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Als an einem Sonntagvormittag Cayrú und Mariechen sich eine Stunde länger als sonst auf der Insel aufgehalten hatten, weil der indianische Knabe plötzlich einem jungen Kugelgürteltier auf die Spur gekommen war und das Mädchen dieses gepanzerte, in seinen plumpen Bewegungen dennoch possierliche Tier als ein neues Spielzeug gern mit nach Hause hatte nehmen wollen, war unvermutet eine Regenwolke aufgezogen. In ihrem fieberhaften Jagdeifer hatten sie das Herannahen des Wetters nicht bemerkt.
Die Wolke, zuerst von violetter, dann von kaffeebrauner und zuletzt scharlachschwarzer Färbung, kam näher und näher, wurde größer, brachte das Schilf und Rohr in eine wüste Unordnung, riß welkes Laub und überreife Früchte von den Bäumen und schüttete sich aus.
Die beiden Kinder waren nicht weit von der Anlegestelle entfernt. Mit schnellen Sprüngen durch das lappige Wucherkraut stürzten sie zum Kanu, kuschelten sich hinein und hockten eine Weile so verdutzt wie wilde Hühner in einem Calefatebusch. An eine Abfahrt war bei diesem jähen und massiven Wolkenbruch nicht zu denken. Der Fluß war mit einem Male ohne Ufer und kochte. In Fetzen, wie zerrissene weiße Tücher jagten Dampfwolken über die Strudel. Und dort, wo man die Barre, der man hätte zusteuern müssen, vermutete, staute sich ein riesenhafter, nachtschwarzer Berg. Die Wellen, höher noch als ein ausgewachsener Mensch, sprangen dagegen an, überschlugen sich und rollten zurück. Der Regen stürzte in solchen dicken Tropfen herab, als stünden Milliarden von Wassersäulen, dicht wie ein Binsenbusch aus Frost und Nässe.
Das Dach, das Cayrú schnell aus breiten Blättern der Agave über das Boot gelegt hatte, hielt den Schauer ab. Sie hockten in der Höhlung des Bootes wie in einer Erdgrube. Aus dem zuerst angenehm kühlen Gelaß wurde jedoch mit der Zeit ein Treibhaus. Von den geborgenen Blumenbüscheln und Blütenstauden, die im Kanu lagen, von den Beeren, den silbrig und blutrot gefärbten Blättern stieg ein betäubender Geruch hoch und legte sich auf den Atem. Hinzu kam noch der schweißige Dunst, der aus der durchnäßten Kleidung des Mädchens hochquoll.
Mariechen hatte bald einen benommenen Kopf. Sie legte ihn auf die nackten Schultern Cayrús. Er bekam das Haar, das sich gelöst hatte, ins Gesicht und in den von raschen Atemstößen aufgerissenen Mund. Er hatte dieses rötlichblonde Haar schon immer wie ein Wundergebilde angesehen. Nie aber wäre es ihm eingefallen, es mit seinen Händen zu berühren. Jetzt biß er ohne Zaudern seine Zähne hinein und schmeckte die seidene Weichheit der Strähnen und den warmen, körperlichen Geruch. Und ganz nahe seiner Haut verspürte er das laut pochende Blut des Mädchens, die Glut und auch die nach außen drängende Bewegung.
Er ging jetzt auf das fünfzehnte Lebensjahr zu und war für das schnelle Reifen, das seiner Rasse eigentümlich ist, eigentlich schon ein zeugungsfähiger Mann. In den Dörfern des indianischen Urwaldes hätte man ihm schon längst eine Frau gegeben, damit er eine Familie gründe. Und diese Frau, hätte sie seine Nähe jetzt so körperlich verspürt wie er die Mariechens, würde gewiß nicht stillgehalten haben wie im Boot diese »Muñeca«, nicht so wie sie, die wie ein noch nicht flügger Vogel war, der aus dem Nest gefallen ist und auf der kalten Erde dem Dahinsterben entgegenzittert.
So zitterte Mariechen; so war die Erregung in ihrem Blut mächtig, mit einem heftig pochenden Herzen, das unter der Haut wie eine vom Sturm geschüttelte Tür fortwährend aufgerissen wurde und wieder zuknallte. Er fühlte die fliegende Hitze ihres Gesichtes auf seinen Knien, und es schien ihm, als riesele es feucht aus ihrem Mund heraus.
Er wollte etwas tun, damit das Zittern aufhöre. Er rieb an ihrem Körper herum. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die leichten Schwellungen der jungen Brüste und erschauerte.
Das Mädchen bewegte sich nicht; vielleicht tat ihr dieses zarte Streicheln wohl und beruhigte sie. Er streichelte schließlich ihren ganzen Körper und fühlte mit einem Male ein Stück der bloßen Haut. Seine Hand blieb eine ganze Weile auf dieser Stelle liegen. Das in seinen Schläfen wild hämmernde Blut drohte auszubrechen. Das Mädchen schmiegte sich noch dichter an seinen Körper. Schließlich fühlte er auch kühles Fleisch auf einer heißen Stelle seiner Haut … ihre Hand. Und aus dem Gefühl des noch dicker wachsenden und quellenden Haares in seinem Mund wurden endlich feuchte Lippen, sie wurden eins mit seinem Mund und blieben es lange. So, wie manchmal zwei Blätter zusammenkleben, zueinander hingedrängt vom Wind, und eins in einem scheinen.
Mund an Mund blieben sie so lange ineinander versunken und trunken eins vom anderen, bis bei einer plötzlichen und ungewollten Bewegung des Mädchens die breiten dicken Blätter auf dem Kanu sich verschoben und ein tiefblauer, blankgefegter Himmel zu sehen war.
Die abgekühlte, reine Luft bewirkte, daß sich das Mädchen wieder von Cayrú löste. Ihr Gesicht brannte granatapfelhaft von einer fiebrigen Röte. Sie schloß die Augen und drehte das Gesicht fort. Eine ganze Weile hielt sie es abseits und sah den Knaben nicht an.
Cayrú sprach kein Wort. Er rührte sich auch nicht von der Stelle. Das Mädchen aber glaubte zu verspüren, daß er die Arme aufwärts bewegte und sich mit den Bewegungen eines Katzentieres reckte.
Als sie ihn schließlich wieder ansah, bemerkte sie, daß seine Augen einen metallischen Schimmer hatten, ein verhalten brennendes Feuer, das sie vordem noch nie wahrgenommen hatte.
Die vom Wasser und von der Abkühlung gefilterte Luft hatte das Betäubende, das von den tropischen Blumen im Kanu ausgegangen war, wieder aus dem Blut verbannt. Sie ordnete das Haar und steckte einen Beerenbüschel hinein, steinharte Früchte, die wie Rubine leuchteten.
Und mit einem Male fing sie an zu lachen, ganz hell, so wie die Dommel im Rohr oder wie die verspielten kleinen Schwarzmäuler bei ihren Kletterspielen im Gerank der Liane.
Und nur, weil Cayrú jetzt den Kopf nicht hochhob von der emsigen Arbeit, das Boot flottzumachen, sagte sie zu ihm nicht das, was sie eigentlich hatte sagen wollen, aus purer Übermütigkeit über das Glück, daß man von dem Unwetter nicht so mitgenommen war wie das Schiff, wie die filzigen und gelappten Blätter am Rande des Wassers, wo eine Unordnung sich breitgemacht hatte, als wäre ein schwerer Wagen mit mächtigen Rädern darüber hinweggefahren.
Sie sprachen auch während der Rückfahrt über den Fluß kein Wort miteinander. Sein Gesicht war zugeschlossen von der Anstrengung, die das Rudern verursachte. Manchmal aber flimmerte doch ein Leuchten in seinen Augen, so wie ein Stück Frucht im Blätterdunkel, von der Sonne plötzlich getroffen. Und dann verbreitete sich das Licht über das ganze Gesicht und machte aus der bronzenen Maske warmes, atmendes Fleisch.
Und als Cayrú einmal eine ungeschickte Bewegung mit dem Paddel machte – er wich einem schwimmenden Baumstamm aus –, boxte ihm das Mädchen in den Rücken und lachte wieder mit einem vogelhaft schrillen Ton hellauf, als wäre es einem Sperber endlich geglückt, den pfündigen Fisch zu schlagen und auf die Sandbank zu schleppen.
Auf der Barranca stand der Kolonist, der vorgehabt hatte, die beiden Kinder gehörig auszuschimpfen; denn es war eine große Unruhe im Haus gewesen, als der unerwartete Regenfall plötzlich einsetzte, der Fluß im Nu wie ein Lavafeld kochte und die Kinder bei diesem Höllenwetter auf der Insel waren.
Es war in diesem Sommer schon oft geschehen, daß das Wasser im Fluß so rasend schnell hochstieg, als flute es vom Meer zurück. Die Ufer verbreiterten sich dann im Augenblick um zehn bis zwanzig Meter, und von der Insel blieb nur noch die Hälfte trocken.
Nachdem das Wetter aber so schnell und überraschend, wie es gekommen war, sich auch wieder verzogen hatte und Friedrich Coßmann feststellte, daß sich das Boot von der Insel löste, fielen ihm schwere Lasten von der Brust. Er verfolgte mit scharf spähenden Augen den Gang der Paddelbewegungen und mußte sich schließlich auch noch darüber wundern, mit welcher Sicherheit Cayrú die Wirbel und Trichter im Strom meisterte. Der älteste und erfahrenste indianische Fischer hätte das nicht besser vermocht. Was könnte aus diesem Jungen noch alles werden, dachte Coßmann, wäre er ein Weißer und kein Indio, ließe er sich zähmen und zivilisieren und sähe er als Erwachsener dann auch ein, wie weit seine Leute zurückgeblieben waren und daß sie nicht die geringste Ursache hatten, stolz zu sein.
Als er jetzt die beiden jungen Menschen vor sich sah, die Kleider des Mädchens trocken fand, das Haar nur ein wenig in Unordnung, und feststellte, daß in dem Jungen keine Spur von Ermüdung war, trotz der schweren Arbeit auf dem in einer reißenden Strömung gehenden Fluß, verschluckte er die häßlichen Worte, die ihm lange auf der Zunge gelegen hatten. Nicht das geringste war den Kindern geschehen. Sie lachten, als wären sie von einer schönen Spazierfahrt zurückgekehrt.
Mariechen erzählte, daß sie beinahe ein junges Gürteltier gefangen habe und daß es in der Lagune der Insel Reiher mit goldroten Schöpfen gäbe. Die Schutzhütte, die Cayrú aus dem Boot gemacht hatte, vergaß sie zu erwähnen. Erst als der Vater sie fragte, an welchem schützenden Ort sie den Wolkenbruch überstanden habe, antwortete sie: »Unter den ganz dicken Blättern natürlich, Vater! Ein Dach aus Blättern haben wir gehabt.«
Von dem jungen Gürteltier, den Reihern und Flamingos, dem scheußlichen Baumleguan und den Tausendfüßlern, von denen manche so lang wie ein halber Arm gewesen waren, erzählte sie in einer Aufregung, als habe sie ein tolles Jagderlebnis hinter sich, noch den ganzen Abend zu Hause im Rancho. Man trank süßen Kaffee dazu und aß in Öl gesottene Maiskuchen. Sie schmeckten Mariechen heute ganz besonders. Und in einem fort nötigte sie Cayrú, es ihr gleichzutun im Essen und Trinken und Lachen.
Als der Junge aufbrach, um nach Hause zu gehen, bekam er seine üblichen zwei Löffel Dulce de leche in den Mund gesteckt. Er verspürte kaum die Süßigkeit; er fühlte nur die Hand Mariechens an seinem Ohr. Dazu geschah wieder jenes sonderbare Lachen, das ihn auf der Insel so verwirrte. Jetzt allerdings erschien es ihm so, als habe nicht ein Vogel gelockt, sondern aus einem finsteren Wurzelloch herauf die rote Kröte gerufen, jenes verzauberte Wesen mit grünen Augen, von denen in den Nächten ohne Mond das Irrlicht und die Tänze der Geister ausgehen.