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Auch das Zuckerrohr war eingebracht, und der Erlös der Ernte in Bargeld lag auf der Bank in Posadas. Auf einer argentinischen Bank also. Und selbstverständlich war es eine Filiale der Banco Alemán Transatlantico. Denn welcher Kolonist würde Bargeld einem paraguayschen Geldinstitut anvertraut haben?!
Die Revolutionen wurden hier, so wie anderswo Schützenfeste und Heilsarmee-Meetings, in zwar nicht regelmäßigen Zeitabschnitten, aber ziemlich häufig abgehalten. Und man sprach in den Cafés von Asuncion von schlechten Zeiten, wenn die nächstfolgende Revolution sich Zeit ließ mit dem Eintreffen und den entsprechenden Festlichkeiten auf der Linie von Kanonenschüssen, kolossalen Reden, Heftpflaster und Caña.
Für die Kosten solcher Vergnügungen in dem »fortschrittlichsten Lande der Welt« hatten die Banken in Form von Anleihen aufzukommen. Brauchte nun der ahnungslose Klient einer solchen staatlich angezapften Bank sein Geld, um Saatgut, Maschinen und Zugvieh zu kaufen, drückte man ihm, mit vielen munteren Reden über die glänzende Finanzlage des Staates, ein Papierchen in die Hand. Dieses Papier war gewiß »echt« und von einer nordamerikanischen Banknotendruckerei ganz großartig aufgemacht, ein Kunstwerk für sich. Aber niemand wollte solch ein Papier als Bargeld in Zahlung nehmen, und wenn schon, dann nur zu einem Bruchteil des aufgedruckten Wertes. Das bevorzugteste Geld im Lande waren Dollars oder uruguayische Pesos. Das waren für einen Kolonisten weit, weit im Urwald ganz unerreichbare Sachen. Der große Entwerter Krieg hatte sich zwar, aus vielen Wunden blutend, zurückgezogen, der Frieden aber war noch nicht geschlossen; die Advokaten in Buenos Aires waren noch nicht auf ihre Kosten gekommen, Rockefeller und Royal Dutch waren schließlich keine Bauern mit einer Menge von abziehbaren Fellen. Inzwischen war ja auch schon die zweite Revolution der paraguayschen »Feuerkreuzler« vorüber, und die dritte und vierte lagen bereits in der Luft.
In Posadas herrschte argentinische »Ordnung«. Die Banken zahlten reelles Geld, und für dieses Geld konnte der Kolonist alles das haben, was sich mit dem Geld, seinem Wert nach, anfangen ließ.
In Posadas hatten die Brüder Coßmann auch die landwirtschaftlichen Maschinen eingekauft: den achtscharigen Pflug, zwei tiefgehende Einschare, ein halbes Dutzend Eggen. Jetzt war Onkel Heinrich in Yegros, um sich ein Lastauto (Camion) »aus zweiter Hand« anzusehen. Der Vorbesitzer war ein deutscher Estanciero. Auf dieser Estanzia wollte man auch die Pferde kaufen. Das Gestüt hatte im ganzen Land einen ausgezeichneten Ruf. Es züchtete in der Hauptsache harte Pferde, und dieser Typ, ein verbesserter »Criollo«, war für die Wildnis gerade das richtige. Der Administrator der Estanzia, ein gewesener ostpreußischer Kavallerieoffizier, kannte die Brüder Coßmann schon seit langer Zeit. Er schätzte sie und war ihnen oft behilflich gewesen.
Onkel Heinrich hatte für den Sonntag seine Rückkehr angekündigt. Er schickte am Sonnabend jedoch eine Depesche und teilte mit, daß er noch eine Woche länger wegbleiben würde. Don Emilio halte ihn auf; es sei nicht leicht, mit ihm zu verhandeln, doch hoffe man, Erfolg zu haben.
Als Friedrich Coßmann seiner Frau die Depesche vorlas, spitzte auch Anne-Marie die Ohren. Sie hatte erwartet, daß Onkel Heinrich den Kauf des Goldfuchses melden würde. In der Depesche war nicht mit einem Wort die Rede davon. Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen, den Eltern fiel es aber nicht weiter auf.
Die beiden »Turcos« kamen tatsächlich am Sonntag mit ihrem Planwagen und den drei grauen Mulas auf den Hof. Sie bauten einen ganzen Basar von nützlichen und unnützen Gegenständen vor der Familie Coßmann auf. »Alles unter Preis, bloß, um mit dem enormen Lager schnell zu räumen und Platz für neue Sachen zu schaffen«, sagte der eine der beiden Männer zu Friedrich Coßmann. Es waren natürlich Syrier, jene Spezies von »fliegenden Händlern«, die man in Südamerika so ziemlich überall antrifft, dort, wo es keine Bahnen und keine Autostraßen gibt, überhaupt keine Wege, denn meist sind es ja nur die vom Regen verwischten oder von der Sonne weggesprengten Spuren der großen zweirädrigen Karren.
Coßmann kaufte für den Betrieb auf dem Hof einige Pakete Nägel, zwei Sägeblätter und eine Rohrzange. Übertrieben teuer waren die Dinge jedenfalls nicht. Muttchen versah sich mit einigen Aluminiumtöpfen, einem Schneebesen aus vernickeltem Draht und einer großen Bratpfanne. Zuletzt kam Anne-Marie mit ihren Wünschen an die Reihe. Sie interessierte sich für ein modernes Angelgerät. Als der Vater sie erstaunt ansah, sagte sie: »Ich wundere mich, daß du nicht auf den Gedanken gekommen bist. Ich finde, daß wir viel zu wenig Fische essen, obwohl wir den Fluß doch direkt vor der Nase haben.«
»Mit solch einer Angel, mein Kind, gehen die Engländer auf den Lachsfang. Und nun sind wir ja keine Engländer, sondern Deutsche, also der weniger vornehmen Menschenrasse zugehörig; deshalb kommen uns hier auch keine Lachse zu. Die proletarischen Fische, die hier vorkommen, lassen sich auch mit einer weniger komplizierten Angel fangen. Was meinst du zu dieser hier?«
Er zeigte ihr eine aus Pferdehaar fertig gedrehte Schnur, mit Bleistückchen und Schwimmer versehen und verschieden großen Haken. »Den Stock schneiden wir uns aus dem Rohr, und Würmer haben wir im Garten mehr, als man an einem Angeltag verbrauchen kann. Ich kann dir auch noch ein paar Ersatzhaken dazu kaufen, wie?«
»Wenn die Engländer-Angel zu vornehm für uns ist … gut, dann nehmen wir diese hier«, antwortete Anne-Marie und beschäftigte sich mit den anderen Sachen, die der Händler ausgepackt hatte.
Als sie nichts fand, was ihr zusagte, schleppte der jüngere der beiden Syrier einen Koffer mit Schmuck heran. Aber diese Halsketten und Armbänder aus Silberblech, aus Messingdraht, Glas und grellbunt gefärbtem Galalith mußte er schnell wieder beiseite stellen. Verächtlich sagte Anne-Marie zu ihm: »Das ist Schund für die Criollos und zivilisierten Indios. Wir Wilden sind kultivierter.«
Muttchen mußte lachen, und der Vater schüttelte verwundert den Kopf. Ein Problem, dieses Mädchen, dachte er.
Es war nicht mehr viel, was die Handelsleute Anne-Marie noch anzubieten hatten. Von den Stoffen gefiel ihr ein großblumiger Kattun. Und Muttchen kaufte ihr noch ein silbergraues und grobes Gewebe aus Leinen dazu – »für eine Indianerhose zu deinem blauen Poncho, mein Kind«.
»Fein, Muttchen!« lachte Anne-Marie und fragte darauf den Händler: »Indianisches, so etwas wie den blauen Poncho, haben Sie wohl nicht mehr?«
Der Händler schleppte ein paar Taschen und Matten, geflochten aus einem feinen und seidenweichen Bast, heran. Das war auch nicht das richtige. Er zeigte Lederarbeiten und plump geschnitzte und bemalte Masken aus Zedernholz. Die gefielen Anne-Marie schon gar nicht. Schließlich zeigte er ein paar Krüge und Vasen, schwarz glasiert und mit blauen und roten Blumenmustern versehen. Kunstvolle Ornamente. »Echt! Garantiert echt!« sagte der Händler. »Vor zwei Monaten haben wir sie aufgekauft, von den Neoze am Rio Beni. Haben sie sonst noch keinem Menschen hier gezeigt.«
»So weit kommen Sie jetzt her?« fragte Friedrich Coßmann. Anne-Marie fieberte vor Erregung, welches Geschirr sie nun auswählen müsse, als Prachtexemplar sozusagen. Im Moment fiel ihr der Krug ein, den die Mutter Cayrús ihr einmal gezeigt hatte. Sie fand diese Töpfe hier zwar nicht so schön, aber doch sehr begehrenswert, alle zusammen.
»Du hast wohl Lust, dir einen von diesen Scherben über das Bett zu hängen? Meinetwegen such dir einen aus, als Pflaster auf die Wunde, daß der Goldfuchs noch nicht hergeflogen ist.«
Anne-Marie zeigte auf ein Gefäß, das flachbauchig war und mit einem Doppelhenkel versehen.
»Das schönste Stück, das es in Südamerika gibt!«
»Und dementsprechend natürlich auch der Preis«, antwortete Friedrich Coßmann.
»Der Herr werden nur das zahlen, was dieses Kleinod der schönen Tochter wert ist«, erwiderte lächelnd der Händler. Man einigte sich schließlich auf ein Drittel von dem, was zuerst verlangt worden war.
»Komisch«, sagte Muttchen, »alles, was indianischen Ursprungs ist, findet unser Kind schön.«
»Ja … auf der Schule haben wir auch mehr in die alten Schmöker der Indianergeschichten hineingesehen als in die eigentlichen Schulbücher. Alle diese Rothäute, von denen da die Rede war, galten als Helden und moralische Edelmenschen, waren treu wie Gold, tapfer wie ein Puma und listig wie ein Fuchs. Nun, die Wirklichkeit sieht ja ein wenig anders aus, noch anders, als ich es mir später vorgestellt hatte.
Bei unserem Kind scheint es umgekehrt zu sein. Sie schwärmt für die indianische Wirklichkeit. So lebt eben jede Generation in einer anderen Welt.«
Als Friedrich Coßmann die Rechnung bezahlte, fragte der ältere der beiden Händler, der einen sehr gepflegten, graumelierten Bart trug und wie ein vornehmer Händler in der Gasse der Goldschmiede von Teheran aussah: »Und zu verkaufen hat der Herr nichts?«
»Was hier auf den Feldern wächst, das hat seine festen Abnehmer«, antwortete Coßmann.
»Vielleicht haben Sie Felle von Kuh oder Pferd?«
»No, Señor! Auch die Felle, die hier wachsen, ich meine: den Tieren, essen wir mit dem Fleisch gleich mit. Es wäre wohl auch zu umständlich, ein Schwein abzuledern. Und das Kalb, das brät man hier in der Haut, das wissen Sie ja wahrscheinlich.«
»Aber Sie haben gebrauchte Kleider?« fragte der Händler mit einer verbissenen Zähigkeit.
»Nur Fetzen, verstehen Sie? Und damit gehen die Indios zur Kirche. Sie sehen, wir leben hier nicht in Kanaan, aber das kann ja noch werden, wenn man sich über das Petroleumvorkommen im Chaco geeinigt haben wird.«
Anne-Marie glaubte, jetzt auch etwas sagen zu müssen, und erinnerte Muttchen daran, daß die Männer in der vorigen Woche nach Federn gefragt hatten.
Der Händler hakte sofort ein: »Bunte Federn von Ara und Papagei, wenn ganz sauber, kaufen wir auch. Aber viel kann man dafür nicht geben. Wenn Sie aber Federn vom Reiher haben, dafür zahlen wir sehr gut und kaufen viel.«
»Was für Federn müssen das sein, die vom Schwanz oder von den Flügeln?« fragte Coßmann, neugierig geworden.
»Die Kronen vom Reiher. Ich werde zeigen!« Er holte ein kleines, in Leinwand eingehülltes Päckchen aus dem Wagen, nahm vorsichtig eine Feder heraus und gab sie Coßmann.
»Ja … ich versteh' jetzt …«, antwortete er. »Das Beste vom Besten. Aber woher nehmen, lieber Herr?«
»Vielleicht weiß es Cayrú«, bemerkte Anne-Marie.
»Der wird schon wissen, wie man zu den Federn kommt«, sagte Coßmann. Und zu dem Händler gesprochen: »Was zahlen Sie dafür?«
»Wenn die Kronen ganz lang sind und sauber, zahlen wir bis zu 50 Goldpesos das Kilo.«
»Und wieviel wiegt dieses Päckchen?« fragte Coßmann.
»Wird sein hundert Gramm«, antwortete der Händler.
»Das heißt: So an die hundert Reiher wird man deshalb abschießen müssen? No, Herr, solchem sinnlosen Mord leiste ich keinen Vorschub! Sollen die vornehmen Damen sich doch Hahnenfedern an den Hut stecken, wenn es unbedingt Federn sein müssen. Die fallen so nebenbei ab, und die Hähne werden auch so leicht nicht aussterben. Aber die Reiher sind so weit, daß man sie bald als die berühmten ›Letzten der Cherokesen‹ in den großstädtischen Varietés wird herumreichen müssen.«
»Ich möchte zu gern solch eine Feder haben, Vati. Nicht für den Hut, sondern bloß so«, sagte Anne-Marie.
»Oh, ich schenke gern der jungen Dame die Feder!« lachte der Händler, überreichte Anne-Marie die Reiherfeder und machte dazu eine komische Verbeugung. »In sechs, sieben Wochen werden wir wiederkommen, mit neuen Sachen.«
»Kommen Sie ruhig wieder!« antwortete Coßmann.
Als die Händler, denen man noch eine Wegzehrung überreicht hatte, schon lange vom Hof waren und Muttchen die neuen Küchensachen scheuerte, um sie dann auf dem Küchenbord unterzubringen, saß Anne-Marie auf der Veranda und blätterte in einem Packen alter Zeitschriften. Sie fand schließlich auch das Heft, an das sie sich erinnerte, und zeigte dem Vater die dort abgebildeten altperuanischen Gefäße. »Siehst du«, sagte sie hocherfreut, »so wie diese Kanne hier sieht auch mein Krug aus. Also ist er sicher viele hundert Jahre alt.«
»Und wahrscheinlich ist er auch noch verzaubert. Das macht die Echtheit erst richtig aus«, spottete Friedrich Coßmann. Er sah sich dann aber das Gefäß genau an und meinte: »Gewiß ist diese Kanne keine alltägliche Sache. Schon die Form spricht dafür. Die Ornamente finde ich höchst originell. Du hast doch keinen schlechten Geschmack, Mädchen! Was willst du mit dem Dings machen?«
»Zuerst genau begucken und hier in dem Heft nachlesen, ob er auch wirklich ganz echt ist. Und dann werde ich Blumen von der Insel holen und hineinstellen«, antwortete Anne-Marie, und ihr Gesicht wurde immer röter.
»So … und dann Umschau halten nach einem neuen Stück und auch dieses unbedingt haben müssen … so fängt nämlich das Sammeln von solchen Sachen an. Den Sammler, von dem hier im Heft die Rede ist, den kenne ich zufällig. Er ist der Lehrer in der Kolonie Yegros. Ich wußte nur nicht, daß er so viel von dem Kram besitzt und damit eigentlich ein reicher Mann ist.«
»Dir gefällt das Gefäß jetzt auch, Vati?«
»Es ist ein schöner Brocken, ohne Zweifel. Aber man soll sein Herz nicht daran hängen, mein Kind! Laß dir das von mir gesagt sein. Das, was wir rauhen Menschen hier unter Herz verstehen, brauchen wir in diesem armseligen Leben für bessere Dinge. Nicht wahr … du verstehst mich?«
Anne-Marie war so mitgenommen von der Betrachtung der abgebildeten Kunstwerke in dem Heft, daß sie das, was der Vater ihr eben gesagt hatte, völlig überhörte. Am Nachmittag sagte Anne-Marie zu ihrem Vater: »Ich war schon viele Wochen nicht mehr auf der Insel. Ich möchte heute mal hinüberfahren, darf ich, Vati?«
»Meinetwegen, Mädchen, aber allein, verstanden?«
»Ich weiß ja gar nicht, wo Cayrú ist. Und allein fürchte ich mich doch auch nicht.«
»Bueno! Es ist ziemlich windstill, vor einem plötzlichen Wetter brauchst du keine Angst zu haben. Es ist jetzt drei Uhr. Um sieben spätestens bist du wieder zurück.«
»Ich werde gewiß nicht lange bleiben. Ich will bloß mal sehen, ob es auf der Insel auch Reiher gibt, mit solchen Federn wie meine.«
»Gewiß sind Reiher auf der Insel. Das sieht man doch schon hier vom Ufer. Aber die Federn, von denen der Händler dir eine geschenkt hat, trägt der Reiher, und zwar der Mann, nur eine ganz kurze Zeit im Jahr, nämlich während der Hochzeit. Nachher wirft er sie wieder ab, und dann ist das Männchen vom Weibchen kaum noch zu unterscheiden.«
»Ach, Vati! Vielleicht findet man auf der Insel solche Federn.«
»Vielleicht, aber ich möchte nicht, daß du da lange herumsuchst. Im Kraut gibt es auch gefährlichere Dinge als abgeworfene Vogelfedern. Die Yararaca zum Beispiel. Du kennst das Biest ja. Damals, als ich dir das fast zwei Meter lange Tier, das Heinrich mit vieler Mühe erlegt hatte, auf der Veranda vorführte, hast du geschrien und warst kaum zu beruhigen. In der Natur wird dir das Schreien nichts nutzen. Also sieh dich vor.«
Anne-Marie schlüpfte in den blauen Poncho, nahm die Vogelflinte und eine Flasche Wasser mit Ananassaft und ging zum Flußufer. Sie hatte auch die Reiherfeder nicht vergessen. Als sie das kleine weiße Büschel aus federigem Haar am Poncho befestigte, dachte sie an Cayrú: Vielleicht wird er nach so langer Pause an seinem Kanu arbeiten. An der Biegung des kleinen Grabens, wo der Einbaum, geschützt von den überhängenden Zweigen der Espinillen, ruhig im Wasser lag, sah sie sich noch einmal den Himmel an. Fern, im Nordosten, zeigten sich einzelne Wolkenballungen; aber bis in diese Gegend hinein erstreckten sie sich nicht. Sie wirkten nur wie ein böses Auge, das vom Hof herüber den Weg des Mädchens zu verfolgen trachtete.
Als Anne-Marie an der Stelle vorüberkam, wo bisher das Kanu Cayrús gelegen hatte, bedeckt von den Ranken der wilden Ananas, war nichts mehr da. Nur ein paar trockene Holzspäne lagen im Kraut herum.
»Ja … dann wird das Kanu also schon fertig sein … und nichts hat man mir gesagt …«, sprach Anne-Marie leise für sich hin.
Darauf überlegte sie ein paar Minuten lang, ob sie nach der Bai fahren und Cayrú einen guten Tag zurufen solle.
Sie war schon halb auf dem Wege dorthin, aber sie sah das Kanu auch nicht in der kleinen Ausbuchtung der Barranca, dicht vor der Rohrhütte der Mayahua, dort, wo Cayrú es unterbringen wollte, wenn es fertig war.
Schließlich drehte Anne-Marie den Einbaum von der Bai ab, ließ die Ruderblätter spielen und fuhr schnurgerade auf die Insel zu. Der Strom war nur mäßig bewegt. In einer karussellartigen Drehung trudelte der Kadaver einer schwarzweißen Kuh vorüber. Kleine braune Vögel machten die Reise mit und hackten Löcher in das Fell, um den Würmern zuvorzukommen. Dann und wann ließ sich auch ein aus dem Erdreich herausgelöster Baum mit seinem riesigen Wipfel zum Meer hinuntertreiben. In dem plötzlichen Sturz von der hohen Uferböschung in den Strom hinein war manchem Ceibo, manchem Johannisbrotbaum nicht einmal so viel Zeit geblieben, die Affen von sich abzuschütteln, die sich jetzt in die Astgabelungen hineindrückten, kläglich winselten oder mit einem pfeifenden Gezisch ihre Götter anriefen.
Anne-Marie fuhr an der schmalen Sandbank vorüber, die der Insel vorgelagert war. Eine riesige Federwolke stieß empor, machte ein paar Runden und ließ sich dort wieder nieder, wo sie hochgestiegen war. Welcher Art diese Vögel waren, konnte Anne-Marie nicht genau feststellen. Große und kleine, weiße und gescheckte, braune und zartrosafarbene Vögel waren darunter, Vögel mit langen roten und Vögel mit krummen schwarzen Schnäbeln. Die meisten schwammen wieder lustig im Wasser herum, andere standen einbeinig am Saum des Rohres und sahen jetzt verächtlich nach dem Einbaum herüber.
Erst als der Einbaum in die schmale Bucht der Insel einfuhr und Anne-Marie das Fahrzeug an den Stamm einer Mangrove festband, fiel es ihr leichter, den einen oder anderen Vogel aus dem Gewimmel herauszufinden und zu sagen: Das sind die Löffelenten, und dort, vornehm abseits wie immer, philosophiert der Herr Marabu. Wie ein pflanzliches Wasserwesen, das in voller Blüte steht, drehte sich der Flamingo aus dem sattgrünen Teppich riesiger Blätter empor. Unter den ewig lärmenden Rohrspatzen gab es eine Sorte, die zu einem graublauen Federkleid einen knallroten Kopfschmuck trug. Nur einen Reiher hatte Anne-Marie noch nicht herausfinden können.
Sie ging jetzt ein Stück in den Busch hinein und hielt Ausschau nach den Orchideen. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis sie jenen Baumstumpf wiederfand, der unter der Fülle der kostbaren Blüten wie ein Blumenkorb aussah. Sie brach ein paar Büschel heraus und trug sie nach dem Boot. In dem Hohlraum des Kieles brachte sie den Fund unter und bedeckte ihn auch noch mit feuchten Blättern. Sie schlüpfte aus dem Poncho heraus, der ihr hier hinderlich war und auch zu warm, und legte ihn daneben.
Sie nahm jetzt einen anderen Weg in den Busch hinein und suchte nach jener Art von Orchideen herum, die sie von ihren früheren Inselfahrten noch im Gedächtnis hatte. Diese Sorte sollte den von den syrischen Händlern erworbenen indianischen Krug schmücken. Sie fand jene Stelle aber nicht mehr. Wahrscheinlich war die schmale Pikade wieder zugewachsen. Lange hält in diesem üppig wuchernden Dschungel von Stauden und Ranken, hängenden Blattbüscheln und wie Schiffstaue langen und dünnen Ästen kein Weg vor, mag er auch noch so breit sein.
Schließlich, nach einem Herumstolpern von fast einer Stunde Dauer, fand Anne-Marie zwar nicht das, was sie gesucht hatte, aber ein womöglich noch schöneres Blumenwunder. In dicken Bündeln hing aus der Astgabel, der unteren einer turmhohen Mangrove, eine rot- und gelbgefleckte Orchidee herunter. Aus den langen fahnenartig niederfallenden Blütenblättern und den dunkelviolett, wie Seidensamt glänzenden, strotzenden gefüllten Fruchtzapfen schäumte jener betäubende Duft, der angenehm wie Vanille schmeckt, in Mengen eingeatmet aber tödlich wirken kann.
Das Mädchen freute sich unbändig über diesen Fund. Mehr als ein Dutzend Ranken schnitt sie ab und brachte sie zum Boot. Es war eine halbe Stunde Weg mit dieser Blumenlast, und die Müdigkeit überwältigte Anne-Marie schon, nachdem sie knapp eine Viertelstunde gegangen war. Daß die eigentliche Ursache der Müdigkeit jene Essenzen bildeten, die den Pollen der Orchidee entströmten … wie hätte Anne-Marie das wissen sollen? Sie drückte sogar noch ihr Gesicht in die Blumen hinein, zärtlich, wie eine Geliebte, die ihren Mund in das Haar des Geliebten vergräbt, hier in der Wildnis, wo Glatzen und abscheulich stinkende Pomaden noch nicht die Regel sind, sondern eine höchst seltene Ausnahme.
Anne-Maries Herz schlug so schnell und heftig, als hätte sie einen Dauerlauf querfeldein hinter sich. Sie mußte sich setzen. Es war ein Baumstamm, dessen Herz die Schmarotzer ausgelaugt und zerlöchert hatten. Die Wurzel war weggefault, und der Wind hatte den Stamm auf die Erde herniedergedrückt. Die Mordgesellschaft hatte sich nach dem benachbarten Baum begeben. Voran die großen roten Ameisen und dann jene bronzegrünen Bienen, die einen giftigen schwarzen Honig hervorbringen. Die Indios benützen ihn in kleinen Mengen als Zusatz zum Zuckerrohrsaft, wenn sie daraus ihren berühmten Pisco brennen, der wie Eiswasser auf der Zunge schmilzt und in der Gurgel wie Ingwer beißt und kratzt.
Als Anne-Marie schließlich das Boot erreicht hatte, warf sie die Blumen und die Vogelflinte ins Kraut wie eine nichtsnutzige Sache und griff nach der Wasserflasche. Die Kühle hatte sich gehalten. Der beigegebene Saft ließ den sonst faden Geschmack des Wassers aus dem Regentank nicht aufkommen. Sie trank in unbändigen Zügen und setzte sich darauf ins Boot. Sie verspürte einen schweren Druck in den Schläfen, zwang sich aber mit aller Macht dazu, die Augen offenzuhalten. Nach wenigen Minuten war der Müdigkeitsanfall vorüber. Der Saft der Ananas im Trinkwasser hatte die betäubende Wirkung der Blumendüfte aufgehoben.
Sie sah über den Fluß hinweg nach dem anderen Ufer. Sie fand die Kurve der Bai und glaubte sogar die dunkle Rohrhütte der Mayahua zu erkennen. Natürlich konnte es ebensogut ein Weidenbusch sein. Aber das Wunschbild, es sei tatsächlich die Hütte und vor der Hütte, an einem Gerät arbeitend, Cayrú … das wollte sie sich nicht wegwischen lassen.
Als ihr von dem angestrengten Hinüberspannen die Augen zu schmerzen anfingen, tauchte sie die Fingerspitzen ins Wasser und kühlte die Lider. Eine Viertelstunde lang übte sie in Pausen diese Prozedur. Dann riß sie die Augen wieder weit auf und sah nach der Sandbank, dort, wo der massive Berg von Vogelfedern wie etwas Pflanzliches auf dem Wasser lag.
Von dem äußersten Zipfel des Landstreifens, der wie die Schneide einer Sichel geformt war, löste sich ein brauner Stein und rollte ins Wasser. Sonderbarerweise ging er aber nicht unter. Vielleicht war das Wasser noch zu seicht, um ihn völlig verschwinden zu lassen. Nach einer Weile glitt er immer leichter und leichter nach der Mitte des Stromes zu.
Der flache braune Stein, vielleicht doppelt so groß wie das Blatt der gelben Wasserrose, befand sich in einer sonderbaren Bewegung. Anne-Marie sah aufgeregt dem nicht alltäglichen Spiel zu. Nach einer kurzen Zeit des Herumratens, was da eigentlich vor sich ginge, mußte sie sich sagen, daß dieses braune Etwas, das sich da im Wasser bewegte, weder ein Stein noch ein Blatt sein konnte. Es mußte wohl doch eine Schildkröte sein, eine Urgroßmutter, geboren in der Zeit, als Pizarro sich vor dem Inka Atahuallpa als Analphabet entpuppte; denn er konnte Geschriebenes, das man ihm in Buchstaben aus Gold auf der Schale einer Riesenschildkröte überreichte, nicht lesen.
Es war eine Schildkröte, die sich da so gemächlich im Strom mit Schwimmübungen vergnügte; denn jetzt war der hocherhobene Kopf deutlich zu erkennen. Die Schildkröte versuchte den Strom zu überqueren. Knapp hundert Meter von der Sandbank entfernt, ließ sich ein schneeweißer Vogel aus der Luft hernieder und stellte sich auf den Rücken der Schildkröte. Seelenruhig zog das plumpe braune Schwimm- und Kriechtier dahin, mit den gemächlich paddelnden Füßen, die man nicht sehen konnte, jedoch die kleinen Wellen, die der Druck des Ruderns verursacht hatte.
Ob es dem Vogel auf die Dauer nicht gefiel, von einer Schildkröte über das Wasser hingefahren zu werden, wer will das feststellen? Jedenfalls erhob er sich wieder von seinem schwankenden Sitz, stieg in die Lüfte empor und schwebte dahin, den langen Hals weit vorgestreckt, den spitzen Schnabel wie eine Lanze voraus und die riesig klafternden Flügel kaum bewegend. Die Kreise verengten sich wieder, die Richtung des Fluges brach jäh aus der letzten Kurve heraus und nahm Kurs zur Sandbank zurück.
Ein sonderbares Intermezzo, scheinbar ohne Sinn, mitten in diesem für unsere Begriffe ebensowenig sinnvollen Durcheinander von hellgrünen, schwimmenden Inseln, rostroten Blütenteppichen, schaukelnden Baumstämmen und kobolzschießenden Delphinen.
Wie ein Märchenspiel hatte Anne-Marie das Geschehnis aufgenommen. Und es prägte sich so tief in ihr Gedächtnis ein, daß sie es beim Nachtessen ihrem Vater Bild für Bild erzählte.
Sie sah jetzt nach der Armbanduhr. Es ging auf sechs. In einer Stunde gedachte sie heimzufahren. Sie bückte sich zu den Orchideen, die sie ins Kraut geworfen hatte, und brachte sie im Boot unter. Mit tierisch warmem, unheimlichem Atem hauchte der intensive Geruch sie an. Wieder bekam sie das sonderbare Klopfen in den Schläfen und konnte sich noch immer nicht erklären, worin die Ursache bestand. Sie machte noch einen kleinen Spaziergang zu dem »Heiligen Baum«, den Cayrú ihr gezeigt und dessen Bedeutung für die Indios er ihr erklärt hatte. Es war ein Ombú, ein vielhundertjähriger, mächtiger Baum, ein Riese des Urwaldes. Sie setzte sich auf einen Absatz des Unterbaues der Wurzelkuppe, auf welcher der Stamm ruhte. Es war ein Sockel von der Größe eines einstöckigen Hauses; in der Höhlung hatten vier, fünf erwachsene Menschen aufrecht stehend Platz. Sich in die Höhlung hineinzubegeben, davor hatte selbst Cayrú Furcht. Warum, das konnte er dem Mädchen nicht erklären. Das dicke Laub des Baumes verbreitete eine angenehme Kühle, die beruhigend auf das erhitzte Blut des Mädchens wirkte.
Eine hellgelbe Eidechse mit rubinrot funkelnden Augen hockte in der tiefen Rille eines Wurzelhöckers, keine drei Handbreit von Anne-Marie entfernt. Die flimmernden roten Augenpunkte hatte das Mädchen für kleine Pilze gehalten. Erst als sie das Bein bewegte, um eine große schwarze Fliege mit gelben Flecken auf den Flügeln zu verscheuchen, verschwanden die glitzernden Punkte, und jetzt erst merkte sie, daß das die Augen einer großen Eidechse waren. Ach, es war hier oft sehr schwer, Pflanzen und Tierwesen voneinander zu unterscheiden. Was eine Königskerze hätte sein können, entpuppte sich als ein aufgerichteter Schlangenleib, und was man so ansah wie eine herrlich leuchtende Blume, ohne Stengel an der Säule einer Kaktee klebend, das war in Wirklichkeit ein runder Nachtschmetterling oder ein Käfer, schillernd in den Farben des Regenbogens.
Als Anne-Marie sich wieder erhob, verspürte sie einen wie Feuer brennenden Juckreiz am ganzen Körper. Sie hatte, ohne vorher hinzusehen, ihre Füße in ein Nest der kleinen schwarzen Ameisen gesetzt. Tausende von diesen winzigen Kreaturen waren an den Strümpfen hochgeklettert und in die Kleidung hinein. Sie suchten die blutwarme Haut und verspritzten dort einen ätzenden Saft. Erst als Anne-Marie sich einen Strumpf von der Wade herunterzog, entdeckte sie die Bescherung. Schnell lief sie zum Boot, warf die Kleider ab und schüttelte jedes Kleidungsstück gründlich aus. Als das Schütteln nicht viel half, klopfte sie das Zeug mit einer Astrute. Mit beiden Händen rieb sie an der blanken und stellenweise geröteten Haut herum. Schließlich ging sie ein Stück ins Wasser hinein und wusch sich. Sie hob und senkte den Körper fast in dem nämlichen Rhythmus wie der Zauberpriester damals, als er die Gottheit beschwor. Von den kleinen apfelrunden und festen Brüsten tropfte das Wasser. An die Pirañas im Fluß dachte Anne-Marie nicht einen Augenblick in ihrem Eifer, das Brennen auf der Haut wegzuwaschen. Erst als ein Schrei von einer Baumgruppe, die ein paar Meter vorsprang, heranpfiff, schreckte sie auf und hob den Kopf. Und als der Schrei zuletzt immer dringender wurde, drehte sie sich um und ging aus dem Wasser nach dem Boot zurück. Sie hockte sich hinein und sah nach den Bäumen herüber, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war. An Cayrú hatte sie in keinem Moment gedacht, obwohl sie ihn an der Stimme hätte erkennen müssen. Sie hatte die Rufe für die eines Vogels gehalten. Jetzt aber schob sich die Spitze eines Kanus um den Vorsprung der Insel herum, in dem Fahrzeug stand Cayrú, winkte und kam immer näher. Vor Freude über sein Erscheinen vergaß sie das Anziehen der Kleidungsstücke. Nicht das leiseste Gefühl war in ihr aufgekommen, daß sie ihre Nacktheit einem Wesen zeigte, das einen Mann darstellte. Erst als Cayrú das Kanu festmachte und an Land kam, dicht an ihren Einbaum herantrat und sie in seiner komischen Sprechweise begrüßte, flog ihr das zu, was man mit Scham bezeichnet, von welcher zivilisatorischen Sitte ein Waldindianer sich keinen Begriff machen kann. Erst der Missionar muß es ihm in dringender Form erklären, daß die vor fremden Menschen aufgedeckte, wenn auch naturgewachsene Nacktheit eine große Sünde ist, die von Gott mit den schwersten Strafen belegt wird.
»Stell dich dort hinter den Baum, bis ich dich rufe!« schrie jetzt das Mädchen. Und als er gehorsam der Aufforderung Folge leistete, zog sie sich an.
»Jetzt darfst du wieder herkommen!« rief sie herüber.
Warum das alles geschah, begriff Cayrú nicht. Was wußte er von Nacktheit und daß ein weißes Mädchen sie vor ihm verbergen muß?! Wie oft hatte Anne-Marie ihn schon nackt gesehen, wenn er in das Wasser der Bai tauchte, um ihr eine Wasserrose zu pflücken.
Anne-Marie versuchte das wirre Haar zu glätten, sie lachte Cayrú mit den kleinen blitzenden Zähnen an und fühlte sich jetzt nicht mehr ein bißchen müde.
»Du bist auf der Insel gewesen?« fragte sie ihn.
»Ja … ich war hier, den ganzen Tag über.«
»Und was hast du hier so lange getan? Und bist fortgefahren, ohne mir etwas zu sagen? Überhaupt hast du mir verheimlicht, daß du das Kanu fertiggemacht hast.«
»Heute habe ich es zum ersten Male aufs Wasser gebracht. Es ist gut geworden. Es ist stark. Es trägt uns beide, Muñeca!«
»Und was hast du hier auf der Insel getrieben?«
»Ich habe angefangen, das Haus zu bauen.«
»Was für ein Haus, Cayrú?«
»Du weißt nicht mehr? Für uns beide ein Haus.«
»Ach ja, für uns das Haus. Wo ist es, komm schnell und laß es mich sehen!«
»Nicht heute, erst wenn es fertig ist, Muñeca!«
»Gut … bau es erst fertig. Wenn es aber so lange dauert wie mit dem Kanu, dann werde ich es wohl nicht mehr erleben, daß wir es bewohnen. Ich will mir jetzt aber das Kanu ansehen.«
Sie gab Cayrú die Hand und ließ sich die paar Schritte führen. Das Kanu war eine Wenigkeit breiter als ihr Einbaum und mindestens einen Meter länger. Es war mit einer bunten Schilfmatte ausgelegt und trug auf dem Holm des spitzen Schnabels eine sonderbare Figur. Es schien eine Art Maske zu sein, geschnitzt aus einem hellgelben Baumkürbis und von fast weißen Vogelfedern umrahmt:.
Anne-Marie betrachtete die Figur von allen Seiten und fragte Cayrú: »Wozu soll diese Puppe gut sein, und wen soll sie darstellen?«
»Oh … das sein du!«
»Ach … so sehe ich aus, meinst du?«
»Cabeza oro sein du! So sagt meine Mutter.«
»Sonderbare Einfälle hat deine Mutter. Mir soll es recht sein. Denn Schlechtes ist mir von deiner Mutter noch nicht gekommen.«
Sie fuhr mit den Fingerspitzen über das Gesicht der Figur und stellte fest, daß sie, bei aller Primitivität, nicht ohne Form war.
»Ja …«, sagte sie bald darauf, »nun muß ich auf meinem Boot wohl auch eine Figur haben. Sie mir aber selber anzufertigen, dazu bin ich zu ungeschickt. Was soll man tun?«
»Ich werde finden eine Figur für den Einbaum«, antwortete Cayrú. Und in seinen Händen war eine Bewegung, als formte er schon in Gedanken an der Figur.
»Du meinst, Cayrú, daß du mir eine Figur machen wirst? Fein! Dann wird es auch eine nette Figur werden. Aber es darf nicht die gleiche sein, die du auf deinem Kanu hast, nicht wahr?«
»Es muß sein anders. Ich werde finden Federn.«
»Federn … was für Federn? Und wozu? Für die Figur?«
»Es werden sein blaue Federn, und es wird sein eine andere Figur. Ich jetzt aber noch nicht weiß, wie die Figur aussehen wird. Man wird erst die Mutter fragen.«
Im Moment fiel Anne-Marie die Reiherfeder ein, die sie von dem syrischen Händler bekommen hatte. Sie suchte jetzt in ihrem Boot danach und fand sie an dem blauen Poncho stecken. Sie zeigte Cayrú die Feder und fragte ihn: »Du weißt, wo man solche Federn finden kann?«
»Nein … das sein nicht Federn für meine Figur. Das sein Federn für ein Kleid. Und ich weiß, wo man findet solche Federn.«
»Du sagst: Federn für ein Kleid?« fragte Anne-Marie erstaunt. »Wer trägt hier solch ein kostbares Kleid, Cayrú?«
»Du sollst tragen solch ein Kleid, wenn wir in der Hütte wohnen.«
»Schlimme Sachen hast du mit mir vor, Cayrú, ich bin doch eine Weiße und keine India. Aber wenn es ein schönes Kleid wird, das du mir aus den Federn machst, warum soll ich es nicht anziehen, nicht wahr? Du meinst also: Es gibt diese Federn hier?«
»Es sein viele hier auf der Insel«, antwortete er und zeigte nach der anderen Seite der Insel.
»So viel sind dort, daß noch welche übrigbleiben, wenn du das Kleid für mich fertig hast?«
»Es werden sein viele, und es werden bald kommen mehr.«
»Hör gut zu, Cayrú, nächsten Sonntag werde ich wieder hierherfahren, und du wirst hier auf mich warten. Du zeigst mir dann, wie man die Federn findet.«
»Es wird sein, wie du wünschst, Muñeca!«
Anne-Marie durchfuhr ein heftiger Schrecken, als sie jetzt nach der Sonne sah. Aus giftig gleißenden, lilafarbenen Wolken glutete sie schon mit dem Feuer des baldigen Unterganges.
»Schnell muß ich jetzt heimfahren, Cayrú, sonst ängstigt sich mein Vater. Du aber bleibst noch so lange hier auf der Insel, bis ich drüben am anderen Ufer bin, verstanden? Erst wenn du mich nicht mehr siehst, darfst du abfahren.«
Sie raffte die Blumen zusammen, die sie im Kraut hatte liegenlassen, fügte sie den anderen im Boot zu und sagte zu Cayrú: »Es war schön, daß wir uns wieder gesehen haben. Und am nächsten Sonntag sehen wir uns hier wieder.«
Cayrú stand da mit gesenktem Kopf und wußte nichts zu antworten. Anne-Marie sah ihn an und war nahe daran, ihn auf den Mund zu küssen. Im letzten Moment erst zog sie den Kopf wieder zurück. Warum sie das getan hatte, darüber dachte sie die ganze Zeit während der Rückfahrt nach. Sie kam zu keinem klaren Gedanken. Schließlich sagte sie sich: Ich bin dumm, denn wenn man etwas tut und nicht weiß, warum man es tut oder läßt, … dann ist man eben dumm.
Kurz vor der Erreichung des Ufers drehte Anne-Marie sich noch einmal zur Insel um und winkte mit dem Ruderblatt. Zum Glück hatte es ihr Vater nicht gesehen, der vom Hof heraufkam, um Ausschau nach Anne-Marie zu halten. Sie war über eine Stunde länger weggeblieben, als zu bleiben man ihr erlaubt hatte.
Cayrú saß neben seinem Kanu und sah dem über den Fluß dahinfahrenden Mädchen nach. Er sah, wie der leise aufkommende Wind sich in das helle Haar des Mädchens hineinwühlte und es flattern ließ, als flöge, dicht über ihrem Kopf schwebend, ein goldgefiederter Vogel mit.
Cayrú saß, ohne sich zu bewegen, wie ein Götze da, geschnitten aus dem dunkelroten Wurzelholz des Quebracho. Die Sonne blänkerte trübe aus einem dünnen, grauvioletten Himmel und verfärbte sich, immer tiefer und tiefer sinkend, blutrot. Zusehends aber wuchs die Wolke und wurde immer dichter. Und in dem Augenblick, als Anne-Marie das andere Ufer erreicht hatte, aus dem Boot sprang und es hinter sich herzog, war auch die Sonne gesunken. Eigentlich hätte Cayrú jetzt in den Kahn steigen müssen und losfahren. Was hatte er auf der Insel noch zu suchen? In zehn Minuten wird die Nacht da sein und die Kühle immer stärker aus der Erde emporquellen und immer dichter werden.
Auf dem Wasser trieben, von den Quellen herunter, kleine grüne Inseln. Aus dem anfänglich langsamen Dahingleiten wurde plötzlich eine heftige Bewegung. Die Vögel stießen von der Sandbank hoch, zogen enge Kreise, schössen in einer jähen Kurve über Cayrú hinweg und suchten Schutz, manche von ihnen auch die Nester in den dick belaubten Urwaldbäumen der Insel.
Es war nach der Landung des Mädchens auf dem anderen Ufer kaum eine Viertelstunde vergangen, da war der Himmel schwarz, und auf dem Wasser lag eine undurchdringliche Finsternis. Weißer Wellenschaum umflatterte das am Seil hin und her schwankende Boot.
Jetzt erst erhob Cayrú sich aus der Starre des Nachdenkens, sah in die dunkelgrün flimmernde Schwärze hinein, die sich auf dem Fluß ausgebreitet hatte, und wußte nun, daß er die Überfahrt nicht wagen konnte. Er riß das Kanu aus dem Wasser heraus, stellte es auf die hohe Kante, dem jetzt mächtig blasenden Wind entgegengesetzt, und setzte sich hinein, die Beine halb heraus und auf den Sand gelagert. Die Orgel der Waldbäume donnerte. Der himmlische Spieler zog alle Register. Posaunen erdröhnten, und Becken klirrten. Die panische Angst der Kreatur machte sich Luft in einem unbändigen Gekrächz und Geschrei.
Der Himmel schüttete sich aus, unerbittlich, und es schien, als habe, der Fluß sich aus dem Bett emporgehoben und schwebte nun als ein massives Wasser zwischen Himmel und Erde.
Die Wassermassen trommelten auf dem Dach herum, das sich Cayrú mit dem auf die Seite gestellten Kanu geschaffen hatte. Oft war das Trommelgeräusch so stark, daß Cayrú sich die Ohren zuhalten und den Kopf tief in den Schoß hineindrücken mußte.
So rasch und unerwartet dieser Regen gekommen war, so plötzlich verschwand er auch wieder. Nach einer Stunde war der Himmel blitzblank gefegt und der Fluß so glatt und ruhig, als sei er gar nicht unterwegs gewesen, nicht oben und nicht unten, als habe er die ganze Zeit über geschlafen, in einem braunvioletten Poncho mit weißen Streifen, dem indianischen Anzug der Trauer und der seufzenden Klage um einen in den Tod hinübergemündeten lieben Verwandten aus dem engen Kreise des Stammes.
Die Uferbüsche klumpten sich in das Wasser hinein wie die dunklen Rücken nackter Fischer, zerrend an den schweren schwarzen Netzen. Sie bewegten sich mit einem leisen Singen; vielleicht war es das gleiche schwermütige Lied, das auch die Krebsfänger sangen, wenn die Geister des Wassers das Getier zurückhielten.
Cayrú drehte das Kanu wieder herum und setzte sich auf die Bordkante, noch ein wenig benommen von dem trommelnden Radau der heruntergestürzten Wassermassen. Über seinen von der Nässe blankgescheuerten Kopf (das Haar klebte wie eine Haube aus Silber auf der Haut) reckte ein Ceibo seinen Wipfel in den unergründlich tiefen Nachthimmel empor. In den Farnstauden und Königskerzen, die das Kanu fast verschwinden ließen, häuften sich die grünflimmernden Leiber der Leuchtkäfer. Die Augen des Jünglings standen weit auf, standen fremd in dem schmalen, dunklen Gesicht, als gehörten sie nicht hinein. Die Augen suchten und fanden jenes Sternbild, das die Indios als das geheimnisvollste aller Himmelszeichen ansehen. Unzählige Legenden haben das Geheimnis zu ergründen versucht. Einige von diesen Legenden kannte Cayrú, und wir kennen sie auch aus jener Geschichte des Zauberpriesters, die er in der Nacht des Festes der Kakteenblüte den Leuten erzählte.
Cayrú dachte an das wie Gold flimmernde Haar Anne-Maries, das sich vom Wind hatte zärteln lassen und jetzt dorthin entschwebt war, wo ein Gewirr von staubfeinen silbernen Kugeln sich als Milchstraße quer über den Horizont hinzog. Ein unfaßbar riesiges Weltensystem, in sich geordnet wie ein kunstvoller Wabenbau aus mildem Licht und ruhevollem Glanz.
Auf dieser Lichtstraße von Welten, die sich in dem irdischen Wasser spiegelte, schwebte das Kanu dahin, kaum bewegt von den Ruderblättern. Cayrú hatte das Gefühl, als zöge ihn die Insel zurück, als habe er dort, wo er an der Rohrhütte gearbeitet hatte, etwas liegenlassen. Er konnte sich nicht besinnen, was es eigentlich war. Schon als er sich dem Ufer näherte, durchschauerte es ihn, wieder zurückzufahren; und als er in die Bai einbog, quälten ihn immer noch die Nachgedanken. Erst als das Fahrzeug die Wasserrosen streifte, die sich wie ein Teppich vor dem Anlegeplatz seines Bootes ausbreiteten, fiel ihm ein, daß er es doch bei sich hatte, jenes, wovon er glaubte, er habe es auf der Insel liegenlassen. Es war das Bild des Mädchens, der weiße nackte Leib im Wasser, blank und schön wie das Gefieder eines Reihers und schlank wie die silberne Rispe der weißen Königskerze im Mond.
Er drehte sich noch einmal um. Er sah über die ungeheuere Stille des nächtlichen Flusses hinweg und suchte den dunklen Strich der Insel. Er suchte die helle Erscheinung des Mädchens, so, wie er sie jetzt vor seinem inneren Auge sah und von der er nicht mehr loskam.
Viel fragte ihn die verängstigte Mutter, und auf keine der vielen Fragen gab er eine Antwort. Sie setzte ihm den irdenen Topf mit den warmgehaltenen schwarzen Bohnen hin und bat ihn, zu essen. Die Schreie einer aus dem Schlaf gestörten Affenfamilie stiegen wie eine Flutwelle bis zum Rande des Mondes hinan.
Mayahua nahm ihm den Topf wieder fort und stopfte ihm, wie man ein kleines Kind füttert, geröstete Fleischstücke in den Mund. Er kaute und schmeckte nicht, was er kaute. Mayahua dachte bei sich: Es wird wieder das Mädchen gewesen sein, das seine Sinne so verstört gemacht hat. Welch ein Unglück mit diesem Kind, das mein Sohn ist!
Als Cayrú vor der Hütte stand, mit angespanntem Gesicht, als lausche er dem wüsten Geknarr der großen schwarzen Frösche oder dem glasklaren Klingeln der kleinen gelbroten Unken im Schilf, berührte sie seine Schulter mit dem Gesicht und seufzte. Dann löste sie die Kette von ihrem Hals, jenes uralte Amulett, das der Vater dieses Kindes getragen hatte und in dem er verdarb, und legte sie Cayrú um. Es war in ihr der Wille gewesen, ihm die Kette erst dann umzulegen, wenn er Vater geworden war. Er hätte es längst sein können. Vielleicht wird er es jetzt werden, wenn die Zauber, die in der Kette versammelt sind, ihre Wirkung tun.
Cayrú verspürte die Kette am Hals wie einen würgenden Griff. Sie enthielt die Kräfte der Sonne und des Todes. Sie brannte und würgte. Aber noch ehe die Kreise sich schlossen, zerriß er das Amulett und warf es in das Wasser.
»Das hättest du nicht tun dürfen, mein Sohn! Das hättest du nicht tun dürfen. Aus dem Wasser wird dir der Tod kommen!« wimmerte die Mutter und schleppte sich in die Hütte.
Das Jaulen der Rohreulen verwischte die schluchzenden Laute, die aus der Hütte kamen. Sie fanden nicht das Ohr Cayrús. Der Mond näherte sich der Bai, und ihr Wasser glich in dem fahlen Licht, das von den Bäumen heruntertropfte, einer Wiese aus lila- und orangefarbenen Blütensternen.
Als Cayrú durchfroren nach einer Stunde die Hütte aufsuchte und sich in die Matte legte, war die Mutter immer noch wach. Mit keinem Wort aber störte sie die leisen Atemzüge ihres Sohnes, der ein Mann war und mit dem ihr Blut noch verbunden war wie in den dunklen Monden seines Werdens im Mutterleib.