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Don Emilio hatte sich nur zwanzig Hektar Urwald abhandeln lassen. Den größten Teil der Liegenschaften behielt er noch. »Man kann nicht wissen, lieber Nachbar«, sagte er zu Heinrich Coßmann. »Man kann nicht wissen, vielleicht kommen die verrückten Engländer doch noch auf den ganz ausgefallenen Gedanken und lassen ihre Bahn ein Stück weiter nach Norden laufen. Und eine Bahn kann man natürlich nur dort bauen, wo die Erde ganz trocken ist. Wo eure Zuckerrohrfelder aufhören und mein Busch anfängt, erst dort beginnt der Steinboden. Ich will ihn einstweilen noch behalten. Auch hat man mir erzählt, es röche unter den Kakteen nach Petroleum. Das Waldstück am Wasser hingegen, das will ich euch geben, damit ihr noch mehr Zuckerrohr pflanzen könnt. Als ob es nicht schon genug Zucker gibt im Land. Wo sollen wir hin mit all dem Zucker? Die Menschen gewöhnen sich immer mehr und mehr an das Bittere; ich meine nicht an die Yerba, auch davon haben wir schon zuviel, sondern an den Krieg denke ich, der schrecklicher sein wird als der verflossene Weltkrieg. Man wird mit Petroleum Krieg führen. Nehmt meinen Rat an: sucht nach Petroleum! Aber Zuckerrohr … No, Señor! Wenn nachher die Überschwemmungen kommen … ich bin ein christlicher Mann, Nachbar, ich habe euch gewarnt, lieber nicht zu kaufen. Eure Schecks allerdings … die sind gut, und weshalb soll man sie nicht annehmen?!«
Das war alles, was Don Emilio beim Abschluß des Kaufvertrages in der Weinlaune zu sagen hatte. Die zwanzig Hektar Urwald waren aber gerade das, was die Brüder Coßmann von vornherein hatten haben wollen. Sie trösteten sich nun damit, daß auch hier aller Anfang schwer ist und daß das gute Ende nicht ausbleiben kann. Mit dem guten Ende meinten sie die noch fehlenden Hektar zur Abrundung des Unternehmens.
Die Bahn, von der Don Emilio faselte, hielten sie für ein Traumgespinst und den Petroleumgeruch für einen Alpdruck Don Emilios, wenn er den Bauch mit Caña voll hatte, unter der Kaktee lag und schnarchte. Das geschah ziemlich oft im Jahr, nicht bloß an den weltlichen Feiertagen, nach der großen vaterländischen Rede des Herrn Gobernadors, der ein Vetter des Don Emilio war.
Daß das Projekt mit dem Hafen bald eine feste Form annehmen würde, das erschien Heinrich Coßmann so gewiß wie eine Sache, die die Natur wachsen läßt ohne das Zutun von Menschenhirn und Menschenhand. Und vom Hafen, wenn er erst einmal da ist, muß die Regierung, ob sie will oder nicht, auch eine feste Straße nach der Kolonie »Tres Arroyos« bauen, vorüber an drei Estanzien und quer durch den riesigen Grundbesitz des Don Alfredo.
Diese Straße, die nur so und nicht anders gezogen werden kann wegen der Bodenbeschaffenheit, hatte Heinrich Coßmann sauber in eine vergrößerte Generalstabskarte mit blauen und roten Farben hineingezeichnet. Und als er sie seinem Bruder zeigte, sagte er: »Wie du siehst, ist sie selbst dem Laien verständlich, der Millionär in Buenos Aires aber wird auf den ersten Blick hin schon heiß werden und alle seine guten Verbindungen ausnützen, um aus einem Peso deren dreißig zu machen, mit dem Landverkauf nämlich. Hafen und feste Straße … wenn das nicht zieht, was soll hier denn noch Gold bringen?«
Als der Kaufvertrag vom Notar unterzeichnet worden war und Don Emilio sich freute, für »Nichts« einen dicken Scheck zu kassieren, überlegte Friedrich Coßmann, ob man den Wald noch bis zum nächsten Jahr liegenlassen oder schon jetzt roden und im Frühjahr pflanzen solle.
»Wir lassen natürlich sofort roden!« erwiderte in einem Ton, als stünde ihm allein die Entscheidung zu, der Bruder Heinrich. »Einmal haben wir jetzt die beiden Spezialisten Yamacinto und Huacua für billiges Geld an der Hand, und zum anderen soll man junge Fische nicht einpökeln, sondern sofort fressen.«
»Du willst doch nicht etwa die beiden Indios in Tagelohn nehmen? Das würde unser Bargeld erheblich vermindern«, fragte Friedrich Coßmann.
»Darüber laß dir nur keine grauen Haare wachsen, Fritz! Wir machen einen regelrechten, auf zwei Jahre berechneten Vertrag mit den beiden Indios. So, wie derartige Verträge hier mit den Leuten gemacht werden. Bargeld erst nach der Rodung des ersten Hektars, und zwar ein Drittel der vereinbarten Summe. Das zweite Drittel, wenn die Hälfte der Bäume gepflanzt ist, und das letzte Drittel an dem Tage, an dem die Pflanzung uns regelrecht übergeben wird. In dieser Zeit haben wir zwei neue Baumwollernten unter Dach und Fach. Von den anderen will ich gar nicht reden. Also auf der Bank hat sich nichts vermindert. Im Gegenteil, selbst bei zwei Mißernten im Zucker bleibt uns immer noch etwas Bargeld in der Hand. Dann haben die Orangenbäume sich mit der neuen Erde verwurzelt, sehen nach etwas aus und bringen uns einen Kredit, falls wir ihn in Anspruch nehmen müssen. Nun ist diese Rechnung sogar ohne den Hafen gemacht. Für die Anlage wird man zwei Hektar brauchen und uns bar auszahlen. Mindestens zwei Hektar entfallen auf die Chaussee quer durch unsere Felder … was allein diese vier Hektar uns an Bargeld einbringen, das ist im Ungefähren der vierfache Preis von dem, den wir für den ganzen Wald angelegt haben. Was uns dann noch die Bucht abwirft, das ist geschenktes Geld. Und was uns weiterhin noch geschenkt wird, allerdings nur in dem Fall, daß wir nicht den lieben Gott allein walten lassen … das muß man sich an einem Sonntagnachmittag ausrechnen, an solch einem, wie er uns heute erschienen ist und uns anlacht, zumal, wenn man sich rundum satt gegessen hat und auch das Viehzeug im Stall und die Grillen auf dem Feld gut verdauen. Ich meine: Die bitteren Erfahrungen müssen sich bezahlt machen, ehe man die Augen zukneift. Der dritten Generation fällt es sowieso in den Schoß.«
»Nicht immer erntet die dritte Generation das, was die erste gesät hat. Ein gutes Beispiel dafür hast du in der Kolonie Neu-Odenwald. Achtzig Jahre existiert sie bereits … und? Elend und Armut!«
»Hätte nicht zu sein brauchen, Fritz, wenn die Leute sich nicht so stur abgeschlossen hätten von der übrigen Welt, um ihren alten Odenwald ausgerechnet in Paraguay weiterzuleben, mit Schwarzweißrot und Kaiser Wilhelm, dem lutherischen Gesangbuch und der deutschen Fibel für Kind und Kindeskinder. Und dementsprechend auch die Produktion auf den Feldern. Immer nur die eine Frucht, damit die Mißernten sich gehörig breitmachen konnten.
Auch du, mein Lieber, neigst zu dieser Sorte von … sagen wir gelinde: Idealisten, pardon: Deutschen Idealisten! Höhepunkt: 1848. Von da ab: Verkalkung.
Jawohl, mit dem Kopfschütteln kannst du das nicht wegwischen. Du lebst immer noch mit einem Bein bei unserem seligen Vater. Du hast bis zum notwendigen letzten Kern noch immer nicht begriffen, daß wir jetzt in Paraguay zu Hause sind und nicht im Sauerland. Und daß man hier jeden, auch unsere Landsleute, zunächst einmal als Spitzbuben ansehen muß, die Geldtasche an die Kette legen und das bißchen Gehirn, das in dieser robusten Sonne und dem ganz und gar verdrehten Regen, unter den indianischen Läusen und den in Polizeiuniform herumstolzierenden Geiern noch funktioniert, in Watte packen muß.«
»Mag seine Richtigkeit haben, Heinrich. Ich denke aber noch oft daran, wie armselig wir hier angefangen haben und daß es wohl nicht allein unser Verdienst ist, daß wir jetzt sagen dürfen: Nun ja, aus dem gröbsten Dreck sind wir heraus!
Deshalb meine ich, und ich denke dabei tatsächlich an unseren Vater, man soll die Kirche im Dorf lassen und sie nicht auf den Ochsenkarren laden und in die Stadt fahren.«
»Bueno … wenn wir es nicht allein uns zu verdanken haben, dann meinetwegen auch dem Glück. Immerhin aber muß man es haben und zu halten verstehen; hier mehr als anderswo.«
Sie saßen in der Glyzinienlaube, die um einen stehengebliebenen Mango herumgebaut war, und tranken Cañamost, den sie aus einer primitiven Walzenpresse von den Criollos sich hatten herausziehen lassen.
Der Most vom Zuckerrohr ist dem Beerenmost im Geschmack nicht unähnlich, aber alkoholhaltiger. Mehr als einen halben Liter, in einem tiefen Erdloch eiskalt gemacht, kann ein Weißer kaum vertragen. Die Criollos hingegen schütten sich oft bis zu drei Liter in den Leib und krauchen dafür auch nach einer Stunde auf allen vieren herum, dem schwarzen Wasserschwein immer ähnlicher.
Beinahe auf allen vieren krochen jetzt auch die beiden Peone Pedro und Pablo, die seit einem Jahr ständig auf dem Hof beschäftigt waren. Als unverheiratete Leute bekamen sie ihr Essen aus der Familienküche; und im Stall, bei den Zugochsen, in einer sicheren Ecke, schliefen sie.
Pablo hieß in Wirklichkeit Jacyburano; an diesem Namen aber wollte sich niemand von der Familie Coßmann die Zunge zerbrechen. Und auch dem Peon gefiel der ihm neu verliehene Name. Seine Mutter sogar mußte ihn jetzt so rufen. Sie war eine getaufte India, verkehrte aber immer noch mit dem Spuk der Waldgeister und war eine gesuchte Curandera, bei den Leuten ihrer Rasse sowohl als auch bei den Criollos. Sie heilte alles, was man zu ihr brachte, mit einem ekelhaft riechenden schwarzen, wie Wagenschmiere aussehenden Extrakt. Er diente als Salbe und verdünnt als Getränk. Die Gesundheitsbehörde residierte in Asuncion. Aber die Dörfer dort oben in der Urwaldwildnis, … was hatte diese Behörde damit zu tun? Das Geschäft der Kurpfuscher blühte sogar in Asuncion und dort, als Geldfabrik, bedeutend heftiger als in der Wildnis. In der Wildnis zahlte man selten mit Geld.
Pedro und Pablo hatten heute genauso ihren Sonntag wie der Patrón. Das Füttern der Ochsen, Schweinchen und Mulas rechneten sie dem Patrón nicht als Arbeit an. Auch daß sie für die Patróna noch schnell eine Hucke Holz spalten mußten, störte sie nicht in der guten Laune. Denn sie erhielten ja auch jeder einen in Butter gebackenen Maiskuchen als besondere Zugabe. Und weil man einen fetten Maiskuchen nicht gut verdauen kann, ohne ihn mit Caña hinunterzuspülen, hatten sie sich noch eine weitere Stunde auf den Hof gestellt und Zuckerrohr durch die Trapiche gezogen.
Als Friedrich Coßmann sie rief, um Pedro den Auftrag zu geben, den Indio Yamacinto herzuschleifen, zeigte sich, was der Cañamost aus einem sonst aufrechtgehenden Menschen im Handumdrehen zurechtzubiegen vermag, wenn man ihm freien Lauf läßt.
»In diesem Zustand soll ich die beiden Kerle vom Hof schicken?« fragte Friedrich Coßmann seinen Bruder.
»Wenn die beiden Indios den Zustand unserer beiden Leute bemerkt haben werden, dann brauchen sie nicht zwei Stunden, um herzukommen, dann sind sie bestimmt in einer hier. Und mit dem Kontrakt in der Tasche kriechen sie beim Mondschein auf allen vieren wieder nach Hause. Das ist ein einfaches Rechenexempel, Fritz, und keine Curandera habe ich dazu notwendig.«
Pedro und Pablo hielten sich jeder an einer Latte der Laube fest, um als heil und gesund auf den zwei Beinen zu erscheinen. Sie hörten mit weitaufgerissenen Mäulern und zugekniffenen Augen zu, was der Patrón heute, am heiligen Sonntag, noch alles von ihnen wollte. Und sie ließen die Holzlatten schnell wieder los, als sie endlich begriffen, was sie zu spielen hatten.
Sie krabbelten auf den Hof zurück, zäumten die Mulas auf, machten es sich bequem auf dem fetten Rücken der Tiere und ritten in den Busch, Yamacinto und Huacua zum Patrón zu bitten.
Ob sie den Tieren die Wegrichtung vorher ins Ohr geflüstert oder ob es für sie die Gespenster der Caña getan hatten, das hat niemand gesehen und niemand gehört.
Die Mulas aber wichen keinen Zentimeter breit vom Weg ab, während die Reiter schliefen, um sich den Kopf für die nächste Portion Most frei zu machen. Für den nächsten Liter, der ihnen als Lohn für den Extradienst zugesichert worden war.
Anne-Marie war inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden. Sie hatte sich nach einem Schnitt, der dem »Neuesten Modenheft« (zwei und ein halbes Jahr alt) beilag, einen grünen Leinenkittel fürs Haus auf der Maschine genäht und auch gleich angezogen.
Muttchen hatte Anne-Marie zu der Bluse einen »Jungenskopf« schneiden müssen, denn das volle und leicht gekräuselte Haar war immer ein Hindernis, wenn sie auf der Mula durch den Busch zigeunerte. Vorn sah das Haar jetzt ganz manierlich aus, hinten aber fiel es in holprigen Treppen bergab. Hier im Urwald macht das ja nichts weiter aus, dachte Muttchen. Wenn wir nach der Kolonie fahren werden, im nächsten Monat vielleicht, dann soll es dort der gelernte Friseur richten.
Anne-Marie wollte jetzt auch einmal den Cañamost schmecken. Der Vater gab ihr von seinem Glas zu trinken. Sie meinte nach dem ersten Schluck gleich: »Das Zeug schmeckt genau wie jenes Wasser, das aus den Yegrastengeln herausläuft, wenn man sie umknickt.«
Die Yegra ist eine Lianenart mit oft fast armdicken Ranken. Ein Meterstück dieser Ranke enthält über einen halben Liter Flüssigkeit, die kühl ist und säuerlich schmeckt. Ohne dieses pflanzliche Wasserreservoir kommt kein Indio im Urwald aus. Wo die Yegra wuchert, ist für die Indios einem Sommer ohne Wasser der letzte und furchtbarste Schrecken genommen. Aus dem Saft der Yegra, mit grünen Baumohren, bitteren Orangen und dem Extrakt einer schwarzen Erdschnecke vergoren, bereiten die Indios im paraguayisch-brasilianischen Urwald einen Schnaps, von dem der Inhalt einer Matekalebasse schon genügt, um einen sonst robusten Menschen ins Torkeln zu bringen und nach zwei Kalebassen glatt auf die Erde zu legen.
Von diesem Schnaps, den die Indios »Nisperono« nennen, obwohl er gar nichts mit der indianischen Pfirsichfrucht zu tun hat, hatte Anne-Marie schon von Cayrú gehört, als er ihr einmal einen Stengel der Yegra zeigte. Er wollte ihr auch eine Kostprobe von dem Schnaps mitbringen, wenn seine Mutter ihn wieder einmal zum Verkauf an die kreolischen Bauern ansetzen würde.
Anne-Marie fragte jetzt den Vater und auch Onkel Heinrich, ob sie schon den Saft der Yegra probiert hätten. Über zehn Jahre waren die beiden Männer bereits im Land, und nichts wußten sie von der Yegra, worüber Anne-Marie nur den Kopf schütteln konnte.
»Wenn das wirklich so ist, wie du sagst, Mädchen, dann haben wir alten Esel in der Tat das Wichtigste auf dieser Affenerde noch immer nicht erfahren«, lachte Onkel Heinrich und ließ seine habichtgrauen Augen im ganzen Gesicht herumkullern. Er war heute ausnahmsweise guter Laune. Er glaubte sich schon im Besitz des Sägewerkes und der Zuckerrohrpresse. Er sah in der Bai Frachtschiffe liegen, die bis von Buenos Aires heraufgekommen waren, um den paraguayischen und brasilianischen Tabak und die Yerba, die Caña und die Baumwolle, Mandioka und Manis, Orangen und Nüsse direkt von den Produzenten zu kaufen.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und aus seinen gelben Zähnen knallte es heraus: »Mädchen, wenn uns die Heuschrecken im nächsten Jahr nicht die Haare vom Kopf fressen, jede Baumwollstaude zwanzig Kapseln trägt und der Halsabschneider Perutti uns endlich die wohlverdienten 400 Taler für die Tonne Zuckerrohr zahlt, dann bringen wir dich nach Buenos Aires nicht in eine popelige Haushaltungsschule, sondern in eine piekfeine Pension, wo du den ganzen Tag über französische Romane lesen kannst, nebenbei auch noch die feine Küche erkennst, Tennis und Golf und perfekt Englisch. Alle netten Jungens von den Estanzien hier rundherum sprechen nur Englisch. Und eine halbe Estanzia, denke ich, wirst du uns doch noch wert sein, nicht wahr?«
»Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist, Onkel Heinrich«, antwortete Anne-Marie. »Zunächst aber warte ich immer noch auf den Goldfuchs. Denn die weiße Mula, die ihr mir da angedreht habt, ist doch nur eine Luftschaukel und kein Pferd. Und wenn ihr mir den Goldfuchs endlich besorgt habt und Onkel Heinrich immer noch die gute Laune hat, dann muß es unbedingt eine gezogene Winchester sein. Erst wenn ich so viel schwarze Pumas geschossen habe, daß ich mir daraus einen langen Pelzmantel machen kann, dann fahre ich zur Saison nach Buenos Aires. Tausend Worte Englisch kann ich schon, und die Küche von Muttchen ist mir gerade fein genug. Soll sie noch feiner sein, dann nehme ich Stunden bei der Mayahua.«
»Das Pferdchen kommt vielleicht in der nächsten Woche schon. Alles andere, was du dir hier mit der Zeit ausgebrütet und auf den Wunschzettel gesetzt hast, das wird dir unbedingt zufallen, wenn du den Besuch der Heuschrecken von uns fernhältst«, sagte lächelnd der Vater.
»Würde ich ein Mann sein, dann hätte ich auch schon längst etwas erfunden, den Heuschreckenschwarm abzulenken.«
»Ablenken ist gut!« lachte Onkel Heinrich. »Aber weshalb soll zur Abwechslung nicht auch einmal ein Mädchen etwas erfinden?!«
»Ich will aber nichts erfinden.«
»Wenn man aber viel Geld damit verdient … und ein probates Mittel gegen Heuschrecken würde dem Erfinder Millionen Dollars einbringen … dann willst du auch nichts erfinden?« fragte Onkel Heinrich.
»Nein, weil das allein Männersache ist. Außerdem finde ich die Pirañas im Fluß bedeutend häßlicher als die Heuschrecken.«
»Die Pirañas fressen uns nicht die Baumwolle und den Mais auf, mein Kind«, erwiderte Onkel Heinrich. »Und im Augenblick stören sie uns ja auch nicht. Außerdem müßte man einmal versuchen, ob sie eßbar sind. Fällt der Versuch positiv aus, dann kann man hier sogar noch eine Fischräucherei aufmachen. Nicht wir; aber manchem unserer Landsleute aus der Kolonie würde das wieder auf die Beine helfen«, sagte Onkel Heinrich.
»Ob man die Pirañas einpökelt oder räuchert … das ist mir gleich. Die Hauptsache ist, daß im Fluß keine mehr drin sind. Mich stören sie, denn ich möchte gern im Fluß baden.«
»Bloß nicht, mein Kind!« fuhr der Vater hoch. Die alten Narben von den Bissen der Pirañas fingen an zu jucken. Und im Augenblick überlegte er, was man wohl anstellen müßte, wenn man später einmal vom Fluß einen Kanal in das Land hinüberleiten würde, um die Ländereien planmäßig zu bewässern.
»Hast du daran gedacht«, wandte er sich an Onkel Heinrich, »daß man mit dem Kanal die Pirañas unter Umständen auch auf den Kamp bekommen kann? Ich erinnere mich, daß ich auf einer Estanzia in Entre Rios Kühe sah, die mit zerrissenen Eutern auf der Weide herumliefen. Als ich den Administrator nach der Ursache der schrecklichen Verstümmelung der Tiere fragte, antwortete er mir, daß sie dieses Malheur mit der Anlage von Bewässerungsgräben auf den Hals bekommen hätten.«
»Wenn die Leute so dumm waren und keine Eisengitter in den Zufluß eingebaut haben …«
»Siehst du, Heinrich, daran habe ich im Moment auch nicht gedacht. Immer das Nächstliegende läßt man außer acht. Und du, Mariechen, du meinst: es müsse solche Abwehrgitter auch für Heuschrecken geben? Gitter aus ganz feinem Draht, die man in diesem Falle in der Luft anbringt?«
»Ich will nichts mehr wissen von den Heuschrecken. Und ich will ja auch nichts erfinden. Aber ich möchte gern einen Radioapparat haben und etwas von der Welt hören.«
»Ja … die weite Welt, meine Tochter! Ich habe hier zwischen Baumwolle und Zuckerrohr, Mais und Tabak beinahe vergessen, daß so etwas existiert wie die weite Welt. Wenn du aber dafür sorgst, daß wir im nächsten Jahr hier genug Regen bekommen, damit uns die Orangenbäume nicht gleich im ersten Jahr schon Asche tragen anstatt Blätter, dann wird auch der Radioapparat da sein, der übrigens auch auf meinem Wunschzettel steht.«
»Was für Orangen, Vater?« fragte Anne-Marie erstaunt.
»Dreitausend Orangenbäume werden wir dort pflanzen, wo jetzt noch das Stück Urwald steht.«
»An der Krebsbucht, Vater?«
»Ja … dort wird später einmal der Hafen hinkommen.«
»Und was soll mit der Hütte der Mayahua geschehen?« fragte Anne-Marie und sah den Vater und Onkel Heinrich an.
»Siehst du, da fährt uns dieses Mädchen schon wieder mit dem alten Warzenschwein in die Parade!« brummte Onkel Heinrich und zerknitterte die Haut seiner Stirn.
Der Vater fragte: »Was hast du bloß mit dieser alten India? Wir schulden ihr doch nichts, und wenn wir den Wald, der jetzt uns gehört, roden und dann auch die Hütte verschwinden muß, geschieht niemandem ein Unrecht.«
»Ich habe nichts …«, antwortete Anne-Marie. »Ich dachte bloß so.« Und sie behielt das, was sie eigentlich hätte sagen wollen, jetzt für sich und ging in die Küche.
Diese Anteilnahme Anne-Maries an Dingen, die mit dem indianischen Menschen, seinen Gebräuchen und seinen Sitten zusammenhingen, war keine bloße Backfischlaune, die man so einfach beiseite schieben konnte, wie ihr Vater es jetzt tat, sich darauf die Pfeife mit einem hellen, feinblättrigen Tabak stopfte und nach einigen Zügen zu seinem Bruder Heinrich sagte: »Eigentlich müßten die beiden Indios doch schon hier sein. Bist du dessen sicher, daß sie die Arbeit übernehmen werden?«
»Ich werde sogar noch 10 Cent weniger für jeden gepflanzten Baum herausschinden können«, antwortete Heinrich Coßmann. »Die Indios werden bloß an den Most denken, den ich vor ihre Nase in zwei offenen Töpfen auf den Tisch stelle. Und sie sollen ihn nicht eher zu schmecken bekommen, als bis sie ihre Kreuze unter den Vertrag gemalt haben. Pedro und Pablo, die immerhin ein paar Buchstaben schreiben können, setzen als Zeugen ihre Namen dazu. Dann bringe ich das Dokument zum Friedensrichter, damit er seine Krähenfüße auch noch daruntersetzt, und die Sache ist in Ordnung.
Du wirst jetzt natürlich wieder sagen: Halsabschneiderei. Unser Vater hätte sich nicht dafür hergegeben. Ich muß dir dann darauf antworten: Ich denke immer noch an die 300 Pesos Gold, die uns, als wir hier noch Gringos waren, der Herr Polizeikommissar abgepreßt hat, innerhalb sechs Stunden. Und hätten wir nicht gezahlt, wie August Kottsiefer … dann würden auch wir ohne Gnade und Barmherzigkeit einen Tag und eine Nacht an der Barra zugebracht haben und ein halbes Jahr arbeitsunfähig gewesen sein. Der Ziegenteufel hol dieses Gesindel! Die Engländer hier haben für solche Zwischenfälle ein sehr gesundes Rezept parat, das lautet: ›Man muß frühzeitig die anderen rupfen, ehe man selber gerupft wird.‹ Daran gedenke ich auch in Zukunft mich zu halten.«
»Ja … mein Lieber, du hast wieder einmal das alte afrikanische Reibeisen auf der Zunge. Hat der Most die Gespenster wachgerüttelt? Mir scheint es beinahe so!«
»Der Most hat mir geschmeckt, das ist nicht zu leugnen. Und nach dem Kaffee wird man noch eine zweite Probe machen. Nur das, mein lieber Bruder, kann ich nicht vertragen, wenn man fortwährend am Ohrläppchen gekitzelt wird mit der für Konfirmandenjünglinge vielleicht zutreffenden Ermahnung, sich hier in der Wildnis wie in einem vornehmen Salon zu benehmen und vor einer Maus auszureißen. Eine Maus nimmt man, ohne Umstände zu machen, unter die Stiefelsohlen, einen Ochsen in den Nasenring, und diese Faulenzer von Indios … na ja, darüber werden wir wohl nie einer Meinung werden.
Wenn Anne-Marie ein Jüngling wäre und du nichts Besseres mit ihm vorhättest, als zu allen seinen Launen ja und amen zu sagen, dann würde ich ihn paar Jahre in das Seminar für Missionare nach Asuncion schicken, damit er dann nachher den Indios, um sie williger für die Christianisierung zu machen, erklären kann, daß die ersten Menschen, die der Herrgott erschaffen hat, nicht eine weiße, sondern eine kupferrote und verrunzelte Haut hatten, Guarani sprachen und nicht unter dreihundert Jahre alt wurden, Totems schnitzten und das Matetrinken erfunden haben.«
»Darauf wäre zu sagen, Heinrich: Der Herr Staatspräsident in Buenos Aires denkt nicht weniger milde über die Indios als unser Kind. Am liebsten möchte er den Chaco und die angrenzenden Territorien als einen gesetzlich geschützten Naturpark erklären, reserviert allein für die Indios, damit sie noch ein paar Jahrhunderte weiter in ihren alten Sitten und Gebräuchen beharren.
Sehr schön und sehr menschlich gedacht. Aber was soll dann mit den Kolonisten geschehen, die andere Regierungen, weniger menschenfreundliche und durchaus nicht auf die Konservierung der noch lebenden indianischen Folklore bedachte, ins Land gerufen haben, um aus dem argentinisch-paraguayisch-brasilianischen Urwald ein neues und vielleicht noch schöneres Kalifornien zu machen?
Ich wäre natürlich sofort bereit, gegen eine entsprechende Vergütung in bar oder einen Tausch mit Land am Rio Negro dieses Stück Wüste hier den Caballeros Yamacinto und Huacua abzutreten.«
»Na ja … ein wenig nähern wir uns also doch. Und wie die Siedler im Chaco boreal über die Indianerfreundlichkeit ihres Herrn Präsidenten denken, das hast du ja neulich erst in der ›Paraná-Post‹ lesen können, nach dem Aufstand der Mocovi im Reduktionsland.
Da schrieb einer in der Zeitung, einer von unseren Leuten, dem die Indios über Nacht einen Aschenhaufen aus dem Rancho machten und einen Müllhaufen aus seinem zwanzig Hektar großen und zehn Jahre alten Yerbal: ›Es ist eine sehr wohlfeile Großmut, in dem über tausend Kilometer entfernten Buenos Aires den Indianerfreund zu spielen. Wenn man aber mit Frau und Kindern, seinem Viehzeug und einer in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Chacra weit draußen in dem abgelegensten Winkel der Welt sitzt, jede Minute gewärtig, von den wilden Horden beraubt und ermordet zu werden, dann bekommen solche Dinge wie Menschenfreundlichkeit, Zivilisation und Friedensliebe ein ganz anderes Gesicht. Dann verlangt man vor allem Schutz für Leben und Eigentum von jenem Staat, dem wir die Steuer zahlen, dem wir das Land kultivieren und in dem wir den Hyänen der Konsignationsgeschäfte die Taschen füllen.
Soll sich die edelmütige Gesellschaft doch einmal herbemühen und unsere Leute mal in Augenschein nehmen, wie das hier herumläuft, seit Jahren kein ordentliches Kleidungsstück mehr am Leib. Nur Lumpen, die aus hunderterlei Flicken bestehen. Immer wieder geflickt, bis schließlich nur noch Löcher da sind und kein Stoff mehr. Stiefel sind hier der unerhörteste Luxus, den man sich denken kann. Das ewige Barfußgehen macht zwar die Haut hart und soll auch die Bildung von Ballen und Hühneraugen verhindern. Aber um so leichter finden die Hakenwürmer einen Zutritt. Ich glaube, die Herrschaften in den hauptstädtischen Renn-, Tanz- und Bridgeklubs kennen diese Biester, die uns plagen, nicht einmal dem Namen nach, geschweige wissen sie etwas von dem Unheil, das die Bichos, namentlich bei den kleinen Kindern, anrichten, die der Staat als Landeskinder reklamiert.
Alles andere, was da gestottert wird von der Sorge der Regierung um die Rothäute, sind Phrasen.‹
Zum Glück haben wir hier in Paraguay solch einen edelmütigen Präsidenten nicht. Der gegenwärtige Herr hat 80% Indianerblut in den Adern. Und das ist gerade die richtige Mischung, mit den Indios umzugehen, wie sie genommen werden müssen, damit sie sich endlich an Ordnung gewöhnen. Ich will dabei nicht einmal behaupten, daß die Schuld einzig und allein bei den Indios liegt. Sicher hat man Schindluder mit ihrer Angst vor der Zivilisation getrieben.«
»Man könnte beinahe meinen, Heinrich, du betrachtetest die Verhandlung mit Yamacinto und Huacua als einen Krieg mit Winchester und Coltpistole gegen Keulen aus Quebrachoholz und vergiftete Lanzen. Ich halte dafür, wir sollten danach trachten, uns einen Stamm von Indios ansässig zu machen, für nachher, wenn wir das Sägewerk laufen haben und die Zuckerfabrik funktioniert.«
»Vielleicht machen wir das auch mit Indios, warum nicht?! Denn die Halbseidenen, mit ihren ewigen ›mucho trabajo‹ und ›poco sueldo‹ sind auch keine Engel, die friedlich ums Haus schweben. Außerdem irrst du. Ich will die roten Burschen beileibe nicht ausrotten, wie jene Herren Pizarro und Genossen, die heute auf den Sockeln marmorner Denkmäler von Staats wegen dazu angehalten werden, eine gute vaterländische Figur zu machen. Ich bin vor allen Dingen für Ordnung und für eine gerechte Verteilung von Soll und Haben. Mir ist es vollkommen Wurscht, ob bei uns eine Criolla oder eine India das Unkraut aus der Baumwolle zupft. Aber für das Geld, das ich ihnen gebe, darf ich immerhin verlangen, daß fleißig gezupft wird. Und ich darf ferner verlangen, daß sie mir von den Feldern nicht die Frucht stehlen, die sie nicht gesät haben.«
»Also … hast du dich wieder beruhigt?«
»Unfug, Fritz, mich ewig und immer und bei den unpassendsten Gelegenheiten als einen Blutsäufer und Menschenschinder hinzustellen. Ich habe mehr Gemüt, als du ahnst. Nur gehe ich sparsam damit um.«
Anne-Marie und Muttchen kamen mit warmen Maiskuchen aus der Küche. Dazu gab es einen dicken schwarzen Bohnenkaffee, gesüßt mit hellgoldenem Sirup aus dem javanischen Zuckerrohr.
Coßmanns waren die ersten, die es mit dem javanischen Rohr, das bedeutend empfindlicher gegen Nachtfröste war, versuchten. Und weil sie etwas riskiert hatten und auch gleich eine Rekordernte damit erzielten, gaben sie der Regierung einen sehr lauen Bericht von dem Pflanzungs- und Ernteergebnis. Sie wollten noch ein paar Jahre ohne Konkurrenz bleiben. Und so wie mit dem Zuckerrohr und der nordamerikanischen Baumwolle, die speziell nur sie kultivierten, gedachten sie es auch mit den Orangen zu halten. Es sollten kernlose Blutapfelsinen werden; die kultivierte hier noch niemand. Sie waren aber das, worauf der Markt in Buenos Aires geradezu wartete.
Die beiden Männer und Muttchen wollten jetzt nach dem Kaffee und dem Disput über die Behandlung der Indios eine Ablenkung von den alltäglichen Dingen. Und weil man noch kein Radio hatte und nicht einmal ein Klavier im Haus, hielt man sich an die kleine Bibliothek.
Anne-Marie spielte, seitdem sie überhaupt fließend lesen konnte, den Vorleser. Sie ging in das Wohnzimmer hinüber und kam mit einem Band Kleist zurück. Friedrich Coßmann blätterte in dem Band herum und sagte: »Ja, den Kohlhaas haben wir nun schon mindestens dreimal vorgehabt. Wie wäre es mit der Erzählung von der Marquise v. O.?«
Muttchen wollte sagen, daß es wohl nicht die richtige Geschichte für ein Mädchen von noch nicht sechzehn Jahren sei. Aber Onkel Heinrich hatte schon zustimmend genickt, und so unterließ sie den Einwand. Sie beobachtete Anne-Marie aber bei der Vorlesung, während die beiden Mannsleute sich zurückgelehnt hatten und aus ihren Tabakspfeifen zwei mächtig qualmende Fabrikschornsteine machten. Anne-Marie las die Geschichte, ohne irgendwie bewegt davon zu sein. Und Muttchen sagte sich darauf: Schließlich ist sie ja auch kein ahnungsloses Kind mehr. Was man einer heranwachsenden Tochter sagen muß, so nach und nach, das habe ich getan. Sie hat sich Gedanken darüber gemacht und weiß im Ungefähren, wie die Dinge laufen, wenn man in die Jahre kommt, eine Frau zu werden. Ich jedenfalls habe es bedeutend schwerer gehabt. Denn mich ließ man herumlaufen und ohne Führung in die große Überraschung hinein, von der ich mich eigentlich bis heute noch nicht erholt habe …
Nach dem Vorlesen mußte Muttchen Anne-Marie schnell ein paar Tropfen Salmiakgeist in ein Wasserglas zählen. Es waren wieder die Kopfschmerzen und das Leibschneiden. Es war wieder das betäubende Duftgemisch aus Oleander, Myrten, Glyzinien und Orangen. Es war wieder die Luft, die elektrisch knisterte und Funken überspringen ließ, wenn man die Blattspitzen der Mimosen berührte. Es war wieder das dumpfe Geräusch der Atemzüge Pans im Wald und der dunkle Weg der Frau, der durch das Blut des Mädchens gespensterte und es unruhig machte.
Muttchen wiederum mußte sich dauernd bücken und die Piques aus den Beinen kratzen, diese lästigen Sandflöhe, die sich in dem festgestampften Lehmboden der Laube angesiedelt hatten und auch mit der Flitspritze nicht zu vertreiben waren. Sie hatte auch Angst vor den langbeinigen Moskitos, den Anopheles, die in den schattigen Ecken herumschwirrten und die Malaria oder den Chu Chu, wie die Indios sagen, übertragen.
Die Dämmerung quoll aus den Wiesen herauf, und in diesen bangen Minuten zwischen Tag und Nacht brach aus dem vom Fieber geschüttelten Blut der Kreatur die Angst heraus, zuerst bei den Vögeln im Feld, bei deren unheilkündendem Gekreisch sich das Herz des Menschen fröstelnd zusammenzieht, ohne daß die meisten eine Ahnung davon haben, daß es nicht die vom Wasser heraufkommende Kühle ist.
Das Rohrgeflügel von der Lagune strich mit schalmeienhaftem Trillern flach über den Garten und in einem jähen Bogen zum Fluß, als würde dort der breite Schilfgürtel ihnen mehr Schutz bieten. Die Frösche aber mußten bleiben, wo sie waren. Sie machten dafür einen Spektakel, als käme von Asuncion das Geheul einer neuen »Revolution« herüber, der dritten im Verlauf von wenigen Monaten.
Heinrich Coßmann war das einzige Lebewesen im Haus, das dem unruhevollen Nachtbetrieb in der Natur gegenüber unbewegt blieb. Er hatte beide Ohren offen, aber nur für ein bestimmtes Geräusch, das sich langsam näherte und auch deutlicher wurde. Es waren die krächzenden Stimmen von Pedro und Pablo und das Gackern der beiden Indios. Nach wenigen Minuten erschien Pablo auch schon auf der Veranda und meldete den Besuch.
»Sollen hereinkommen, die Leute, aber zuerst draußen unter den Bäumen die Ponchos ausschütteln. Läuse können wir hier nicht gebrauchen. Sage das ihnen!«
Pablo tat das, was der Patrón ihm geheißen hatte. Er »lauste« die beiden Indios, indem er ihnen ein paar Kokablätter in den Mund schob: »Damit ihr dem Patrón nicht alle guten Worte aus dem Mund herauszieht und die bösen uns überlaßt. Der Most nachher wird euch schmecken. Und was wir euch sonst noch versprochen haben und ihr uns, das bleibt doch bestehen, Schwager?«
Die beiden Indios grienten. Sie brachten die Koka in die richtige Lage zwischen Backe und Obergaumen. Und darauf erst gelobten sie, sich so zu benehmen, wie es einem Christenmenschen geziemt. Sie dachten dabei aber nicht an den bleichen bärtigen Mann am Kreuz, sondern an Zupáy, das Götterwesen mit dem Ziegenfuß und den langen spitzen Ohren, ein Bild, das ihnen viel geläufiger war als jenes, vor dem sie knien mußten.
Heinrich Coßmann fragte den Bruder Friedrich: »Willst du mit den Leuten verhandeln oder soll ich es? Spaß macht es nicht, den Gestank eine halbe Stunde lang einzuatmen. Zum Glück habe ich weder mit der Soroche noch mit der Seekrankheit etwas zu tun. Aber wie du willst. Was ist nun?«
»Ich denke, die Verhandlung mit den beiden Leuten wird zunächst einmal und allein deine Sache sein. Tu mir aber den Gefallen und zieh den armen Teufeln nicht das Fell über die Ohren! Segen hat Wucher noch nie gebracht«, antwortete Friedrich seinem Bruder.
»Man könnte beinahe glauben, Fritz, daß das Fräulein Tochter dich weichgemacht hat mit ihrem sonderbaren Schwarm für Läuse-Brutmaschinen und Stinktiere ohne Pelzwert. Aber schenken lasse ich mir nichts, darüber kannst du ganz beruhigt sein. Bei uns werden nur reelle Geschäfte gemacht. Mit allen, die mit uns Geschäfte machen wollen, auf der gleichen reellen Basis. Bist du nun beruhigt?« Er strich sich mit den Fingerspitzen über die rechte Schläfe, und das war die Kurve seines Willens: immer und überall sich durchzusetzen.
Nach fünf Minuten kamen die beiden Indios, geführt von Pablo, auf die Veranda. Ihr erster Blick galt dem großen Steinkrug auf dem Tisch. Heinrich Coßmann hatte sich nicht verkalkuliert. Er rückte den Leuten die Hocker hin und nötigte sie zum Sitzen. Das faßten sie als eine besondere Ehrung auf. Und benommen davon, sagten sie zu allem ja, wahrscheinlich verstanden sie nur die Hälfte davon, was Heinrich Coßmann ihnen alles erzählte.
So kam der Vertrag schnell zustande, der den langen Atem hatte, aus einigen Hektar Urwald einen blühenden Orangenhain für die Familie Coßmann zu machen.
Der Krug mit dem Most war nicht einmal bis zur Hälfte geleert. Heinrich Coßmann überließ den beiden Peonen den Rest, strich sich abermals über die Schläfe und murmelte vor sich hin: In Afrika hätten wir das viel billiger und einfacher haben können. Also ist auch dieser Erdteil schon degeneriert und amerikanisiert, was wohl so ziemlich dasselbe ist.
Friedrich Coßmann hatte sich während dieser Zeit im Garten aufgehalten. Der Most war ihm zu Kopf gestiegen. Durch Tiefatemholen in der Kühle versuchte er die Benommenheit loszuwerden. Als er sich nach einigen Minuten tatsächlich etwas freier fühlte, setzte er sich in die Küche zu seiner Frau und Anne-Marie. Sie schuppten beide an den Pejerreys für das Abendessen herum. Die alte Magd war ins Dorf zu Verwandten gegangen. Muttchen sah sehr überarbeitet aus. Ihr Gesicht hatte wieder die krankhafte graue Farbe; die Haut über den Backenknochen und um den Mund herum war straff zurückgespannt.
Friedrich Coßmann sagte zu seiner Frau: »Ich habe mir gedacht, daß man sich noch eine zweite Hilfe für die Küche ins Haus nimmt. Wir hatten da im Baumwollfeld eine junge Witwe, eine noch nicht getaufte India allerdings. Sie sah aber sehr adrett aus und war fleißig. Was meinst du dazu, Frau?«
»Eine Hilfe kann ich natürlich gebrauchen, Mann. Ich hätte nämlich Lust, den Hühnerhof etwas zu vergrößern. Du könntest mir auch ein paar Perlhühner aus der Stadt besorgen. Hier draußen ist das kein Luxus.«
»Bueno, ich werde Pedro sagen, daß er sich nach der jungen India erkundigen soll. Und mit dem vergrößerten Hühnerhof bin ich gut und gern einverstanden. Das bringt, meine ich, auch etwas mehr Abwechslung für unsere Mahlzeiten. Auf Krebse habe ich auch wieder einmal Appetit. Kommt die alte India, die Mutter von Cayrú, nicht mehr vorbei mit ihren Körben?«
»Sie war schon sehr lange nicht mehr hier. Vielleicht hat sie Angst, vom Hof gejagt zu werden.«
»Woher denn, Frau! Sie war doch in der Ernte bei uns, und man hat sie gut behandelt. Vielleicht sieht sich Anne-Marie einmal nach ihr um und sagt ihr, daß man Krebse braucht.«
»Ich kann ja morgen früh nach der Bucht herüberfahren, Vati. Und wenn Mayahua nicht zu Hause sein wird, dann sicher Cayrú.«
»Fahr rüber! Von mir aus!«
»Können wir in einer halben Stunde essen, Mann?« fragte Muttchen und nahm Anne-Marie das Wort weg, das sie noch gern hätte sagen wollen.
»Ist doch noch so früh am Tag, Frau«, sagte Friedrich Coßmann. Als er aber die Augen seiner Frau sah, die tief in den Höhlen lagen, in einem Bett aus violetten Schatten, ging es ihm sehr nahe, und er sprach mit einer belegten Stimme: »Ja … du bist müde. Nicht bloß körperlich. Alles auf dieser Erde hier ist schwerer und anstrengender. Leider hat man nicht immer den Kopf dafür und die Zeit, darüber nachzudenken. Du mußt dich jetzt mehr an Mariechen halten, Frau, mit ihr wieder jung werden, nicht wahr? Das ist doch keine schlechte Medizin.«
Muttchen wollte in Gegenwart des Kindes nicht auf das eingehen, was der Vater hier berührte. Sie fragte deshalb noch einmal: »Können wir also in einer halben Stunde essen?«
»Ich denke, Heinrich wird bald fertig sein mit dem Vertragmachen. Werde mal nachsehen.«
Anne-Marie sah durch das Fenster, das aus einem engmaschigen Drahtnetz bestand, auf den Garten hinaus, wo es von Feuerfunken sprühte, obwohl es noch nicht stockdunkle Nacht war. Die gelb, rot und grün glitzernden Käfer feierten Hochzeit in dem blauen Gespinst, das sich von Strauch zu Strauch spannte und an der Nacht webte.
»Eine eigentümliche Luft schwelt heute im Garten herum«, sagte Anne-Marie zu Muttchen. »Ich weiß auch nicht, wonach sie eigentlich riecht. Wenn Vati erlaubt, werde ich nach dem Essen einmal eine kleine Zigarre probieren. Ich glaube, der Tabakgeruch wird mir guttun. Oder hast du etwas dagegen, Muttchen?«
»Probier's mit der Zigarre! Ich habe nichts dagegen. Die indianischen Frauen rauchen ja, wo sie gehen und stehen, auch in der Stadt. Ich bin leider schon zu alt dazu, um mich an die hiesigen Dinge noch zu gewöhnen.«
»Ich verstehe nicht, Muttchen; zu allem, was dir fremd vorkommt, sagst du, du seist schon zu alt dafür. Ich glaube nicht, daß man so alt werden kann, um nichts mehr zu wollen.«
»Ja … mein Kind, hier draußen wird man tatsächlich schneller alt und müde als daheim. Das wirst auch du noch erfahren, solltest du für dein ganzes Leben hierbleiben wollen. Ich habe mich hier nie richtig wohl gefühlt. Sollten wir in den nächsten beiden Jahren wieder eine gute Ernte haben, dann nehme ich mir Urlaub und fahre nach Hause, und wenn es nur für die Dauer von drei, vier Monaten ist. In zwei Jahren, meine ich, wirst du ja so weit sein und mich hier für eine so kurze Zeit vertreten können; denn daß Vati mit mir fährt, halte ich für ausgeschlossen. Ist ja auch gleich. Aber ich muß bald eine andere Luft atmen. Sonst kann ich ganz und gar einpacken. Und damit ist niemandem von uns geholfen.«
Anne-Marie wußte nicht, was sie der Mutter darauf sagen sollte. Sie rieb sich das Gesicht, als wäre sie in ein ausgespanntes Spinnennetz hineingeraten. Und als sie sich mit den Fingerspitzen über die Augenlider fuhr, merkte sie, daß die Augen sich gefeuchtet hatten. Rasch drehte sie sich wieder zum Fenster um, damit Muttchen nur nicht merkte, wie ihr ums Herz war. Das könnte die Sache nur verschlimmern und schwerer machen, nicht besser.