Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Schon seit ein paar Wochen lag Anne-Marie mit ihrer Mutter, ihrem Vater, Onkel Heinrich und zehn kreolischen Frauen im Baumwollfeld. Alle mühten sich mit dem Unkraut ab.
Es war das erste Mal, daß Anne-Marie mit ihren weißen und weichen Kinderhänden so hart zupacken mußte. Es hätten jedoch noch viele Hände sein müssen, ausgearbeitete, kräftige und in der Feldarbeit erfahrene, und die Hacke schwingen. Es gab aber im näheren und weiteren Umkreis keine Hände mehr, die man für gutes Geld noch hätte anwerben können. Was sich für Lohn bei den Kolonisten und auf den Estanzien verdingte und immer nur für einige Wochen, das mühte sich längst schon ab auf den vielen bebauten Feldern der weiten Umgebung, um die Pflanzungen sauberzumachen. Das Unkraut wuchs jedoch dreimal so schnell wie das Nutzkraut.
Der Wind aus den Urwäldern am Rio Beni und Amazonas, dieser glühheiße, trockene Wind, der die Haut ausdörrt, sie holzig macht wie uralte Borke an einem Baum und die Zunge und die Gaumen zu einer bitter schmeckenden Hornmasse verwandelt, dieser sengende Wind hatte die Samenfäden der Wucherpflanzen herübergeweht wie einen Schneeschauer, wie einen Aschenregen. In jenen Tagen, kurz nach den Wasserstürzen, als alle Poren der Erde weit geöffnet waren und überquollen von dem lebendigen Odem, den die Natur ausatmet, um das erst Keimende und das schon Knospende zu nähren, ohne Unterschied, ob das Kraut dem Menschen ein Ärgernis bedeutet oder ihm die Voraussetzung gibt, als Bauer auf dieser Erde zu existieren.
Das Leben der Kolonisten im Urwald ist Mühe und Arbeit von der Aussaat bis zur Ernte, ist die Summe von Schweiß und Schwielen Tag für Tag und jahraus, jahrein. Wuchert das Unkraut in einem Jahr weniger, dann bleibt der Regen aus, und die Pflanzungen verdorren, ehe sie blühen konnten und Frucht ansetzen. Und ist ein reichlicher Regen niedergegangen, der die Erde feucht hält, drei, vier Monate lang, bis endlich wieder ein neuer Regen fällt, und steht die Pflanzung in strotzendem Saft und in einer Fülle, daß es dem Kolonisten bangt: die Scheunen werden nicht ausreichen, solch eine riesige Ernte aufzunehmen, die Preise werden sinken, und die Frucht wird liegenbleiben und verfaulen – dann kommen aus der gleichen Himmelsrichtung, von woher das Unkrautgesäme kam, die Heuschrecken – Heuschrecken in wolkenhaft dunklen Zügen, die oft stundenlang schwarz vor der Sonne stehen. Sie machen aus dem grün überquellenden Feld an einem einzigen Vormittag eine graue Wüste und aus dem Kolonisten einen Mann, dem nur noch der Wanderstock übrigbleibt, ein Bündel daran zu hängen, viele Meilen in die Savanne hinauszuwandern und sich als Feldarbeiter zu verdingen, aus dem Besitztum wieder hinein in die Abhängigkeit eines Knechtes. Kein Gesetz schützt ihn vor Ausbeutung, kein Richter vor der Peitsche, die er schmecken muß, wenn es einem Administrator so gefällt, daß er die Arbeitsleute dem Vieh gleichstellt und keinen Unterschied zwischen weißen und indianischen Knechten macht. Für ihn sind sie oft noch weniger als Vieh, alle, die auf seinen Feldern sich bücken, denen er Brot gibt und Lohn zahlt. Die Peitsche läßt er nie aus der Hand, gleich, ob er sich zu einem Mädchen ins Gras wirft oder auf der Veranda liegt und Caña säuft. Die Verlängerung der Peitsche heißt: Revolver.
Es gibt in diesem Land keine Obrigkeit, die ein geschundener Peon zu seinem Schutz anrufen könnte. Sie wohnt ein weites Stück weiter in die Welt hinein und ist abhängig von denen, die dieses Land besitzen und die Regenten des Staates sind.
Nichts wird hier dem Kolonisten geschenkt. Er muß sich vom Glück gestreichelt fühlen, wenn er die ersten, die drei härtesten Jahre so übersteht, daß er nicht mehr hinausgejagt werden kann aus dem Holzhaus, das er sich aus den gerodeten Baumstämmen an Ort und Stelle zimmern mußte, an Ort und Stelle auf dem Feld, das der Agent für ihn zur Kolonisation ausgesucht hatte.
Das Glück, so darf man wohl sagen, hat bei ihm Wohnung gehabt, wenn er vier, fünf gute Ernten hereinbringen, zu guten Preisen absetzen und aus dem Erlös sich so viel zusammensparen konnte, um noch ein weiteres Stück Urwald hinzuzukaufen, Maschinen anzuschaffen, einen Stall und eine Scheune zu bauen, das Haus wohnlicher einzurichten, Bienenkörbe aufzustellen und einen Blumengarten anzulegen.
Und wenn er schließlich noch so viel an Zeit erübrigen konnte, um seinen inwendigen Menschen nicht verhornen und stumpf werden zu lassen, dann durfte er sich jenen Ausnahmen zurechnen, die beinahe zu schön sind, um wahr zu sein.
Von solch einem Glück konnten Friedrich Coßmann und sein Teilhaber, der Onkel Heinrich, sprechen. Sie waren nicht mit leeren Händen ins Land gekommen. Sie hatten sehr gute und mittelmäßige Ernten hinter sich, aber noch nie eine Mißernte. Sie haben in den sieben Jahren ihres Hierseins schon dreimal noch ein Stück Land zukaufen können. Sie haben es von den Indios roden lassen und mit Baumwolle und Tabak bepflanzt. Die von Onkel Heinrich nach einem neuen Verfahren angelegte und durch einen Windmotor betriebene Bewässerungsanlage ersetzte in den Monaten absoluter Trockenheit zwar nicht den Regen, sie gab der Pflanzung aber doch so viel Feuchtigkeit, daß sie die Trockenperiode überstand, ohne einzugehen.
Die Coßmanns hatten sich im verflossenen Jahr sogar einen gebrauchten motorisierten Lastwagen anschaffen können. Damit war es ihnen möglich geworden, die geerntete Frucht ein paar Tagereisen weiter, bis zu dem nächsten Flußhafen, zu bringen, wo sie bedeutend höhere Preise erzielten als in dem Pueblo, auf den die meisten der anderen Kolonisten angewiesen waren, dort ihren Kram abzusetzen.
Coßmanns hatten auf der Besitzung keinen Cent Schulden liegen. Sie sahen hoffnungsvoll in die fernere Zukunft.
Seit ein paar Jahren ging das Gerücht um, man würde endlich auch hier am Flußufer einen kleinen Hafen für den Frachtverkehr und Schiffe mit Passagieren anlegen.
Und was die Coßmanns mit diesem hoffnungsvollen Ausblick verbanden, das war der Plan, ein Sägewerk einzurichten und eine Zuckerraffinerie zu bauen.
Von diesem Plan sprachen sie wieder einmal, als man auf dem Feld sich zum Vespern hinsetzte. Die Familie hatte sich einen wilden Orangenbaum ausgesucht, der auf der Grenzscheide zwischen Tabakfeld und Baumwollpflanzung stand und etwas Schatten warf.
Die kreolischen Frauen hingegen lagerten sich ein Stück abseits, machten ein Feuer und rösteten darin die fetten, schwarzen Landfrösche, die sie beim Unkrautjäten eingefangen hatten. Zu dem glühheißen, knusprig gerösteten Fleisch tranken sie kalten Yerbamate, dem ein paar Pfefferminzblätter beigemischt waren. Man hatte die Tonkrüge tief in die Erde hineingegraben; sie dampften, als man sie wieder an die warme Luft brachte. Der Tee schmeckte eiskühl und gallenbitter, aber er machte Zunge und Gaumen angenehm frisch.
Anne-Marie hatte von dem eiskalten Getränk gierig einen heftigen Schluck genommen. Onkel Heinrich klopfte ihr den Rücken und lachte mit seinen großen gelben Pferdezähnen, als er sah, daß sich das Gesicht des Mädchens blau verfärbte, ein Erstickungsanfall, der rasch vorüberging.
»Du bist doch ein roher Mensch!« sagte Anne-Marie nachher zu ihm und warf ihm eine Handvoll Erde ins Gesicht.
Er erzählte ruhig weiter, was man tun müsse, um die Absicht der Regierung, einen Hafen am Fluß anzulegen, in einen Beschluß der Deputiertenkammer zu verwandeln.
Beide Brüder hatten allerdings keine direkten Beziehungen zum Gobernador oder einem seiner Oberbeamten. Es mußten solche Beziehungen aber gefunden werden, wenn auch auf Umwegen, krummen und kostspieligen. Nichts erreicht man in diesem Land ohne Beziehungen. Beziehungen sind die treibenden Kräfte des Motors zum Geldmachen.
Friedrich Coßmann meinte: »Es ginge vielleicht mit dem Advokaten Urquiza. Er hat eine große Verwandtschaft und ist geldgierig, ist immer auf der Jagd nach neuen Quellen. Außerdem ist er doch Deputierter.«
»Nein!« antwortete Heinrich. »Ich rechne mit Alfredo Zvibel. Der allein ist der richtige Mann.«
»Zvibel sitzt aber doch in Buenos Aires und nicht in Asuncion. Seine Beziehungen werden sicher in Argentinien sehr wirksam sein, aber hier beim Gobernador … was könnte er uns nützen? Und weshalb soll ausgerechnet er sich für den Hafen interessieren?«
»Seine Estanzia wird sich für den Hafen interessieren. Verstehst du?«
»Zvibel hat seine Estanzia noch nie gesehen, vielleicht noch nicht einmal auf der Landkarte die ungefähre Gegend festgestellt. Er kennt die Besitzung nur aus den Abrechnungen, die ihm der Administrator schickt.«
»Ja … gewiß. Aber man wird ihm beibringen müssen, daß sich der Reingewinn verdoppelt, verdreifacht, wenn die Estanzia den Hafen benutzen kann. Und wenn Don Alfredo hört, daß man aus der Klitsche ein paar tausend Pesos mehr herausholen kann, dann läßt er alles aufsteigen, was Flügel hat und einen Geierschnabel, damit nun endlich auch die dreißigste Million recht bald voll wird.«
»Und wer, denkst du, wird ihm das beibringen wollen?« fragte Friedrich Coßmann seinen Bruder.
»Wenn wir die Baumwolle unter Dach und Fach haben werden und das Zuckerrohr geschnitten ist, dann fahre ich eben hin nach Buenos Aires. Und dort werde ich schon erfahren, welcher Weg der sicherste ist, um nicht schon im Vorzimmer Don Alfredos abgefertigt zu werden.«
»Gut, das soll deine Sorge sein. Glaubst du aber, die Bai wird für den Hafen ausreichen?«
»Es gibt am ganzen Fluß von Posados bis Guayra keinen Punkt, der für einen Hafen günstiger liegt als diese Bucht.«
»Ja … dann wird unser Nachbar ein Bombengeschäft mit seinem Grundstück machen.«
»Dieses Geschäft, Männer, werden wir machen! Noch ehe ich in Buenos Aires lande, müssen wir die paar Hektar Wald in der Tasche haben.«
»Du … es sind an die hundert Hektar.«
»Die bezahlen wir mit der Baumwolle.«
»Wenn der Señor Emilio Ibarra aber nicht verkaufen will oder für einen Preis, den drei gute Baumwollernten nicht aufwiegen?«
»So, wie Ibarra von uns jetzt schon eingeklemmt ist, muß er verkaufen, verkauft er gern. Außerdem braucht er Bargeld, seine Tochter will heiraten.«
Anne-Marie hatte interessiert zugehört. Sie verstand zwar noch nicht jeden Zug in den Gedankengängen, die der Onkel Heinrich entwickelte. So viel war ihr aber doch klar geworden, daß es um die Bucht ging, wo die Rohrhütte von Cayrús Mutter stand. Und sie hatte sich eingebildet, daß die Bai und der Wald rundherum der India gehörte. Deshalb auch fragte sie jetzt ganz naiv: »Wenn man aus der Bucht einen Hafen machen wird, wo soll dann die India ihre Krebse fangen?«
Onkel Heinrich sah Anne-Marie erst eine Weile verwundert an, dann bleckte er wieder das Pferdegebiß und lachte: »Dort, mein Kind, wo das alte Warzenschwein die Läuse züchtet.«
Und als Anne-Marie ihm darauf einen bösen Blick zuwarf, fragte er sie, ob sie etwa glaube, daß die Indios keine Läuse hätten.
»Was kümmern mich die Läuse!« antwortete Anne-Marie.
»Aber man darf doch wohl fragen, ob es auch noch anderwärts im Fluß Krebse gibt. Vielleicht auf der Insel …?«
»Weder in der Bucht noch sonstwo im Fluß gehören die Krebse der alten Hexe. Zu den Vogelspinnen auf der Insel aber … dort gehört sie hin. Von Rechts wegen dürfte sie die Räuberhöhle gar nicht stehen haben, dort, wo sie jetzt steht. Der Wald gehört Don Emilio. Nur weil er sich um den Wald nicht kümmert, hat die Alte sich dort einnisten können. Bist du jetzt zufriedengestellt?«
»Du meinst: wenn Don Emilio will, kann er die India von der Bai fortjagen?«
»Das kann er, natürlich! Die Alte und den Lausebengel dazu. Ich an seiner Stelle hätte das Pack schon längst auf den Schub gebracht. Und sicher noch ein ganzes Stück weiter als bis zur Insel.«
»Du natürlich«, antwortete das Mädchen, erhob sich und ging zu den Frauen, um noch einen Schluck Mate zu trinken.
»Mir scheint beinahe«, brummte Onkel Heinrich seine Schwägerin an, »daß das Kind schon vergessen hat, was dieser krumme Dreckspatz ihm angetan hat.«
»Kinder vergessen schnell!« antwortete Anne-Maries Mutter. »Und war die Geschichte überhaupt so schlimm, daß du dich heute noch so darüber aufregst?«
»Ja … ich muß auch sagen«, meinte Friedrich Coßmann, »daß ich den Jungen oft vermißt habe. Er hat manche Sache geschickter gemacht als jetzt die Leute auf dem Hof, denen man einen guten Lohn zahlen muß. Wenn wir den Jungen jetzt hier im Unkraut hätten, könnte Anne-Marie sich im Hause nützlich machen. Es gefällt mir gar nicht, daß man das Kind hier draußen schon wie eine Große einspannen muß.«
»Wer einmal seinen lieben Nächsten angelogen hat, den hält man sich drei Schritte vom Leibe. Und wer einmal seine Hände nicht bei sich behalten konnte, dem laufen sie immer davon. Für den ist es besser, man hackt sie ihm ab. Das ist meine Meinung.
Wenn ihr aber durchaus wollt, dann setzt euch diese braune Laus nur wieder hinein in den Pelz. Ihr werdet euch wundern, was in dem Nest alles vor sich geht, jetzt, nachdem diese Laus noch ein Stück größer gewachsen ist!«