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Cayrú wuchs mit dem Mädchen des Kolonisten Coßmann auf. Er war sozusagen ihr Leibdiener, und gern hätte der kleine weiße Wildfang, der sich hier in dieser ihm nicht angeborenen Landschaft wie eine von der spielerischen Laune der Natur anders geformte Tierart bewegte, dem rührend gutmütigen und nie die Geduld verlierenden Jungen eine grellbunte Uniform angezogen. Solch eine, wie sie beispielsweise in einem der Geschichtenbücher, die in der Wohnstube des Ranchos in einem weit ausladenden Regal standen und die letzte Brücke der Zivilisation von der Alten zu der Neuen Welt bildeten, der Mohr trug.
Wenn Cayrú mit der Kleinen nicht gerade Pferd und Tänzerin spielte oder Windhund und Prinzessin, Wolf und Rotkäppchen (das waren alles kleine, unschuldige Spiele, die das Kind des weißen Mannes in seiner weitschweifenden, jedoch natürlich gewachsenen Phantasie sich ausdachte), dann bastelte er aus dem schwarzgrünen Holz der Yacarandá schrecklich wild aussehende Wurzelmänner und Tiere, die es in der Wirklichkeit nicht gab, flocht Ketten aus steinharten Beeren, Nüssen und Muscheln, fing Kolibris und stopfte sie aus, jagte Schmetterlinge und verfertigte aus den atlasblanken, silberblauen Flügeln kleine, sinnige Schmuckstücke, und zwar so oft und so lange, bis dieses gestern noch wundersam Neue dem Mädchen mit einem Male wieder alt vorkam, ihm eine graualltägliche Gewohnheit wurde und von Cayrú nunmehr etwas ganz Sonderbares und Ungewöhnliches erfunden werden mußte.
Später durfte Cayrú sich auch auf dem Hof und in den Ställen nützlich machen. Er fütterte das Kleinvieh, sah nach dem Windmotor und ölte ihn, flocht aus dem Bast der Lianen Zugstricke und Handkörbe und suchte die dunklen Ecken von Haus und Stallung nach Vogelspinnen, Schlangen und Skorpionen ab.
Von den ersten Vormittagsstunden bis zur Abenddämmerung war er auf der Besitzung tätig; fast hätte sie sein Zuhause sein können, denn alles, was ihm in den ersten Wochen fremd und sonderbar vorgekommen war, hatte schließlich einen Eingang zu seinem Wesen gefunden.
Oft war er den lieben langen Tag mit dem Mädchen allein, zumal dann, wenn auf der Plantage hundert Hände notwendig, aber nur acht oder zehn vorhanden waren.
Und wenn einmal der Mutter Mariechens solche Gedanken kamen: ob man es verantworten könne, die beiden jungen Menschenkinder allein daheim zu lassen, so scheuchte sie die Gedanken schnell wieder fort und sagte sich: Mein Gott, sie sind ja beide noch Kinder; was kann von Kindern, die eins zu dem anderen zu passen scheinen und von bösen Beispielen nicht angeregt und verführt werden, Böses kommen?!
Cayrú durfte, wenn er seine Arbeit beendet hatte und Feierabend machte, nicht eher zurück nach Hause gehen, als bis ihm das Mädchen noch schnell einen Löffel voll von dem gesüßten Milchrahm in den Mund gesteckt oder einen kleinen Kuchen in die Hand gelegt hatte. Es geschah in einer lieben, spielgeschwisterlich bewegten Zuneigung. Und in den Augen des Knaben, wenn er sie zu dem Mädchen aufhob, war weder eine seelische Verwirrung noch das Erregte von Süchten bemerkbar; er nahm die Zugeneigtheit hin wie das Blühen einer Blume, deren Farben und Geruch ihn so tief beglückten, daß er nicht wagte, die Hand auszustrecken, sie von der Staude und den Wurzeln zu lösen.
In zweihundert, dreihundert Sprüngen durch den Busch war er wieder bei seiner Mutter. Er aß mit ihr, obwohl er keinen Hunger mehr verspürte, noch einmal zur Nacht. Es gab am Spieß geröstete Fische oder kleine, aus Maismehl und Würzkräutern gebackene Tortillas, bittere Orangen und Nüsse. Danach ließ er sich die vielleicht schon hundertmal gehörten Geschichten von sprechenden Tieren und Pflanzen, von Teufeln, die sich in vielerlei Gestalten den Menschen näherten, von mutigen Schlangenjägern und großen Zaubermeistern immer wieder erzählen und kroch in die Hängematte, um sich auszuruhen für das Beisammensein mit dem Mädchen der weißen Leute am nächsten Tag.
Das Mädchen lernte von Cayrú die indianische Mundart des Guarani und er von ihr ein paar Brocken Deutsch. Nur den Namen Mariechen vermochte er nicht auszusprechen, obwohl er sich damit schrecklich abmühte. Sogar nachts im Traum wiederholte er die Übungen. Er blieb jedoch bei seinem »Mariquita«; ein paar Monate später setzte er noch »bella« hinzu. Bella Mariquita. Damit war das Mädchen schließlich auch zufrieden.
Etwas anderes als nette kleine Geschichten von der »bella Mariquita« erzählte er der Mutter nie, wenn sie von ihm wissen wollte, wie es ihm bei den weißen Leuten gefiel. Und die India war stolz darauf, daß ihr Sohn dort so gut angesehen war bei den Menschen, die für gewöhnlich die Indios den wilden Hunden gleichstellten und sie auch nicht anders behandelten. Schließlich war sie auch froh, daß der Sohn einen guten Zeitvertreib hatte; denn zum Fischen wollte sie ihn nicht mitnehmen, vielleicht könnte er einen Gefallen daran finden und dann …
Es fiel ihr das schreckliche Ende seines Vaters ein. Und wer weiß, dachte sie, ob es nicht auch das Ende der Mutter sein wird. Der Mensch lebt so dahin, als wäre die Zeit und die von ihr bewegten Dinge ihm untertänig. Am Weg aber, vom Morgen bis zum Abend, stehen die Geister, die guten und bösen, und lenken seine Schritte nach ihrem Willen. Sie kämpfen miteinander um die Macht, den ahnungslos dahinwandelnden Menschen, jedes für sich allein, zu gewinnen. Zapachú ist der böseste aller Geister, und die Pirañas im Fluß und die Korallenschlange im Kraut sind das Geziefer seiner Gedanken.
Sie war einfach in ihrem Wesen, nicht anders als die Leute, die noch in der primitivsten Form in den von den Weißen unberührten Teilen des Urwaldes leben. Sie hatte nie ein ferneres Stück Welt erfahren als den Wald, den Fluß, die Zuckerrohrfelder, die Lagune und den tagtäglichen Weg zu den Dörfern der Criollos und den Siedlungen der Kolonisten. In der Sprache dieser Leute konnte sie sich nur mühsam ausdrücken; sie verstanden aber fast alle das Guarani; es war hier die Sprache der Holzfäller und Feldarbeiter.
Ein Stück weiter in das Land hinein, wo die Siedlungen sich häufen und die aus dem Wald verschlagenen Indios ansässig geworden sind, werden in Guarani sogar die Verordnungen des Gobernadors publiziert, und auch die Kirche hat sich dem Widerwillen der indianischen Leute, die offizielle Sprache des Landes zu sprechen, anpassen müssen; sie läßt den Gottesdienst und den Religionsunterricht in den Schulen in Guarani abhalten.
Was aus dem Knaben Cayrú, der keine Schule besuchte und von der Wesenheit des Christengottes nicht einmal hatte läuten hören, einmal werden sollte, darüber hatte sich die Mutter noch nie irgendwelche Gedanken gemacht. In die Zukunft hineinzudenken, das lag nicht ihrer Vorstellung vom Sinn des Lebens. Sie hatte sich zwar körperlich aus der Wildnis, in der sie aufgewachsen war, herausbewegt, sie lebte im Umgang mit zivilisierten und halbzivilisierten Menschen, sie sah Dinge, die ihr als wunderbar und wie von Zauberkräften gelenkt erschienen, sie erfuhr Gebräuche, deren Sinn ihr unerklärlich erschien; aber sie nahm das alles nicht so in sich auf, um lange und tief nachdenkend sich damit zu beschäftigen. Es beschäftigte sich allerdings auch niemand mit ihrem Wesen. Sie war den Leuten eine India, ein Tier, das aufrecht auf zwei Beinen ging, einen kleinen Handel trieb, eigentlich mehr ein Tauschgeschäft, und ansonst keinerlei Ansprüche an die Launen und die Geduld der Kundschaft stellte. Die Bucht im Wald gab ihr das, was sie brauchte, um das Leben zu fristen. Mehr als die Stillung des Hungers verlangte sie von diesem Leben nicht. Und in gleicher Weise, so stand es fest in ihrem mütterlichen Gefühl, wird es einst auch mit Cayrú bestellt sein, wenn er in die Jahre des Mannes hinübergewachsen ist. Er wird eine Beschäftigung finden und ausüben, die seinen Hunger stillt. Am Himmel steht die Sonne, und wenn die Erde durstig ist, fällt der Regen.