übrig für diesen Mann. Dennoch störte es sie hier am Tisch, im Kreis der Familie, daß er so heftig um sie warb.

Auch Anne-Marie machte sie nervös dadurch, daß sie sich so geziert beim Essen benahm. Heute ganz besonders, als man von dem »echten Porzellangeschirr« und mit dem »silbernen Besteck« aß.

Auf Muttchens Vorschlag wollte man den Kaffee eine Stunde später und draußen im Garten trinken.

»Unter dem Lapacho, nicht wahr?« sagte Anne-Marie. »Dann haben wir auch etwas von den Orchideen. Niemand sieht sie an, und dabei haben wir uns doch solche Mühe gegeben, daß sie sich hier eingewöhnen.«

»Wir werden das Versäumte heute nachholen und auch für deine Orchideen schwärmen«, sagte Heinrich Coßmann.

Während Frau Coßmann und Martha abräumten und dann in der Küche den Kaffee vorbereiteten, sahen die beiden Männer die Zeitungen durch, die gestern mit der Post gekommen und diesmal »bloß drei Wochen« unterwegs gewesen waren.

Anne-Marie ging in den Garten hinaus und legte sich in die Hängematte. Sie dachte an das Kleid aus Reiherfedern, das Cayrú für sie anfertigen wollte oder schon im Begriff war zu vollenden. Und sie überlegte, ob es nicht doch richtiger wäre, wenn er die Sache mit dem Kleid überhaupt ließe. Wozu sollte es hier gut sein? Anziehen? Dann gibt es wieder ein großes Gerede. Aber vielleicht könnte man sagen, es sei eine Dekoration, so wie die Pfeile und die indianischen Trommeln, wie der Kopfputz aus Papageienfedern und die Armspangen aus Fischknochen.

Nach vielem Hin und Her in ihren Gedanken nahm sie sich vor, erst einmal abzuwarten, ob Cayrú tatsächlich an dem Kleid noch weiterarbeitete. Vielleicht hatte er es vergessen. Sie hatte jetzt ein großes Verlangen, mit Cayrú wieder einmal allein zu sein und von seinen großen tiefen Augen sich streicheln zu lassen. Diese Sehnsucht äußerte sich immer heftiger in ihrem Blut. Vielleicht war es aber auch schon ein Traumgeschehnis. Ihre Augenlider zitterten und bewegten sich auf und nieder, so wie ein Schmetterling die Flügel bewegt, wenn sein Rüssel tief in einer Blüte steckt und von dem süßesten Honig nascht.

Es dauerte nicht lange, dann öffneten sich die Lider nicht mehr. Der Halbschlaf dauerte indes nicht lange. Aus dem Oleandergebüsch kam ein Geflüster, das nicht von fremden Menschen herrühren konnte, denn um den Garten lief ein hoher Stacheldrahtzaun. – Anne-Marie hob den Kopf und sah, daß Onkel Heinrich und Martha auf der Bank saßen.

Sie sah weiter, daß Onkel Heinrich die beiden Hände Marthas festhielt und mit seinem Gesicht immer näher an sein Gegenüber heranrückte. Und dann war es mit einem Male so weit mit ihnen, daß sie sich küßten.

Nun drehte Anne-Marie den Kopf wieder herum und schloß die Augen. Nach einer Weile nahm sie auch die Zeigefinger beider Hände und bohrte sie sich in die Ohren hinein, um nur nicht zu hören, was die beiden Verliebten auf der Bank unter dem Oleander einander zuflüsterten.

Es ist unanständig, wenn man Leute, die sich liebhaben, belauscht, dachte sie. Ich tue es ja auch nicht. Nur kann ich jetzt nicht aufspringen und davonlaufen. Denn dann ist es vorbei mit der Freude der beiden glücklichen Liebesleute. Sie gab ihren Gedanken wieder eine andere Richtung und dachte an Cayrú und das Kleid aus weißen Reiherfedern. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das wohl aussehen würde, wenn sie in dem Federkleid auf der Wiese, unter dem Ombú, einen Tanz aufführte und Cayrú dazu auf der Beinflöte blies.

Sie konzentrierte sich so in das Bild hinein, daß sie auch nicht einen Laut mehr von dem vernahm, was keine zehn Schritte von ihr entfernt auf der Bank unter dem Oleander vorging.

Sie schreckte auf, als Muttchen plötzlich an der Hängematte stand und sagte: »Du wirst uns den Kuchen doch nicht allein essen lassen wollen? Mindestens dreimal habe ich dich gerufen, so fest hast du geschlafen. Komm, wir wollen mit dem Kaffee auf der Veranda bleiben! Es sitzt schon alles am Tisch.«

Sie half Anne-Marie, die sich wie gerädert vorkam, aus der Matte und sagte: »Gott, bist du aber heiß, mein Kind! Fühlst du dich nicht gut? Hast du Fieber?«

»Ich habe nur geträumt …«, antwortete Anne-Marie.

»Hoffentlich nicht etwas Gräßliches.«

»Nein, etwas sehr Schönes. So, daß man in dem Traum hätte bleiben mögen. Immer und immer.«

Sie hatte kleine blanke Tränen in den Augen. Zum Glück merkte Muttchen nichts davon.

 

Als Martha sich aus den Armen Heinrich Coßmanns löste, zog sie sich nicht erst lange wieder an. Sie raffte ihr Zeug zusammen und schlich über den breiten Flur nach dem kleinen Eckzimmer, das sie zusammen mit Anne-Marie bewohnte. Sie hatte die Haustochter längst in tiefem Schlaf geglaubt; denn es war ja schon weit über Mitternacht und ging bereits auf drei Uhr zu. Knapp zwei Stunden noch, und der Morgen war da.

Sie scheute sich, das Licht anzuknipsen, im Dunkeln suchte sie nach dem Nachthemd und streifte es sich über den Kopf. Dabei merkte sie, daß ihr Haar ganz in Unordnung war. Sie strählte es einigermaßen mit den Fingern zurecht und drückte sich vorsichtig in das breite Bett hinein. Sie mußte sich sehr schmal machen, denn Anne-Marie lag fast quer, und ihr Körper war so heiß wie ein eben aus dem Backofen gezogenes Weißbrot.

Als Anne-Marie aber den Leib Marthas neben sich verspürte, legte sie sich gerade und so, als ekelte sie sich vor der Berührung mit der kühlen und feuchten Haut der Schlafgefährtin.

»Habe ich dich wach gemacht?« fragte Martha. »Dann entschuldige bitte! Ich tat es gewiß nicht mit Absicht.«

»Nichts zu entschuldigen, Martha. Ich bin schon lange wach. Vielleicht habe ich überhaupt noch gar nicht geschlafen.«

»Schon lange wach, sagst du?«

»Ja … drei Stunden mindestens.«

»Das kann aber doch gar nicht gut sein«, erwiderte Martha.

»Warum soll es nicht sein? Ich weiß die Zeit, auch ohne daß ich nach der Uhr zu sehen brauche. Ich höre die Zeit, verstehst du? Hier im Land lernt man die Zeit hören, vor allem die Nachtzeit. Das begreifst du nicht? Hör jetzt einmal hinaus! … Nach dem Fenster mußt du den Kopf drehen. Hör: Tu … ting-ting. Tu … ting-ting! Hörst du das?«

»Ja, Anne-Marie, das höre ich. Ist das ein Vogel, der so sonderbar singt? … wenn man das überhaupt singen nennen kann.«

»Nein, das ist auch kein Gesang, sondern das Liebesgeflüster einer Kröte. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang beginnt sie damit. Es dauert genau eine Viertelstunde. Und eine Stunde vor Sonnenaufgang beginnt dann das Cabajúy sich bemerkbar zu machen mit seinem glockenhellen Pung-pung-pung … Pung-pung-pung. Und das dauert eine halbe Stunde. Dann kommt wieder eine andere Uhrenstimme. Und so geht es immer weiter. Und du weißt nichts davon? Du kennst all die Stimmen des Urwaldes nicht?«

»Nein, darauf habe ich nicht geachtet«, antwortete Martha.

»Sonderbar. Dabei bist du doch hier im Land geboren. Und müßtest es deshalb viel besser wissen als ich.«

»Ich liege nie lange wach im Bett, selbst wenn ich allein bin. Ich schlafe immer gleich ein und liege wie ein Stein so fest«, sagte Martha.

»Das weiß ich, du Gute! Kaum hast du das eine Bein im Bett, und schon bist du weg. Wie oft schon habe ich versucht, mit dir noch ein bißchen zu quatschen. No, gleich darauflosgeschnarcht hast du. Ich aber finde es so schön wenn man im Dunkeln noch eine Weile wach liegt und nachdenkt.«

»Es gibt Schöneres, als allein im Bett wach zu liegen«, flüsterte Martha und drückte sich an Anne-Marie heran.

»Du meinst, Schnarchen ist schöner? Das tust du ja auch fast immer. Manchmal klirrt das Fenster, solch ein Donner geht von dir aus.«

»Das mag sein, Mariechen. Ich habe dich natürlich noch nie schnarchen gehört. Du bist ja überhaupt ein ganz anderer Mensch als ich. Eine Haut hast du, Mädchen, die ist wie aus Samt. Fühl mal meine dagegen an! Die ist rauh wie Leder.«

»Gott, du bist ja auch ein ganzes Stück älter als ich«, antwortete Anne-Marie und verstand nicht, was mit Martha eigentlich los war, daß sie jetzt so sonderbar sprach und so zutraulich wurde.

Nach einer Weile fragte sie Martha: »Hast du so lange in der Küche zu tun gehabt? Das Abwaschen hätte sich doch auch bis morgen früh aufheben lassen. Oder hast du dich auch in die Zeitungen vertieft? Mir ist das ein viel zu langweiliger Kram.«

»Aber so spät, Mariechen, wie du meinst, ist es doch noch gar nicht. Es kann noch nicht einmal Mitternacht sein«, log Martha. Denn im Ungefähren wußte sie, daß es in einen neuen Tag hineinging. Es war ihr aber noch nicht ganz klar, ob Anne-Marie sie bloß aushorchen wollte. Immerhin mußte man bei diesem Mädchen vorsichtig sein, dachte sie.

»Sieh mal nach der Uhr! Auf dem Waschtisch liegt sie. Es wird haargenau stimmen mit meiner Schätzung, daß es jetzt bereits auf vier Uhr zugeht.«

»Mein Gott, so spät soll es schon sein«, sagte Martha ziemlich unsicher. Sie wußte noch nicht, ob sie klein beigeben sollte. Zuletzt entschloß sie sich doch dazu, mit Harmlosigkeit die Kleine zu entwaffnen, und sagte: »Na ja … wenn es so spät ist, dann war es dafür auch schön. So schön sogar, wie schon lange nicht mehr.«

»Du sprichst jetzt so, Martha, als wärst du im Dorf zu einem Tanzvergnügen gewesen, bei dem Deutschen Turnverein in Tres Arroyos. Aber das kann wohl nicht gut möglich sein. Denn selbst zu Pferd sind es bis zum Dorf hin und zurück mindestens drei Stunden. Und um elf waren wir doch erst mit dem Abendessen fertig.«

»Ach, du Dummchen!« lachte Martha und schmiegte sich wieder an Anne-Marie heran. »Es gibt doch noch etwas Schöneres als Tanzen. Verstehst du mich denn so schwer? Oder willst du mich nicht verstehen? Wenn du es aber wirklich nicht weißt, was schön ist, dann wird es doch allmählich Zeit, daß du es erfährst. Denn als ich so alt war wie du jetzt, da wußte ich es längst. Leider gab es bei uns in der Wildnis zu wenig Gelegenheiten.«

»Was wußtest du? Und was muß ich jetzt endlich wissen?« fragte Anne-Marie und hatte Herzklopfen. Sie erwartete eine unangenehme Überraschung.

»Du scheinst eben noch nicht zu wissen, daß es auf der Welt für eine Frau nichts Schöneres geben kann, als bei einem Mann zu sein, den man gern hat und dem man dann alles gibt, was man hat, eine Stunde oder auch zwei.«

Anne-Marie fiel jetzt die Szene im Garten auf der Bank unter dem Oleander wieder ein, als Onkel Heinrich die Hände Marthas hielt und dann plötzlich ihr Gesicht nahm und sie küßte.

Sie fragte jetzt: »Du hast also meinen Onkel Heinrich sehr gern? Du liebst ihn, nicht wahr? Und du warst bei ihm?«

»Natürlich habe ich ihn gern. Und wir lieben uns sehr …«, flüsterte Martha hauchnahe in Anne-Maries Gesicht hinein. – »Ihr habt euch also heute verlobt?«

»Vielleicht wird auch eine Verlobung daraus. Ich weiß allerdings nicht, ob Heiner es so ernst mit mir meint, daß es bald zu einer Verlobung kommt. Das ist ja auch gleich. Jedenfalls hat es uns sehr gut geschmeckt. Aber ich möchte nicht, daß du nun deiner Mutter alles erzählst, was ich dir eben gesagt habe; denn dann würde dein Onkel sehr böse mit mir sein.«

»Bin ich denn eine alte Klatschbase?« fragte Anne-Marie.

»Ich meine nur, daß du keine große Sache daraus machen sollst, daß ich zu Heiner ins Bett gekrochen bin. Und wir haben ja auch geglaubt, daß du schon schläfst. Denn als ich zu ihm hinüberging, warst du nicht mehr wach.«

»Also … das war das Schöne …«, sagte Anne-Marie, und es hörte sich fast wie eine Enttäuschung an.

»Ja, Mariechen … das war es. So lange schon habe ich es entbehren müssen. Schön war es. Und wenn ich jetzt ein Mann wäre … dann möchte ich mich nun auch zu dir noch legen und dich so lange lieb haben, bis du aufschreist: ›Hör auf!‹ So wie ich bei Heinrich.« Sie riß Anne-Marie an sich und erwürgte sie fast mit intimen Zärtlichkeiten. »Fühlst du denn gar nichts, Liebste? Bist du ein Fisch?« fragte sie das heftig erschrockene und zitternde Menschenkind.

»Laß das endlich!« sagte Anne-Marie und stieß Martha von sich. Sie mußte die Augen schließen, denn es kam ihr so vor, als schwämme sie im Feuer. Ihre Lippen zitterten. Sie zog die Steppdecke bis zum Kinn hinauf.

»Bist du mir böse?« fragte Martha, »dann verzeih mir, bitte! Das Blut ist wieder einmal mit mir durchgegangen, wie manchmal bei meiner Schwester, die nur wenig älter ist als du. Aber meine Schwester hat sich nie so angestellt wie du.«

»Böse will ich dir nicht sein, Martha, obwohl du mich mit deinen Dummheiten furchtbar erschreckt hast. Versprich mir, daß du es ganz bestimmt nicht wieder tun wirst!«

»Das verspreche ich dir natürlich. Ich konnte ja nicht wissen, daß es dir unangenehm ist.«

»Ich will nicht gleich sagen unangenehm! Vielleicht muß ich mich erst an dich gewöhnen … denn bis jetzt bist du mir immer noch sehr fremd«, sagte Anne-Marie in ihrer rührenden Offenheit. Und wie von einer schweren Last befreit, schob sie die Decke wieder ein Stückchen zurück und atmete schwer.

»Ja … man merkt jetzt, daß du noch mit keinem Mann zusammen warst. Vielleicht hat dich außer deiner Mutter noch nie jemand geküßt.«

»Meine Mutter hat mich schon lange nicht mehr geküßt. Das soll aber nicht heißen, daß sie mich jetzt weniger liebt als früher. Sie ist überhaupt nie dafür gewesen, daß man seine Gefühle so offen mit sich herumträgt, wie man das Gesicht mit sich herumtragen muß, und jeder es anpacken darf mit den Augen und nachher auch noch mit den Fingern«, antwortete Anne-Marie. Und schwieg eine lange Zeit. Auch Martha sagte kein Wort mehr. Sie zog sogar den Arm zurück, den sie um Anne-Maries Nacken gelegt hatte, und dachte: In alles legt dieses dumme Ding eine besondere Bedeutung hinein und macht es kompliziert. Man weiß schon beinahe nicht mehr, ob man mit ihr überhaupt noch von den Sachen reden darf, die dazu geschaffen sind, daß die Menschen nicht aussterben. Ich werde Heiner bei Gelegenheit einmal fragen, was das eigentlich ist mit seiner Nichte.

Lange konnte sie jedoch das Schweigen nicht vertragen, denn vom Nachdenken tat ihr schon der Kopf weh. Sie stieß Anne-Marie mit dem Knie an und fragte: »Bist du noch wach?«

»Es ist schwer, jetzt einzuschlafen«, antwortete Anne-Marie und seufzte ein paarmal ziemlich heftig auf.

»Du denkst wahrscheinlich zu viel an den Königssohn, der dich erlösen soll aus der Verzauberung. Solche Märchen sind heute aber nicht mehr modern, meine Liebe. Der erste, der kommt und dich will, ist immer der Richtige, weil er den Anfang macht. Nachher ist jeder der Richtige, der gerade da ist, wenn man will, daß er da ist.«

Anne-Marie fuhr empor, als habe man ihr etwas zugerufen, das sie in eine arge Verlegenheit brachte, und als gäbe es nach diesem Zuruf jenes Geheimnis nicht mehr, das sie so sorgsam gehütet hatte. Sie versuchte nun, dieses vermeinte Entdecktsein durch Martha wieder zu verschleiern, für den Augenblick wenigstens, indem sie Martha eine Gewissensfrage stellte. Die Lippen konnten jedoch den Satz nicht gleich formen. Sie mußte ihn noch ein zweites und drittes Mal beginnen. Erst, als sie wieder den Arm Marthas verspürte, sammelte sich die leere Bewegung der Lippen zu einem Ton. Und nun brach es aus ihr heraus:

»Wenn man einen Mann küßt, muß man dann gleich hinterher auch das andere tun?«

Und kaum waren diese Worte heruntergerollt von den Lippen, war Anne-Marie auch schon so überrascht davon, daß ihr der Atem wegblieb und sie Mühe hatte, ihn wieder herbeizuschaffen. Sie verspürte das Herz im ganzen Gesicht herumklopfen.

»Gewiß braucht das nicht immer gleich hinterher zu kommen«, antwortete Martha. »In der Regel aber ist es so. Und warum denn auch nicht? Ein Kuß aus Liebe muß vollkommen sein, rundum.«

»Du lachst, Martha. Weshalb lachst du? Gelt, es ist nicht wahr, was du eben gesagt hast?«

»Es ist die reine Wahrheit, und gelacht habe ich doch nur, weil du dich so dumm anstellst wie ein eben aus dem Ei gekrochenes Küken.«

»Du sollst mich nicht verspotten, Martha. Ich bin nicht so dumm, wie du meinst. Und ich stelle mich auch nicht so an als ob. Ich bin bloß nicht so frei mit meinen Gefühlen wie du. Ich quäle mich sehr mit allen möglichen Hemmungen herum. Muß ich deshalb so dumm wie ein Küken sein?«

»Gemacht aber hast du es doch bestimmt noch nicht?«

Anne-Maries Lippen öffneten sich schwer, und erst nach Sekunden antwortete sie: »Nein … so, wie du meinst, noch nicht.«

»Und auch nicht in Gedanken?« fragte Martha.

»Das mag vielleicht geschehen sein … im Traum. Im Traum geschieht ja manches, was im Wachen nicht geschehen könnte. Manchmal bin ich im Traum eine Blume, zu der ein roter Schmetterling kommt, manchmal ein Fisch, der in eine Reuse hineingerät und nun nicht mehr weiterkann. Und dann kommt ein anderer Fisch zu mir geschwommen und sagt: Komm, wir wollen uns eine andere Lagune suchen! Und zuletzt ist's dann gar kein Fisch mehr, der so zu mir spricht. Sondern es sind ein paar Augen, ohne Körper, der Körper kommt erst eine ganze Weile später, und es ist dann immer der, den ich mir hinzugedacht habe.«

»Hoffentlich hast du dabei nicht an meinen Heiner gedacht«, sagte Martha und kicherte und klebte sich mit aller Robustheit ihrer primitiven Gefühle an den schmalen, weißen und zitternden Körper des von der Frage schwer betroffenen Mädchens, das sich so aufgetan hatte wie nicht einmal in ihren Gedanken.

Anne-Marie nahm sich vor, die Unterhaltung nunmehr abzubrechen. Ohne sich dessen aber bewußt zu sein, richtete sie trotzdem noch eine Frage an Martha: »Onkel Heinrich … war das der erste Mann, mit dem du geschlafen hast?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß vorher schon einige da waren.«

»Wer war denn der erste Mann?« fragte Anne-Marie weiter.

»Es ist nicht gut, davon zu reden. Mein Vater war es.«

»Dein Vater?« erschrak Anne-Marie. »Wie kann das bloß sein?«

Sie fühlte sich plötzlich wie aus dem Bett heraus in ein schmutziges Gewässer gefallen, das voller Gewürm war und entsetzlich stank. Brust und Schultern schmerzten ihr.

»Ja … bei uns daheim ging es eben ein bißchen durcheinander zu. Wie bei den Indios. In der Wildnis lebt man eben nicht anders. Hier natürlich hat jedes Ding ein anderes Gesicht. Ganz richtig kenne ich mich ja auch noch nicht aus bei euch.«

»Und mit einem Indio hast du dann auch schon geschlafen?« forschte Anne-Marie weiter. Denn jetzt ging es ihr um die Entscheidung. Sie dachte aber nicht eine Sekunde an Cayrú.

»Nein, das habe ich denn doch noch nicht! Das möchte ich auch nicht. Die Indios sind keine Menschen. Und mit Vieh darf man sich nicht einlassen. Die Indios natürlich lassen sich auch mit Vieh ein.«

»Was tun die Indios, Martha? Sage mir die Wahrheit!«

»Sie fragen nicht danach, auch bei einem Tier ihr Vergnügen zu suchen. Besonders bei den Mulas, wenn es Stuten sind. Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Und ganz besonders scharf sind sie nach einer weißen Mula. So, wie ja auch nach weißen und blonden Mädchen.«

»Das lügst du, Martha!«

»Na, dann frage mal deinen Vater! Du bist doch erwachsen genug, um so etwas fragen zu dürfen.«

»Das werde ich nicht tun. Ich weiß aber, was ich zu tun habe. Denn ihr alle hier wollt mir die Indios schlecht und häßlich machen.«

»Du bist sonderbar. Mein Vater hat mir mehr als einmal gesagt: Alles darfst du tun, Mädchen, wenn es dir Spaß macht und du keinen Schaden dabei erleidest … bloß zu einem Indio sollst du dich nicht legen … tust du es dennoch, dann bist du die längste Zeit meine Tochter gewesen. Und so habe ich es auch gehalten.«

»Das hat dein Vater zu dir gesagt? Einen sonderbaren Vater hast du aber … Na ja, im Grunde ist es ja doch dasselbe, denn mein Vater hat in mancher Beziehung auch ein schweres Vorurteil gegen die Indios. Und Onkel Heinrich noch viel mehr.«

»Das ist sehr richtig von Heiner, und das gefällt mir«, sagte Martha. »Du natürlich hast eine Menge übrig für diese Dreckhälse. Hast wahrscheinlich noch gar nicht gemerkt, wie schrecklich sie stinken.«

»Ich will es aber nicht merken, selbst wenn es wahr wäre. Und dann laß dir gesagt sein, daß es auch weiße Herrschaften gibt, die einen dreckigen Hals haben und immer stinken.«

»Weshalb bist du gleich so ausfallend, Mariechen?! Natürlich gibt es überall Schweine und überall Ausnahmen. Und natürlich verstehn auch die Indios manches, was unsereins nicht zuwege bringt.«

»Was zum Beispiel, Martha?« fragte Anne-Marie. Ihre Frage war aber in eine ganz andere Richtung hinein gedacht.

»Sie kauen Koka und vertreiben damit den Hunger. Unsereins hat mindestens dreimal am Tage Hunger, die Indios hingegen können eine ganze Woche lang ohne Essen auskommen.«

»Es gibt natürlich auch noch andere Menschen, die lange Zeit ohne Essen auskommen. Die Fakire zum Beispiel. Wenn du etwas darüber lesen willst, wir haben ein schönes Buch über das Leben der Fakire«, erwiderte Anne-Marie und war enttäuscht über das, was Martha als eine Besonderheit der Indios angesehen hatte. Sie hatte nun auch keine Lust mehr, noch mehr über die Indios von Martha zu erfahren. Aber Martha fuhr fort: »Sie haben auch vier Augen im Kopf. Nämlich hinter den beiden Augen, die wir sehen, noch ein Paar andere Augen, die wir nicht sehen.«

»Du meinst, sie tragen alle eine unsichtbare Brille. Man sagt doch, wenn jemand eine Brille trägt, daß er vier Augen hat. Oder meinst du etwa wirkliche Augen? Dann weißt du allerdings mehr als ich. Und mehr noch, als in den Büchern Geheimnisvolles über die Indios zu lesen steht.«

»Sie haben vier richtige Augen, nicht eine Brille vor den Augen, denn die sähe man doch. Sie haben Augen für den Tag und Augen für die Nacht. Wie könnten sie denn sonst so gut in der Nacht sehen? Wir haben keine Nachtaugen.«

»Wer hat dir das mit den vier Augen erzählt, Martha?«

»Niemand hat es mir erzählt, ich habe es beobachtet. Bei uns zu Hause sieht man mehr Indios herumlaufen als hier. Vielleicht mehr Indios als Weiße.«

»Warte mal erst die Baumwollernte ab, Martha, und den Mais … dann sind die Felder hier auch voll von Indios.«

»Mag sein, denn jetzt sieht man hier nur den Bengel herumlaufen, der uns die Krebse und Fische bringt. Und das ist noch nicht einmal ein ganz richtiger Indio. Bei dem steckt schon der Wurm im Blut. Die vier Augen wird er aber noch haben. Die verlieren sich erst, wenn er sich mit einer Weißen mischt.«

»So tief, Martha, hast du Cayrú schon in die Augen hineingesehen, daß du das zweite Paar bei ihm entdeckt hast? Laß dich bloß nicht von deinem Heiner dabei erwischen, denn dann raucht es! Vielleicht sogar mit der Peitsche. Das kann er nämlich auch, nicht bloß dich küssen«, antwortete Anne-Marie mit einer Heftigkeit, vor der sie selber erschrak. Diese Martha macht mich ganz verdreht, dachte sie. Ich bin doch nicht etwa eifersüchtig auf sie?

Mit einer nervösen Bewegung strich sie sich über das Gesicht, immer wieder. Eifersüchtig? fragte sie sich. Eifersüchtig? Es war, als hätte sie durch dieses Wort eine Tür geöffnet, über der auf einer kleinen weißen Tafel zu lesen stand:

Eintritt verboten!

»Warum bist du mit einem Male so eingeschnappt, Mariechen?« fragte bekümmert Martha.

»Eingeschnappt? Ach, vielleicht ist es der Schlaf, der langsam heraufkommt. Und schließlich haben wir doch genug über solche Dinge geredet«, antwortete Anne-Marie. Es kam ihr tatsächlich das Gähnen, sie konnte es nicht abwehren. Dabei hatte sie starkes Herzklopfen. Sie legte die Hand unter die linke Brust, ganz feucht fühlte sich die Stelle an, als würden von dort her jetzt die Tränen herausbrechen. Mit diesem Gefühl schlief sie ein. Ein Vampir stieß gegen das Drahtgitter des Fensters und pfiff. Nicht einmal davon wachte sie auf.

Sie hörte auch nicht, als Muttchen drei Stunden später in das Zimmer kam und Martha weckte. Und fühlte auch nicht, daß Martha Glied um Glied herauslösen mußte aus dem Knäuel, das unter der Decke lag, so ganz ineinander verschlungen hatten sie geschlafen.

Sie schlief bis in den frühen Vormittag hinein. Der Kardinal, der sich bis zu einem vorspringenden Ast des Spaliers wagte, hatte sie wachgesungen. Es war ein fröhliches Aufwachen. Lächelnd betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel, sah an dem schmalen weißen Körper herunter und fühlte nichts Besonderes dabei, daß die Brustwarzen sich spitzten und hart wurden, als sie mit den Fingerspitzen darüber hinfuhr. Sie besaß diesen Körper noch nicht als Frau. So spindeldürr, wie Onkel Heinrich sagt, bin ich gewiß nicht. Jedenfalls habe ich nicht solche dicken und kurzen Waden voller Narben und Flecken wie Martha, dachte sie.

Nach der Dusche im Nebenraum stellte sie sich, den roten Bademantel um die Schulter, an das Fenster. Lächelnd und tiefatmend sah sie durch den flimmernden Dunst der Vormittagsluft hindurch den riesigen Wipfel des Lapacho, in dessen vorletzter Astgabelung Cayrú den Stock Orchideen eingesetzt hatte. Die Blätter hingen frisch und voller Lufthunger wie grüne Zungen von dem grauen Holz herunter.

 

Als Frau Coßmann Martha bei der Arbeit beobachtete und feststellte, mit welcher Energie sich das Mädchen zusammennahm, um die Augenlider nicht herunterfallen zu lassen, sagte sie sich, daß Heinrich in dieser Nacht wahrscheinlich »Maß genommen hatte«. Diese sonderbare Umschreibung stammte von ihm. Er hatte sie gebraucht, als er einmal von einem Negermädchen sprach, das im afrikanischen Busch ihm einmal in die Quere gekommen war und sonst einem Offizier diente. Bestimmt war es nichts anderes. Wenn nach dieser Maßnahme nun auch das Hochzeitskleid geschneidert wird, soll es mir recht sein. Auf alle Fälle muß vorher Anne-Marie aus dem Haus. Am besten ist es, wir warten die Antwort aus Buenos-Aires erst gar nicht ab und Friedrich macht sich auf und bringt das Kind hin. Jetzt ist es noch die Zeit dafür. In vier Wochen hat man die Hände nicht mehr frei, und allein kann man sie nicht reisen lassen. Auf dem Schiff soll es allerhand bunt zugehen. Tanz und Flirt ohne Ende. Oft ein Bordell. Das fehlte noch gerade … Frau Coßmann grübelte den geschlagenen Vormittag über Martha, über Heinrich und über Anne-Marie.

Am längsten hielt sie sich mit ihren Gedanken bei Anne-Marie auf. Mit ihr endlich darüber zu sprechen, was eine schon längst beschlossene Sache war und in keinem Punkt mehr abzuändern, nahm sie sich für den heutigen Nachmittag vor. Nach dem Mittagessen wollte sie Martha für zwei Stunden ins Bett schicken. Das arme Fraumensch stolperte direkt über die Augendeckel, die ihr fast bis auf die Füße herunterhingen.

Das sagte sie auch zu Martha. Und das Mädchen lachte: »Wie kann man denn über seine Augenlider stolpern, Frau Coßmann? Ich höre das zum erstenmal in meinem Leben.«

»Vielleicht bist du auch zum erstenmal, ich meine natürlich in diesem Hause hier, so müde, wie du heute bist.«

Martha hatte Angst, daß Frau Coßmann fragen würde, ob sie die Nacht schlecht geschlafen habe und aus welchem Grunde. Und nun konnte sie der Frau doch nicht die gleiche Antwort geben wie heute in der frühesten Frühe Anne-Marie.

Frau Coßmann fragte jedoch nicht weiter. Und Martha sagte sich: Sie wird sich natürlich mancherlei denken. Vielleicht sogar das Richtige. Denn auch sie scheint mir vier Augen im Kopf zu haben. Bueno! Soll sie sich dann an Heiner halten. Er wird mich schon heraushauen, sollte man einen Anstoß nehmen.

Martha wußte noch nicht viel von Frau Coßmann. Weiter als über das, was sie sah und fühlte, war sie nicht gekommen. Die schwere Stille, aus der das ganze Wesen dieser Frau bestand, war ihr natürlich bald aufgefallen. Manchmal erschrak sie geradezu davor. Und dann wieder bewegte sie sich darin wie sommertags in einem schattigen Wald. Als Mutter hätte sie diese Frau gewiß nicht haben wollen, als Vater aber schon eher. Als einen Vater, zu dem man immer aufsehen mußte. Der streng, jedoch gerecht war. Der alles, was er tat, vorher genau abgewogen und geprüft hatte.

Frau Coßmann wußte zwar nicht genau, was an diesem Vormittag in Martha vorging. Sie besaß die »vier Augen« nicht, die Martha meinte; wenigstens besaß sie sie nicht so, wie Martha sich die Tätigkeit der Augen vorstellte. Sie fühlte aber in dem ungewöhnlichen Maß, wie ein Blinder die Dinge fühlt, die selbst sein mit gesunden Augen begnadeter Begleiter nicht sieht. (Von den Hunden, die einen Blinden begleiten, weiß man allerdings, daß auch sie so zu fühlen vermögen wie der Blinde, dem sie dienstbar sind.)

Mit Blicken mühsam verhüllten Mitleids verfolgte Frau Coßmann die inneren und äußeren Bewegungen des Mädchens, dieses dreißigjährigen, das schon längst Mutter hätte sein können … vielleicht auch sein müssen, um sich später nicht wegwerfen zu brauchen.

 

Als Frau Coßmann sich nach dem Mittagessen und dem Kaffee zu Anne-Marie setzen wollte, um sich mit ihr auszusprechen, kam ihr der Mann in die Quere, der morgen in aller Herrgottsfrühe nach dem Dorf fahren wollte. Es mußte nun manches beratschlagt werden, und das ließ sich nicht im Handumdrehen machen. Es waren keine Geheimnisse, aber er hatte es nicht gern, wenn Anne-Marie dabei war und dann oft Fragen stellte, die nicht leicht zu beantworten waren. Ihr blauen Dunst vorzumachen, widerstrebte ihm.

»Könntest du mir noch ein paar von jenen Gewürzwurzeln besorgen, die du neulich mit der Alten von der Lagune geholt hast? Ich fahre morgen früh nach Tres Arroyos und möchte unseren Freund Schütte auf die Wurzeln aufmerksam machen. Er ist ja schon immer dabei, seiner Chicha den Geschmack zu geben, den die Indios so sehr lieben«, fragte Friedrich Coßmann die Tochter und strich ihr dabei über das Haar, sanft wie der Wind. Und sie verspürte einen warmen Schauer über den Rücken hinunterrieseln.

»Como no?!« antwortete sie. »Wenn du mir dafür auch etwas Schönes mitbringst …«

»Keine Arbeit ohne Lohn, Mädchen!«

»Von Lohn habe ich nicht gesprochen, Vater!«

»Gewiß nicht! Warum aber gleich so empfindlich? Ich wollte doch nur sagen, daß sich unser Freund Schütte dafür erkenntlich zeigen wird. In den nächsten Tagen werden übrigens die syrischen Händler wiederkommen. Solltest du heute oder morgen unseren Federlieferanten sehen, dann sage ihm, er möchte alles, was er inzwischen geerntet hat, hier abliefern kommen. Frage ihn auch, ob er sich irgendein Werkzeug wünscht, eine Baumsäge oder eine Axt, Nägel oder Angelhaken. Für eine Uhr wird er ja wohl noch zu dumm sein. Ich muß ihm aber für die Federn, die er uns geliefert hat, außer den Nahrungsmitteln auch etwas geben, was ihm nicht alle Tage in die Quere kommt. Neulich sah ich, daß die Syrier auch billige Nickeluhren in ihrem Laden hatten.«

»Mit einer Uhr wird Cayrú gewiß nicht gedient sein. Er hält gar nichts von der Zeit, die wir berechnen. Ich halte dafür, er kommt her, wenn die Syrier auf dem Hof sind, und sucht sich das aus, was er braucht oder was ihm gefällt«, sagte Anne-Marie. »Wie denkst du darüber?«

»Da hast du natürlich auch recht. Bleiben wir also dabei«, antwortete der Vater.

Anne-Marie zog sich die derben Wanderstiefel an, steckte wie üblich, wenn sie sich aus dem näheren Umkreis des Hofes entfernte, die kleinkalibrige Pistole ein und hing sich den Poncho über die Schulter. Es sah zwar nicht nach Regen aus, der Himmel war vollkommen wolkenlos und mit einer beinahe schon sommerlich warmen Luft gefüllt. Aber sie hatte sich an den »blauen Fetzen« schon so gewöhnt, daß sie ihn immer mitschleppte, wenn sie den Hof verließ.

Sie spazierte den drei Kilometer langen Weg bis zur Lagune hinunter. Es ging ein leichter Wind. Sie fühlte sich gar nicht müde. So lange wenigstens nicht, als sie noch in Bewegung war. Durch ihre Gedanken gespensterte noch eine gewisse Unruhe, als Rückwirkung der Unterhaltung, die sie mit Martha geführt hatte. Sie bezwang die Wirrnis jedoch und erlaubte der nachklingenden Betrachtung keine aufregenden Seitensprünge mehr.

Man kann diese Martha nicht in jedem Betracht ernst nehmen, dachte sie. Aber ein armes Wurm ist sie nun doch. Und es freut mich, daß Muttchen sich so um sie kümmert. Nein, es wäre mir gar nicht angenehm, würde man sie so halten wie die Dienstleute auf dem Hof. Das sind gewiß auch Menschen. Im Gefühl aber wohnen sie weit von uns weg; sie von uns und wir von ihrem Wesen. Warum das so ist, das weiß ich nicht. Vielleicht werde ich es später einmal wissen.

Die Lagune ruhte in einer Stille, die sogar der Wind achtete. Er bewegte nur die Büschelspitzen des Rohres. Er strich darüber hin, als wolle er sich selber einschläfern. Die Grillen hockten in den Blattwinkeln der Schilfstauden herum und verdauten. Nur der scharfe Geruch, den die Königskerzen auf der Barranca verbreiteten, sagte aus, daß das pflanzliche Leben unter der Stille weiterginge und sich für die Nacht stärke. Es regte sich kein lebendes Wesen. Erst als Anne-Marie sich an die Arbeit machte, kamen die Dommeln aus den Nestern herauf, plusterten die Halsfedern und wisperten, daß ihre Art sich wieder einmal mehr vor dem Aussterben gerettet habe. Allein durch die Liebe. Ohne Liebe kein Leben. In den Nestern, fast auf dem Wasser schwimmend, zirpte die Bestätigung dieser Aussage von der Liebe und dem Leben.

Anne-Marie hatte die Wurzeln bald geschnitten; das kleine Bastkörbchen war bis zum Rande voll. Sie suchte jetzt die Schattenseite der Barranca auf, dort wo die drei Weiden blattschwer ihre Zweige auf das dunkle Wasser herunterfallen ließen. Die Grashalme hatten an dieser Stelle die Frische noch halten können, die der Tau ihnen für die lange Reise durch den Tag mitgegeben hatte. Ein weicher Teppich breitete sich aus; rote und gelbe Blumen hatten sich hineingesprenkelt wie ein Muster aus den kubistischen Tagen des Kunstgewerbes.

Eine Weile saß Anne-Marie in halb aufrechter Stellung da und sah in die staubige Landschaft der Felder hinaus. Wie eine Korallenschlange von riesiger Länge zeichnete sich der Weg nach dem Baumwollfeld und dem Dorf hinein. Friedrich Coßmann benutzte ihn, wenn er geschäftlich in Tres Arroyos zu tun hatte. Und auch Cayrú schritt auf ihm dahin, um im Dorf, bei den Indios und den Kolonisten, die Ernte seiner Netze unterzubringen.

Lange jedoch hielten die Augen den hellen, grellen Schein der Landschaft nicht aus. Anne-Marie drückte die Augenlider ein wenig herunter, so daß die Wimpern sich noch nicht verschwistern konnten. Der schmale Spalt aber nahm den Dingen ihre feste Form, er ließ sie tanzen und flimmern.

Anne-Marie horchte in den Gedankenbewegungen des Unterbewußtseins herum; aber sie konnte nichts richtig festhalten. Alles zerrann sofort wieder. Ihre Stirn bekam Falten. Dann schoß es plötzlich hoch in ihr: Mein Gott, ich habe ja die Bestellung für Cayrú. Sonderbar, daß Vati sie mir so übergeben hat wie eine alltagsgraue Selbstverständlichkeit. Man will also großzügig sein und vergessen … oder mich auf die Probe stellen.

Wo aber soll ich Cayrú finden? Er ist bald hier, bald dort. Heute auf der Insel, morgen am äußersten Zipfel der Bai und übermorgen irgendwo in den Dörfern oder im Wald. Ein Nirgendwo ist er für mich geworden … und den soll ich nun suchen?

Ich werde mich morgen vormittag wieder auf den Weg zur Agave machen. Wenn er unten am Flusse nicht zu sehen ist, dann werde ich in den Sand hineinschreiben: »Komm morgen ucucú.« Das kann er immerhin schon lesen. Und nur zwischen neun und elf am Vormittag schreit der Ucucú.

Die schläfrige Müdigkeit hatte schon ein ganzes Stück ihres Bewußtseins weggeschnitten. Mechanisch griffen die Hände nach dem Poncho, rollten ihn zusammen und schoben ihn unter den Kopf. Schon viele Minuten lang lag sie rücklings im Kraut, wie ein lebloser Gegenstand, die bis zu den Achselhöhlen hinauf nackten Arme in einem Halbkreis um den Kopf.

Ein Stückchen von Anne-Maries Füßen entfernt, breitete sich fächerförmig ein Beet fleischfarbener Wasserlilien aus. Sie standen auf hohen, dünnen Stielen, beinahe wie Mohn. Der Wind drückte die vielen einzelnen Blüten, so schien es im Betrachten Anne-Marie, zu einer einzigen Blüte zusammen und machte aus der hellen Fleischfarbe den Ton eines dunklen Kupfers. Die Kupferfarbe blieb und verdichtete sich. Es wurde ein Gesicht daraus. Und es war das Gesicht Cayrús.

»Wie schön, daß du jetzt da bist …«, flüsterte Anne-Marie. Ihre Augenlider zitterten wie Schmetterlingsflügel. Sie konnte die Schläfrigkeit nicht mehr zügeln, das Nachdenken fiel ihr immer schwerer, und zuletzt konnte sie sich überhaupt nichts mehr vorstellen. In einem violetten Dunkel blieb sie stecken. Bald lag sie in tiefem Schlummer. Es dauerte lange, bis der Traum zu ihr kam. Er verwandelte sie zu einer schneeweißen Blüte mit kleinen rosazarten Tupfen. Ein Kolibri, rostroten Gefieders, schwirrte heran und steckte den Schnabel tief in den goldenen Haarbusch des Kelches hinein. Blume und Vogel waren jetzt eins. Eine Kugel aus leuchtend blauem Glas schloß das Einigeins-Gewordene ein und rollte davon, immer weiter und weiter.

 

Wie es geschah, daß der Traum sich in ein wirkliches Geschehnis am Rande des schier Unwirklichen verwandelte, ehe ein zweiter ihn ablösen und das Spiel mit den absonderlichen Erscheinungen und Vorgängen weitertreiben und noch unwirklicher machen konnte … das zu erzählen, würde einem Unbeteiligten höchstwahrscheinlich ein mitleidiges Lächeln entlocken, vor allem über die Naivität, die der Erzähler bei den auf normalen Bahnen des Denkens sich bewegenden Menschen voraussetzt. Und so müßte andererseits sich auch der Erzähler eines mitleidigen Lächelns bedienen, weiter nichts von dem versteht, was man unter »normal« sich vorzustellen hat, vor allem in jenem Bezirk des Menschenwandels auf Erden, wo das Ich und das Du eine untrennbare Einheit bilden, ohne daß die eine Seite von der anderen mehr zu wissen braucht, als daß sie eben vorhanden ist und in ihrer Tätigkeit verspürbar.

Es hatte nicht im Willen Anne-Maries gelegen, heute und zu dieser Stunde zur Lagune zu gehen, um sich dort von Cayrú überraschen zu lassen. Genausowenig konnte es auch Cayrú vorausahnen, daß er, auf dem Heimweg vom Dorf zu seiner Hütte, die Lagune aufsuchen und dort Anne-Marie im Gras schlafend finden würde.

Hier also hörte der »normale« Ablauf doch auf und jenes Geschehnis begann, das man gemeinhin »Zufall« nennt. Was ist das überhaupt: ein Zufall? Ein Vorgang ohne Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung und im Verlauf? Eine aus nichts gewordene Nichtigkeit?

An solchen Sinnlosigkeiten im Spiel der Kräfte, die das Ich und das Du (also auch die Umwelt gemeinhin) darstellen, vermag der Erzähler nicht zu glauben. Sonst müßte er die Denkbewegung aller Wesen so ansehen, wie ein mit Wahnsinn geschlagener Mensch seine Wärter ansieht und bewertet. »Als Sinnlosigkeit im vulgären Sinn sollst du die Zufälle ja auch nicht ansehen, mein Lieber, sondern wie das natürliche Reißen eines Baumwollfadens in einem riesigen Spindelfeld, bewegt von der die Maschine treibenden Kraft …«, sagte ein Arzt einmal zu dem Erzähler. Über die Wesenheit der die Maschine bewegenden Kraft ließ er sich jedoch nicht weiter aus, obwohl es ein Gewitter war, das sie für einige Minuten aussetzte und die Spindeln still und ohne Bewegung machte, so daß der Faden reißen mußte.

Soll man es hier nun auch mit dem »natürlichen Riß« eines Zufalls halten oder mit dem gesetzmäßigen Ablauf einer nicht »normalen« Funktion, die man im »Dasein« eines »von Hause aus mit Vernunft versehenen« Menschen als eine Übergangsstation zur völligen »Verrücktheit« ansieht und zum Schutz der Mitmenschen zu »heilen« sucht?

»Aber gewiß doch! Nichts als Zufall!« würde jener Arzt sagen, »denn hier ist dafür doch das einfachste Beispiel gegeben. Denken Sie, meine verehrten Damen und Herren, nur ein wenig darüber nach und lassen Sie sich dabei nicht ablenken von den sogenannten Eingebungen eines Geschichten-Erzählers.«

 

Cayrú lag am Rande des Lilienbeetes, stützte das Kinn mit beiden Händen und beobachtete den ruhigen Gang des Herzens, der das dünne, weiße Tuch über Anne-Maries Brust hob und senkte. Seine Augen leuchteten aus dem kupfrigen Gesicht wie zwei schwarze Perlen, auf die der Lichtstrahl einer vielkerzigen Lampe fällt. Welche Kräfte von dem blänkernden Licht der Augen ausgingen, das zeigte sich nach wenigen Minuten an der Bewegung Anne-Maries.

Sie zerstörte den Halbkreis der schönen Arme im Gras. Sie hob die Lider der Augen Anne-Maries und stellte die Wimpern auf. Sie ließ ein Bild in die Pupille hinein.

Anne-Marie hielt dieses Bild zuerst für eine neue Traumbewegung. Die geheimnisvollen Kräfte, die aus den Augen Cayrús herausleuchteten, zerstörten jedoch die Illusion. Ohne den Kopf in die Höhe zu heben, erkannte Anne-Marie jetzt die Wirklichkeit.

»Ich habe fest geschlafen? Ja?« fragte sie. Und als die Lippen dann das Lächeln vollendeten, das schon eine ganze Weile da war und wartete, färbten sich auch die Wangen mit einem frischen Rot.

»Ich weiß nicht, ob das Schlaf war. Vielleicht warst du in der anderen Welt zu Besuch«, antwortete Cayrú.

»Ja … das wird wohl so sein. Im Traum ist man in einer anderen Welt. Wie man hineinkommt, ich meine: in welchen Teil und bis zu welchem Ende, das weiß man nicht. Oder man weiß es erst, wenn man stirbt.«

»Man stirbt nicht. Man geht weg und ist doch da. Das habe ich durch meine Mutter erfahren. Sie ging, und sie ist doch da. Unterwegs sagte sie zu mir: ›Gehe nicht nach der Lagune, mein Sohn! Geh weit im Bogen herum. Die Schlange, die dort im Gras liegt, ist weiß wie das Mädchen. Geh nicht hin, mein Sohn!‹ Das sagte die Mutter zu mir.«

»Und nun bist du doch gekommen. Obwohl du glaubst, daß es tatsächlich deine Mutter war, die so zu dir gesprochen hat. Es war keine andere Person, nur die Stimme deiner Mutter?

Und die weiße Schlange liegt nun hier, und du hast keine Angst vor der Schlange?

Ich finde, ein wenig Angst hast du doch noch vor mir. Denn sonst würdest du nicht so weitab sitzen. Komm, Cayrú, zeige mir, daß du keine Angst hast!«

Ohne zu zögern, erhob sich Cayrú und ging auf die Weide zu, unter der Anne-Marie mit ausgestreckten Beinen lag. Die Dommel, die auf der untersten Astgabel saß, flog mit einem Warnruf davon, als Cayrú sich zu Anne-Marie ins Gras hockte, aber immer noch einen Meter von ihrem Körper entfernt.

»Nun bist du also doch gekommen …«, flüsterte sie. Der Dunst, der immer noch auf dem Wasser lag, machte sie schläfrig, so daß sie sich die Augen kräftig reiben mußte, um wach zu bleiben.

»Ich bin gekommen, und ich werde wieder gehen. Und du bist gekommen und wirst auch wieder gehen. Man muß es so lassen«, sagte Cayrú mit einer Stimme, die ihr ganz fremd vorkam.

Darauf reichte sie ihm die Hand herüber und sagte: »Rück doch noch ein Stück näher! Ich habe dich nicht gut verstanden.«

Cayrú hielt die Hand eine ganze Weile fest. Dann griff er hinter sich, riß einen Farnwedel aus und scheuchte die Fliegen fort, die sich in ihr Haar setzten.

Sie hatte die Augen jetzt weit offen. Und sie waren so rund und von einer so dunklen Bläue wie jene Früchte, die von den Indios »versteinerte Augen« genannt werden und die sie, zu einer Halskette aufgereiht, den jungen Frauen, die im Kindbett sterben, mit in das Grab geben. Niemand sonst darf solch eine Kette tragen.

An diese »steinernen Augen« wurde Cayrú erinnert, als er Anne-Marie ansah und dabei verspürte, wie schwach er wurde und seinen Willen völlig verlor. Das Gesicht der Mutter war fort, es hatte keine Gewalt mehr über ihn. Anne-Marie war jetzt die stärkste Gewalt.

»Du suchst hier Muscheln?« fragte Cayrú. Er hatte das Bastkörbchen neben Anne-Marie stehen sehen, aber der Deckel, der darauf lag, ließ ihn den Inhalt nicht erkennen.

»Muscheln? Wozu? Die zu finden, wirst du besser verstehen, denke ich. Nein, ich habe Wurzeln für die Chicha geschnitten.«

»Weshalb nicht ich? Man hat doch Zeit. Und in der Bai sind die Wurzeln viel fetter.«

»Das wußte ich ja gar nicht, Cayrú. Und weil ich es nicht wußte, war es gut für dich und für mich. Ich wundere mich jetzt nicht einmal darüber, wie es geschehen konnte, daß du hier bist. Oder habe ich dich hergerufen … im Traum vielleicht … ich weiß es nicht mehr.«

»Du hast gerufen. Denn ich mußte ja den Weg zur Lagune gehen, trotzdem die Mutter mir sagte: Geh nicht!«

»Ich kann noch immer nicht begreifen, daß es deine Mutter gewesen sein soll, die neben dir herging und mit dir sprach. Vielleicht war es die Micha. Erinnere dich!«

»Es war meine Mutter, die jetzt viel bei mir ist.«

»In diesem Augenblick auch?«

»Jetzt nicht. Jetzt bist du.«

»Das ist sonderbar und für mich nicht zu verstehen, Cayrú. Und jetzt habe ich sogar Angst vor deiner Mutter, die da ist und die man nicht sieht.«

Anne-Marie hielt sich mit beiden Händen die Schläfen fest. Das Klopfen war nicht mehr auszuhalten. Mit einem Male war es gekommen und auch gleich so heftig.

»Es wird morgen vielleicht ein Gewitter sein«, sagte Cayrú, als er aus der Verzerrung von Anne-Maries Gesicht die Schmerzen herauslas und mitfühlte: »Es ist alles voller Unruhe, innen, bei jedem, in der Luft, im Wasser und in der Erde.«

»Ich bin schon seit gestern sehr unruhig«, sagte Anne-Marie.

»Man hat viel gedacht an dich, gut und böse«, antwortete darauf Cayrú.

Sie sah ihn an, und ihr Mund wurde weich vor Rührung. Das Hämmern in den Schläfen ließ nach. Wie von einer schweren Last befreit, ließ sie die Hände wieder fahren und schlang sie im Nu um seinen Nacken. Kuß und immer wieder Kuß um Kuß. Cayrú reagierte aber nicht so, wie sie zwischen Freude und Furcht erwartete. Seine Augen blieben in ihrem Gesicht und hielten es noch eine geraume Zeit. Aber der Mund glitt langsam herunter, und im gleichen Tempo entglitten ihr auch die Arme.

»Woran denkst du jetzt, Cayrú?« fragte Anne-Marie, als ihre Erregung sich wieder entspannt hatte und Cayrú die Augen in das Kraut bohrte, um der Bewegung unter den Wurzeln nachzuspüren.

Cayrú bewegte nur die Lippen. Das Wort wurde nicht.

Erst als Anne-Marie den Arm winkelte und mit dem Ellenbogen ihn berührte, sagte er, ohne die Augen zu heben: »Du weißt noch die Geschichte von dem kleinen Affen Chucuchu?«

»Aber gewiß weiß ich die Geschichte noch. Ich habe sie mir sogar aufgeschrieben und vor wenigen Tagen wieder gelesen. Eine gute Mutter hatte der kleine Chucuchu.«

»Vielleicht wird es sein, daß auch ich bald zu der Mutter werde zurückkehren … meine Mutter will, daß es bald sein möchte …«

»Ja … es ist eine sehr traurige Geschichte«, sagte Anne-Marie.

»Es ist auch so mit uns …«, antwortete Cayrú, ohne daß der Tonfall seiner Stimme sich veränderte.

»Sage das nicht, Cayrú, denn man weiß nicht, was noch werden wird! Man muß warten.«

»Man muß lange warten?« fragte Cayrú.

»Vielleicht nicht so lange, wenn du keine Angst vor der weißen Schlange hast … so wie heute. Du mußt die Angst vergessen.«

»So wird es sein …«, seufzte Cayrú.

»Auch das Gewitter muß vorübergehen«, sagte Anne-Marie, ohne indes zu bedenken, was in ihrem Unterbewußtsein noch mitschwang. Sie berührte mit den Fingerspitzen sein Kinn, um ihn durch diese Liebkosung aus der Insichversunkenheit herauszugeleiten.

»Das Wetter wird kommen und viele Tage sein. Du mußt stark bleiben und dich nicht erschrecken. Dann wird auch die Mutter wieder ruhig sein und mich allein lassen.«

Anne-Marie drehte den Körper ein wenig zur Seite, stützte die Hand und erhob sich. Sie verspürte heftig ziehende Schmerzen das Rückgrat herunter. Von dem langen Liegen im Kraut taten ihr auch die Kniekehlen weh.

»Nun wird man wieder nach Hause gehen müssen«, sagte sie.

Cayrú nickte und nahm den Korb auf. Er wartete, bis sie sich in Bewegung setzte. Erst dann ging auch er.

»Ich werde über die Begegnung, die du mit deiner Mutter hattest, nachdenken. Aber es wird schwer sein, sich darin zurechtzufinden. Kann es sein, daß deine Mutter auch einmal zu deiner Muñeca kommen wird, Cayrú?«

»Zu dir kommt sie nicht, zu niemandem, nur zu mir – und bald auch nicht mehr zu mir.«

»Ob das richtig ist, weiß ich nicht, Cayrú. Ich weiß auch nicht, ob es gut ist, wenn sie nicht mehr kommt«, antwortete sie ihm und zugleich auch sich.

In Schweigen gehüllt, gingen sie den Weg bis zur Grenzscheide hinauf. Aus dem einsam im Feld emporragenden riesigen Timbó flog ein schmalflügliger Raubvogel, schraubte sich hoch, glitt fast ohne Flügelschlag durch den Dunst und verlor sich über dem Fluß. Der Ruf, den er ausstieß, ließ Cayrú zusammenfahren. Anne-Marie hatte die Zuckung bemerkt. Sie fragte:

»Dieser Ruf des Vogels in der Ferne … das war kein gutes Zeichen?«

»Nein, kein gutes Zeichen …«, antwortete Cayrú. »Er hat deinen Namen weggetragen, ich soll nicht mehr rufen.«

»Ach, Cayrú … du hast heute nur einen schlechten Tag. Dabei sind wir uns doch begegnet. Und es hätte sogar mehr sein können.«

»Ich weiß … es hätte alles sein können …«, sagte er.

»Ja … alles … und noch mehr …«, antwortete Anne-Marie.

Sie gaben sich die Hände und sahen sich lange in die Augen dabei.

Er ging fort, nachsinnend mit tief eingezogenen Schultern. Anne-Marie sah wehmütigen Blicks und von Mitleid ergriffen ihn so dahinstolpern, bis der Busch ihn aufnahm. Sie fühlte sich durchfroren von jenem Gift, welches die Liebe langsam abtötet, und konnte den Frost auch mit den Tränen nicht bannen, die heiß waren und mit denen die Augen sich füllten.


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