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XI

Cayrú hatte den Baum schon bis zur Hälfte ausgehöhlt und die Spitze und das Schwanzende messerscharf herausgehauen. Er besaß kein anderes Werkzeug als ein altes Buschmesser, das er an einem weißen Kiesel immer wieder schärfte, und die Geschicklichkeit seiner Hände.

Es war gut, daß die Mangrove, unter der er seine Werkstatt aufgeschlagen hatte, die Sonne nicht durchschlüpfen ließ. Sie stand senkrecht am Himmel und brannte mit solch einer Glut herab, daß dem Fluß schon eine graue Haut gewachsen war. Träge lag er zwischen den beiden Ufern, als wäre er eingeschlafen und hätte das Weitergehen vergessen im Erlebnis eines schönen Traumes.

Auf den Sandbänken, die aus der grauen Haut des Wassers herauswuchsen wie einem Menschen die Warzen auf dem Handrücken oder gar im Gesicht, lagen versteinert die Alligatoren. Nur den Rachen hielten sie weit aufgerissen. Zwischen den stachligen Zähnen spazierten die grün- und rotgefleckten Rohrspatzen herum und nährten sich von den Speiseresten, die in den Lücken der scharfen Beißwerkzeuge steckten. Oft kam auch noch der schwarze Reiher hinzu. Er bohrte seinen langen roten Schnabel aber nicht den Alligatoren in den Rachen, sondern er fischte aus dem Schlamm der Sandbänke die kleinen Panzerwelse, Schnecken und anderes Schalenzeug.

Die großen und fetten Zebrafische, die der Flußfalke sich sonst um diese Zeit aus dem Wasser holte, in einer flachen und schnellen Kurve, hockten jetzt unten am Grunde, in den kühleren Bezirken, und warteten den Regen ab, der nach dieser barbarischen Hitze kommen mußte.

Cayrú stand im Schatten der Mangrove, und die Sonne streifte ihn nicht einmal. Der Schweiß aber stürzte ihm in dicken Tropfen von der Stirn, und oft mußte er das Messer beiseite legen und eine Pause machen. Dann schweifte sein Blick über den Fluß. Er sah die Sandbänke mit den zu einem leblosen Horn geronnenen Yacarees. Er sah die feuerlohen Enten und die kleinen blauen Sandläufer. Er sah die Insel, die gelb und welk aus dem breiigen Wasser quoll und mit dem Schlamm zu zerfließen schien. Er flüsterte den Namen des Mädchens vor sich hin und fuhr mit den Fingerspitzen über die zartgrünen Büschel eines aus der Knospe herausgebrochenen Ampferblattes. Die Ameisen wanderten die Blattstiele hinauf und hinunter in einer automatisch genauen, dennoch Ewigkeit gebietenden Bewegung.

Zuweilen glitten die Gedanken Cayrús zu seiner Mutter hinüber, die mit den Krebskörben unterwegs war, immer durch den Busch und die Felder der Kolonisten, wo es nur wenig Schatten und die schlechtesten Wege gab.

Niemals hatte Cayrú von seiner Mutter gehört, daß sie sich über das harte Tagewerk beklagte. Dabei brachte der Verkauf der Krebse gerade nur so viel ein, daß man knapp das bißchen Mandioka, Hirse, getrocknetes Ochsenfleisch, Salz und Manisöl dafür eintauschen konnte. Es mußte ausreichen, zwei Mäuler zu sättigen, und wenn es vier oder fünf gewesen wären … auch die noch hätten sich damit begnügen müssen.

Es war nie anders gewesen, als in dieser Kargheit zu leben. Eine entscheidende Wendung, damit sich das Leben in eine andere Form hinüber bewege … woher hätte die kommen sollen, von wem herbeigerufen und von welchen Kräften geführt?

Seit dem großen politischen Umbruch auf diesem Kontinent hat sich die indianische Rasse nicht um einen Schrittbreit weiter entwickelt. Und sie ist nicht nur in diesem Betracht jenem Baum vergleichbar, dessen Wurzeln ein Eingriff von außen her beschädigt hat. Das Mark des Lebens fault von innen her in einer langsamen, aber unaufhaltbaren Zersetzung dem Tode entgegen.

Die Indios in den Wäldern des Alto Paraná, die Chiriguano und Choroti, die Siriono und Tirinie, sind nicht in die Gemeinschaft der Siedler und Feldarbeiter einbezogen. Sie stehen außerhalb der Gesetze. Sie gehören zum Urwald wie der Quebracho und die wilden Ananasranken, wie die Korallenschlange und der Ameisenbär, wie das Gürteltier und der Puma, die Aras und die Kletteraffen, die fieberschwangere Luft und die Undurchdringlichkeit der Buschwirrnis.

Wenn es dem Besitzer eines Waldstückes einfällt, daß er dieses Areal als sein verbrieftes Eigentum betrachten kann und daß sich aus der von Generation zu Generation vererbten Besitzung unendlich viel mehr herausholen läßt, wenn man den Wald rodet und Plantagen anlegt, als das Terrain, so wie es da liegt, oft nicht einmal in der Karte eingezeichnet, in Bausch und Bogen zu verkaufen, dann lockt man aus den fernen Ländern, aus den dichtbevölkerten Gegenden Europas, die Kolonisten ins Land, die Arbeitstiere, und erzählt ihnen Wunderdinge von dem »Grünen Gold«, das hier in den Tag hineinwuchert und das man ernten kann, ohne die Finger arg krumm zu machen oder sich irgendein großes Risiko aufzuladen. Papier ist geduldig, und mit Farben und Phantasie lassen sich billig Paradiese herstellen.

Man läßt diese ahnungslosen Leute in den »Gärten Gottes«, im »Eldorado« oder in »Augustenaue« und »Blumenhügel« roden, pflügen und säen und treibt den Pachtzins oder das Restkaufgeld in der rücksichtslosesten Weise ein, auch dann, wenn das Feld keine Ernte hergegeben hat, weil die monatelange Dürre die Frucht schon in der Knospe vernichtete oder die meilenlangen Heuschreckenschwärme schneller bei der Hand waren als Sensen und Mähmaschinen, Hacken, Machetas und die blutverkrusteten Fäuste.

Mit dem Puma, dem Ameisenbär, dem Faultier, den Aras und Affen, den großen Faltern und Orchideen ziehen sich, wenn der dick verwuchernde Wald gerodet wird, auch die Indios ein Stück weiter zurück, dorthin, wo der Wald noch finster ist und keine Wege hat, wo die unbekannten Quellen vieler Flüsse liegen und Pflanzen atmen, deren Namen die Botanik noch nicht kennt.

Der Urwald ist unermeßlich. Er zieht sich durch viele Länder hin, ohne Unterbrechung, vom Paraná bis zum Amazonas und noch ein ganzes Stück weiter bis zum Karibischen Meer.

Es kommt selten vor, daß eine indianische Familie für sich allein im Urwald haust, immer wohnen sie in Gruppen beisammen, in Dörfern, die im Kreis um einen freien Platz herum gebaut sind. Sie haben ihren Kaziken, der die Streitigkeiten schlichtet und für die Ordnung sorgt. Sie haben einen Zaubermann oder eine Zauberfrau, die mit den Geistern, den guten und bösen, umzugehen wissen, sich um die Krankheiten von Menschen und Vieh bemühen und alle Geheimnisse kennen, die im indianischen Mythos urlebendig sind seit Jahrtausenden.

Weshalb der Vater Cayrús sich von seinem Stamm abgesondert hatte, das wußte nicht einmal Mayahua, denn es war ihr nie in den Sinn gekommen, ihn danach zu fragen. Er hatte es für gut und richtig befunden, hier an der, Bai die Hütte aufzuschlagen. Bueno, die Hütte stand immer noch, und die Krebse im Wasser sind nicht weniger geworden mit der Zeit.

Selbst wenn Mayahua jemand von den Stammesgenossen getroffen und dieser ihr gesagt hätte: »Schwester, ist dein Mann tot, dann bist du in die Verfluchung nicht mehr einbezogen. Laß die vier Stöcke ruhig am Wasser stehen und verfaulen! Komm zu uns! …«

Auch nach solcher Rede wäre Mayahua nicht neugierig gewesen zu erfahren, wann und weshalb ihr Mann von der Verfluchung getroffen wurde. Der Mann hatte den Sohn zurückgelassen. Und wo dieser Sohn war, dort mußte auch sie sein.

Was aus diesem Sohn einmal werden würde, darüber machte sie sich keine Gedanken. Was aus den Kindern einmal werden wird, wenn sie groß genug sind, Arme und Beine kräftig zu rühren, das ist für die Indios in den Dörfern im Urwald nie ein Problem gewesen.

Der Wald ist groß; in unendlicher Fülle wuchert das Lebendige in ihm. Und jedes Wesen, das sich sättigen will, muß sich rühren in diesem Wald, das Getier und die Menschen. Die Menschen leben vom Beerensuchen und Kräutersammeln, von der Jagd auf Wildschweine und Hirsche, vom Fischfang und der Ernte im Schilf der Lagunen und Flußufer. Die Jungen lernen es von den Alten, und die Alten, wenn sie verbraucht sind, fügen sich wieder den Kindern zu. Die Bäume sterben, und die Menschen sterben. Ehe jedoch das Alte und Morsche vermodert ist, wuchern schon die neuen Triebe. Menschen, Getier und Baum in diesem Wald sind eins: im Lichtmeer der Sonne und im Atem des Windes. Sie leben in diesem Gesetz, das da ist, wie dieser Wald da ist. Der Wald, in dem sich seit Ewigkeiten nichts geändert hat, weder das Brausen der Wipfel noch die Gerüche, weder das Geklirr der schweren Tautropfen und die wie Blumen leuchtenden Feuer der unbeweglich in der Luft stehenden Insekten noch die silbergrünen Tage und purpurdunklen Nächte.

Indios sind neuerdings auch auf den Feldern der Kolonisten und der großen Estanzien tätig. Diese Leute haben jedoch schon eine Ewigkeit lang den großen Wald verlassen. Und soweit sich die weißen Menschen noch zurückerinnern können, wissen sie, daß diese Sippe von Indios immer schon auf der Savanne ansässig gewesen ist. Sie haben Mandioka gepflanzt und geerntet, Fische im Fluß gefangen, Töpferware hergestellt und in Hütten aus Lehm gewohnt. Sie verständigen sich untereinander auch in einer anderen Mundart und sind katholische Christen. Wenn ein Weißer zu ihnen kommt, mit einem Mädchen ihres Stammes sich zu mischen, dann geben sie ihm diese Tochter für Geld oder Geldeswert und glauben, daß sie damit der Zivilisation ein Stück nähergerückt sind.


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