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Die Ernte im Baumwollfeld war eingebracht, und der Ertrag überstieg den Voranschlag, den Heinrich Coßmann nach der zweiten Unkrautbeseitigung gemacht hatte, fast um das Doppelte. Es gab jetzt also kein Hindernis mehr, den geplanten Waldankauf endlich zu verwirklichen. Allerdings war man bei Don Emilio über die Vorverhandlungen nicht hinausgekommen. Er konnte im letzten Augenblick noch sagen: »No, ich verkaufe nicht, um keinen Preis!« Und das würde natürlich ein sehr dicker Strich durch die Rechnung sein und ein Kopfzerbrechen ohne Ende.
Was nun die Zuckerrohrernte bringen wird, von einer mittleren konnte man jetzt schon sprechen, nachdem die Proben besser ausgefallen waren, als die bloße Inaugenscheinnahme der Pflanzung es vermuten ließ … für dieses Geld hatte man vor, zwei Joch Ochsen, ein paar Reitpferde, ein zweites Camion und einen größeren und stärkeren Pflug anzuschaffen, vielleicht auch noch eine zweite Milchkuh der großen, friesischen Rasse und die in jedem Erntejahr üblichen Kleinigkeiten für das Haus und den zivilen Menschen. Diese Pläne waren nicht ins Blaue hinein gemacht. Sich mit Wunschträumen abzugeben, das schmeckte den Brüdern Coßmann schon längst nicht mehr.
Im Zuckerrohr arbeiteten vierzehn Leute. Außer Chanuchuca und Mayahua waren es nur Mannsleute. Auch Cayrú war darunter. Im Absäbeln der Rohrstengel mit der Macheta tat er es den anderen Männern durchaus gleich. Das stellte auch Friedrich Coßmann fest. Hatte er für Cayrú zuerst den gleichen Lohn festgesetzt wie für die beiden Frauen, die das abgehauene und von den Blättern befreite Rohr bündelten, so änderte er jetzt den Satz und stellte Cayrú den erwachsenen Männern gleich. Doch wollte er es dem Jungen nicht sofort, sondern erst nach ein paar Tagen sagen.
Das Wetter war ausgezeichnet. Den Regen brauchte man einstweilen nicht zu fürchten. Es war windstill und eine trockene Hitze. In drei Wochen, nachdem die erste schon herum war, hoffte man, mit dem Rohr fertig zu sein. Was dann noch von den Feldern hereingebracht werden mußte, waren Dinge, die sich mit weniger Hilfskräften bewältigen ließen: ein paar Hektar Alfalfa, ein paar Hektar Tabak, ein wenig Mais und Manis.
Pedro und Pablo fuhren die beiden Ochsenkarren, hochbeladen mit Rohr, nach der Sammelstelle im nächsten Dorf. Heinrich Coßmann trabte auf der Mula nebenher, während Friedrich Coßmann die Leute beaufsichtigte und dann und wann auch den beiden Frauen beim Binden half. Zuweilen ließ sich auch Anne-Marie für eine Stunde auf der Plantage sehen und sprach freundlich mit Cayrú und seiner Mutter.
Bei einer Mittagspause, als Cayrú auf der Suche nach den schwarzen Fröschen war, sagte Chanuchuca zu Mayahua: »Du hast gesehen, Schwester, wie Cayrú die Augen überlaufen, wenn er das Mädchen des weißen Mannes sieht. Ich fürchte, es wird ein Unglück daraus werden, wenn er die Augen noch länger macht und einen Eingang sucht zu dem Leib des Mädchens. Er ist ein Mann und kein Kind mehr. Weißt du das nicht, Schwester?«
»Was du siehst, habe ich schon lange gesehen, Schwester. Und es war ja auch mein Wille, daß er bald ein Mädchen von unseren Leuten heiratet. Es will ihm aber keine gefallen. Und er will auch noch viel lernen, ehe er ein Mädchen heiratet. Er will die Zeichen der Weißen verstehen. Er will auch sein wie die Weißen, in allem, und doch im Wald bleiben, wie sein Vater es einmal wollte.«
»Und verflucht wurde, Schwester! Du mußt mit ihm reden. Du mußt ihm sagen, daß er in das Unglück hineinläuft. Du mußt ihm ein Mädchen kaufen und ihm sagen: Hier ist deine Frau, und sie paßt zu dir. Wenn er sich erst zu ihr gelegt haben wird und das Kind da ist, dann wird das Bild des weißen Mädchens nicht mehr mächtig sein in seinen Gedanken. Überlege dir das genau, Schwester! Und wenn du willst, werde ich ein Mädchen für Cayrú suchen gehen. Man hat jetzt doch ein Stück Geld in der Hand und kann sich ein schönes Mädchen für das Geld aussuchen. Hör auf mich, Schwester!«
»Cayrú ist wie sein Vater. Es ist ein Gedanke in seinem Kopf, und der bleibt und wächst. Ich hatte keine Macht über den Vater Cayrús. Und ich werde auch keine Macht über den Sohn dieses Vaters haben. Ist ihm das Unglück bestimmt … wer will es abwenden? Die Götter sind schwerhörig geworden, Schwester.«
Die beiden Frauen konnten das Gespräch nicht beenden. Cayrú kam mit einer Last Frösche zurück, reihte sie auf den hölzernen Spieß und röstete sie. Dazu aßen sie Hirsebrei, auch Chanuchuca aß mit.
Nebenbei, als wäre vorher nicht das Gespräch gewesen, fragte sie Mayahua: »Man hat gehört, daß Cayrú nach der Ernte heiraten wird und auf der Estanzia einen Dienst annehmen will.«
»Frage meinen Sohn, Schwester, was er darauf zu antworten hat!«
»Du hast gehört, Cayrú?« fragte Chanuchuca und rieb ihr Gesicht an seinem Hals.
»Ich habe gehört. Aber ich weiß nichts. Und ich will auch nichts wissen. Man redet viel bei unseren Leuten, und man sollte besser nicht reden.«
Darauf gab Chanuchuca es auf, weiter in Cayrú hineinzudringen. Sie gab es auch auf, ihn durch Liebkosungen zu erregen. Er setzte sich ein paar Schritte weit fort von ihr und beschäftigte sich mit einem großen Käfer, dessen Flügeldecken in der Sonne aufleuchteten, als wären sie aus flüssigem blauem Glas gemacht.
Als Anne-Marie wieder einmal aufs Feld kam, bemerkte sie, wie Cayrú die Füße bluteten, zerrissen von den messerscharfen Blättern des im Rohr wuchernden Unkrauts. Sie fragte ihn darauf, weshalb er keine Alpargatas an den Füßen habe wie Yamacinto und die anderen Männer. Er antwortete: »Das tut nicht weh, was da blutet. Und Alpargatas … ich habe noch keine an den Füßen gehabt. Aber wenn du willst, werde ich mir welche flechten aus Schilf.«
»Wer weiß, wann du Zeit hast, dir die Alpargatas zu flechten. Im Dorf kann man sie billig kaufen. Soll Pedro dir welche mitbringen?«
»Ich werde mir Alpargatas flechten.«
»Ich will aber nicht, daß dir die Füße bluten!«
»Ich werde heute abend Schilf schneiden und mir morgen mittag die Alpargatas flechten.«
»Tu es aber auch, bestimmt, sonst bin ich böse mit dir!«
Cayrú wollte noch etwas sagen, aber die Worte trockneten ihm auf den Lippen. Und mit dem Handrücken wischte er den Schweiß von der Stirn. Das mußte schließlich auch Anne-Marie tun, obwohl sie doch nur herumstand und zusah, wie die Leute sich mühten.
Als Anne-Marie nachher ihrem Vater erzählte, daß Cayrú mit blutenden Füßen im Feld herumlief, ob man das überhaupt zulassen dürfe, antwortete Friedrich Coßmann: »Du glaubst wohl, die Indios sind so empfindlich wie wir? Irrtum, mein Kind. Im Wald laufen sie ihr ganzes Leben lang barfuß herum. Sie haben Hornhaut an den Füßen, vielleicht schon von Geburt an.«
»Yamacinto hat aber doch Sandalen an den Füßen. Und die anderen Leute haben auch etwas an. Nur Cayrú nicht. Wahrscheinlich auch seine Mutter nicht, so genau sah ich nicht hin.«
»Hast du Pedro oder Pablo jemals beschuht gesehen? Hast du nicht bemerkt, daß sie, wenn sie auf der Mula reiten, sich sogar große Sporen an die nackten Füße schnallen?«
»Die beiden arbeiten ja auch nicht hier im Zucker, wo nichts als Stacheln sind. Yamacinto aber hat seine Füße gut geschützt.«
»Yamacinto, mein Kind, ist ein getaufter Indio. Und wer von den Indios sich hat taufen lassen, muß auch etwas an den nackten Beinen haben. So will es der Pfarrer. Und der Pfarrer ist hier der Stellvertreter Gottes für die Zivilisation.«
»Du meinst, Vater, Cayrú ist noch nicht getauft? Und seine Mutter ebenfalls nicht?«
»Ob getauft oder nicht getauft: im Grunde sind es doch Heiden. Das hast du ja damals gesehen, als sie tanzten. So tanzen nur die Heiden sowie die Indios und auch die Schwarzen.«
»Tanzen unsere Leute denn nicht?«
»Natürlich tanzen auch unsere Leute, und die in der Stadt wohnen, sogar sehr viel und gern. Das ist keine Neuigkeit, die ich dir da erzähle. Aber man tanzt auf eine andere Art. Vielleicht weißt du es noch, als bei uns auf dem Hof das Jahresfest der Kolonie gefeiert wurde. Vor drei Jahren war es.«
»Das weiß ich noch. Du hast mit mir getanzt und Onkel Heinrich auch. Gefallen aber hat es mir nicht sehr. Hingegen hat der Tanz bei den Indios mir sehr gefallen.«
»Mein Gott, Kind, du denkst noch immer an den Spuk?«
»Was schön war, das vergißt man nicht so schnell.«
»Jedenfalls werde ich dich zu solch einem Unfug nie mehr mitnehmen. Das schwöre ich dir!«
»Ich werde ja auch bald erwachsen sein, und dann darf ich allein gehen, wohin ich will, ohne daß du oder ein anderer mich begleitet.«
»Einstweilen bist du noch nicht erwachsen. Und wenn es soweit ist, dann werden dich bestimmt andere Dinge interessieren als die Verrenkungen betrunkener Indios.
Schade, daß Bernhoefts nicht die Quinta der Witwe von dem Engländer gekauft haben. Dann hättest du eine Freundin gehabt, die Minja Bernhoeft. Sie ist nicht viel älter als du, aber viel, viel ernster und darauf bedacht, sich in der Landwirtschaft zu betätigen. Sie kennt sich in der Bienenzucht aus und in der Veredelung von Obstbäumen. Sie führt die Wirtschaftsbücher und will sich demnächst ein Laboratorium einrichten, um die Krankheiten der Nutzpflanzen zu studieren.«
»Wer weiß, ob ich mich mit solch einer Freundin, die bereits alles kann und nichts mehr zu lernen braucht, so gut verstehen würde wie mit Cayrú.«
»Nun hör aber auf mit deinem ewigen Cayrú. Wundere dich nicht, wenn ich auch einmal so böse werde wie Onkel Heinrich.«
Anne-Marie blickte zu ihrem Vater auf, erschrocken und zitternd. Zu beiden Seiten ihrer Nase begannen die Tränen herunterzukullern. Solche harten Worte hatte sie vom Vater zum ersten Male gehört. Sie konnte sich nicht beruhigen und brach in ein wildes Weinen aus. Friedrich Coßmann stand eine Weile ratlos daneben. Dann schüttelte er den Kopf, zog das Taschentuch und trocknete das nasse Gesicht der Tochter.
»Ja … Mädchen, man hat dir doch nichts Böses getan. Komm, die Mula wird dich nach Hause bringen! Und dann sage Muttchen, sie möchte dir schnell einen Pfefferminztee kochen. Sicher hast du dich hier viel zu lange in der Hitze aufgehalten. Wenn du den Tee getrunken hast, dann legst du dich hin und denkst darüber nach, von welcher Farbe die Satteldecke sein soll, die wir dem Goldfuchs auflegen werden. Nicht wahr? Und wenn ich heimkomme, dann sagst du es mir.«
Er strich ihr das Haar glatt, setzte sie auf die Mula und sah der Davontrabenden nach, bis die Senkung, jenseits der Lagune, sich so tief machte, daß Figur und Bewegung darin verschwanden.
Und noch jemand von den Schatten auf dem Zuckerrohrfeld drückte seine Augen weit in die Ferne hinein und mußte von seiner Mutter erst angestoßen werden, ehe er sich rührte und die Arbeit wieder aufnahm.
Der Wind, der jetzt flach über die Erde strich, hatte die Augen Anne-Maries wieder blankgefegt und sich in den brennenden Busch ihres schweren Haares eingenistet.
Muttchen war mit der alten Cunshi allein auf dem Hof. Sie bereitete das Abendessen vor. Man hatte armlange Fische auf der Pariila gebraten, dazu sollte es neue Kartoffeln geben und einen bitteren Salat aus wilden Orangen und grünen Bananen.
Muttchen fragte: »Ist es dir heute nicht zu heiß auf dem Feld gewesen? So lange solltest du doch gar nicht ausbleiben. Wenn wir hier auch nicht in der ganz schlimmen Wildnis wohnen, so treibt sich doch allerlei Gesindel herum. Da waren vor einer Stunde zwei Handelsleute auf dem Hof, wie bei uns zu Hause die Zigeuner sahen sie aus, vielleicht waren es wirklich Turcos, wie die Cunshi sie nannte. Jedenfalls hatte ich alle Mühe, sie wieder vom Hof herunterzukriegen. Um sie überhaupt loszuwerden, habe ich ihnen einen blauen Poncho abgekauft. Sie sagten, er sei echt und aus reiner Vikunawolle. Nachher aber habe ich mir überlegt, wer hier den Poncho tragen soll. Die Männer gewiß nicht. Vielleicht gefällt er dir. Und dann wird der Vater auch nicht über die unnütze Geldausgabe schimpfen.«
Sie brachte aus der Stube einen indianischen Poncho von einer fast leuchtenden kobaltblauen Farbe. Er fühlte sich an wie das Fell eines Chinchilla, weicher noch als Seide und wie etwas Lebendiges. Anne-Marie betrachtete ihn lange, dann steckte sie ihren Kopf durch den Einschnitt in der Mitte des Tuches und ließ die vier Zipfel herunterhängen.
»Wenn du ihn mir schenken willst, Muttchen, er gefällt mir sehr gut. Und eigentlich habe ich mir schon so lange einen richtigen indianischen Poncho gewünscht. Hätte ich davon gesprochen, dann würde Vati sicher gesagt haben: Was Indios tragen, das schickt sich nicht für die Tochter eines Weißen.«
»Ich glaube nicht, daß Vati dir eine solche Antwort gegeben hätte, mein Kind. Vielleicht Onkel Heinrich, und das ist auch nicht einmal so sicher. Wenn dir der Poncho also gefällt, dann freut es mich, daß ich ihn den Handelsleuten abgekauft habe. Übrigens fragten sie mich, ob ich vielleicht wüßte, wer von den Indios hier Reiherfedern zu verkaufen hat. Sie würden für das Kilo guter Ware bis zu 50 Goldpesos zahlen. Das ist natürlich viel Geld. Ich möchte es beinahe nicht glauben, daß es den Leuten einfallen soll, für ein Bündel Federn so viel Geld wegzuwerfen. Aber man müßte sich doch einmal erkundigen, ob hier bei den Indios jemand ist, der Federn sammelt, vor allem Reiherfedern.«
»Ich werde Cayrú fragen«, antwortete Anne-Marie. »Er kennt alle Vögel. Ich glaube, auf der Insel gibt es viele Reiher.« Sie drehte sich wie ein Pfau in dem blauen Poncho, strich an dem wunderbar weichen Gewebe herum, ging in die Stube und stellte sich vor den Spiegel. Das indianische Kleidungsstück gefiel ihr immer mehr. Sie vergaß darüber, Muttchen von dem Vorfall auf dem Feld zu erzählen.
Während die beiden Frauen in der Küche hantierten, saß Anne-Marie in dem blauen Poncho auf der Veranda. Die Dämmerung machte die Fernen grau und nahm draußen den Bäumen die Form. Schwül, voller Leuchtkäfer und Gerüche sank die Dämmerung herab. Der Ruf der Grillen erscholl noch durchdringender, und die Fledermäuse rumpelten aus ihren Schlafstellen heraus und ließen ein paar pfeifende oder trompetende Schreie los.
Anne-Marie mußte wieder an die blutenden Füße Cayrús denken und gab zu, daß es hier die Regel ist, die Indios barfuß laufen zu sehen. Noch nie hatte jemand ein Aufheben davon gemacht. Sie war die erste, die sich über das Barfußgehen entrüstete. Allerdings hatte sie früher nie Obacht darauf gegeben. Erst die blutenden Füße Cayrús hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie gingen ihr nicht aus dem Sinn. Das Mitleid mit der armen und mißhandelten Kreatur, ob Mensch oder Tierwesen, war schon so lange mächtig in ihr, als sie überhaupt denken konnte.
Sie starrte, bis der Vater mit den beiden Knechten kam, die rötlich-trübe elektrische Birne an. Muttchen deckte den Tisch. Und Vati sagte, als er sich am Brunnen gewaschen hatte und nackten Oberkörpers und gutgelaunt die Veranda betrat: »Nanu, da haben wir ja ein indianisches Fräulein sitzen! Nett siehst du in dem blauen Lappen aus. Wo habt ihr ihn her? Ich werde ihn mir ansehen.«
Wenn es Vati freut, daß ich den Poncho anhabe, dann ist ja alles wieder gut, dachte Anne-Marie.
»Was wahr ist, muß man natürlich auch sagen«, fing der Vater wieder an, nachdem er eine grüne Bluse angezogen hatte und sich zu Anne-Marie setzte. »Wie ein Atlasfalter, der sich in die rote Glockenblüte der Bischofsblume setzt, siehst du aus. Laß dich noch einmal richtig betrachten!« Er roch nach frischem Wasser und der Creme, mit der er sich das Gesicht eingerieben hatte. Er ließ einen Zipfel des Ponchos durch seine Finger gleiten, tastete daran herum und fragte: »Wie ist das Zeug eigentlich hierhergekommen? Ist nicht von schlechten Eltern.«
Muttchen erzählte ihm die Geschichte von den Handelsleuten und daß sie am Sonntagnachmittag wiederkommen würden. Sie hätten noch manche schöne Sachen im Wagen.
»Sind zwar ganz gerissene Gauner, diese Turcos«, antwortete Friedrich Coßmann. »Aber mit dem Poncho bist du nicht hereingefallen, Frau. Er ist echt. Und da er nach Kampfer riecht, werden auch keine Läuse drin sein. Sicher ist er irgendwoher gestohlen. Denn er ist mindestens das Dreifache von dem wert, was du bezahlt hast. Sollen die Leute ruhig am Sonntag noch mal kommen. Manchmal haben sie auch Dinge, die unsereiner braucht.«
Von dem Pfefferminztee sprach Friedrich Coßmann nicht mehr. Aber auf die Minja Bernhoeft kam er noch einmal zu sprechen.
»Ja …«, sagte Muttchen, »schließlich ist die Minja nicht bloß ein wenig, sondern drei Jahre älter als unser Kind und hat in Buenos Aires das Lyzeum besucht. Ich bin jetzt immer mehr dafür, daß wir auch Mariechen, wenigstens auf ein Jahr, in eine Spezialschule nach Buenos Aires schicken. Es gibt nämlich dort eine Anstalt, die von der deutschen Regierung unterstützt wird und für die Töchter der Kolonisten deutscher Abstammung eingerichtet ist. In der Schule lernt man ja immer mehr als zu Hause. Außerdem würde gerade in dem jetzigen Alter eine Luftveränderung von großem Nutzen für unser Kind sein. Wenn sie dann wiederkommt, wird sie sicher auch die Indios mit anderen Augen ansehen.«
»Das ist alles schön und gut, Frau, und es freut mich, daß auch du jetzt eingesehen hast, daß wir das Kind nicht verwildern lassen dürfen. Aber wirst du dich auch wirklich für eine so lange Zeit von dem Kind trennen wollen? Heute sagt sich das so leicht hin, weil wir schließlich ja auch an die praktische Seite des Lebens denken müssen. Aber wenn es erst soweit ist … na ja, darüber werden wir uns ja noch öfter unterhalten, und dann wird auch Mariechen nicht so still sein wie jetzt.«
»Ich bin still, Vater, weil es ja noch nicht soweit ist mit der Schule«, sagte Anne-Marie.
»Nein, morgen fährt das Schiff noch nicht.«
Mariechen verstand das, was die Eltern mit ihr vorhatten, richtig zu deuten. Einmal mußte dieses Ereignis ja auch eintreten, von dem man heute nicht zum ersten Male gesprochen hatte.
Nach dem Essen brannte Friedrich Coßmann sich eine von den schweren schwarzen Zigarren an. Er nahm die Wochenausgabe einer deutschsprachigen Zeitung, die heute früh mit der Post aus Buenos Aires gekommen war, zur Hand und las ein paar Notizen der Sparte Landwirtschaft. Darüber schlief er ein, und Muttchen nahm ihm den noch glimmenden Stengel aus der Hand und legte ihn in den Aschenbecher. Sie wollte den schlafenden Mann nicht wecken. Er saß bequem in dem Lehnsessel aus Schilf. Soll er ein halbes Stündchen hier ruhen, dachte sie. Nachher wird er weiterlesen. Vor neun Uhr ging man ja nie zu Bett.
Anne-Marie sah den schlafenden Vater an. Sein Gesicht hatte sich entspannt und sah eingefallen aus, nach der linken Seite hin sogar etwas verzerrt. Auf den Lippen bildeten sich kleine Schaumperlen. Anne-Marie dachte bei sich: Ich muß vergessen, daß er heute so böse zu mir war.
Als sie Muttchen beim Aufwaschen in der Küche helfen wollte, sagte Muttchen:
»Das kannst du aber doch nicht in dem feinen Poncho, mein Kind! Laß man, es ist heute nicht mehr viel Arbeit.«
»Dann gehe ich noch ein bißchen in den Garten«, antwortete Anne-Marie. »Ich habe das Gefühl, daß ich frische Luft brauche, sonst werde ich nicht einschlafen können.«
»Eine schlimme Sache mit deiner Schlaflosigkeit … in diesem Alter! Vielleicht wird man doch einmal den Arzt bemühen müssen«, seufzte Muttchen und ging in die Küche zu der Dienstfrau.
Anne-Marie ging mit schnellen Schritten im Garten hin und her, die Nägel gegen die Handflächen gepreßt, und sagte immer wieder zu sich: Natürlich werde ich auch einmal nach Buenos Aires fahren müssen und die Haushaltungsschule besuchen. Aber was geschieht in der Zwischenzeit mit Cayrú, wenn sich dann niemand mehr um ihn kümmert?
An der Südseite des Gartens, von der man einen freien Ausblick nach einem Zipfel der Bai hatte, blieb Anne-Marie ein paar Minuten am Zaun stehen und sah in die helle Landschaft hinaus. Von dem Rohrgebüsch war nichts zu erkennen. Wie eine graue Mauer stand es da, nicht von dem leisesten Windhauch bestrichen. Nur der Himmel war offen und sehr tief. Hell leuchtend standen die schönen Sternbilder darin.