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XXII

Es war nach Monaten wieder das erstemal, daß Anne-Marie den schmalen Weg zum Fluß hinunterging, um mit dem Kanu nach der Insel hinüberzufahren. Die Vogelflinte hatte sie zu Hause gelassen. Es war ihr im genaueren Nachdenken nicht mehr ganz klar, was sie auf der Insel heute eigentlich wollte. An den Orchideen war nichts Neues mehr zu entdecken. Alle zwanzig Arten, die sie mit der Zeit aufgefunden hatte, kannte sie in allen Einzelheiten genau, von den filzigen oder glasblanken Blättern, von den stachligen Ranken und den apfelglatten Stielknollen bis zu dem unbeschreiblich bunten, leuchtenden und oft ganz bizarr geformten Blütengefieder. Nicht der routinierteste Sammler hätte tiefer eindringen können in das absonderliche Wesen dieser Blumen. Wahrscheinlich wucherten in den Wäldern am anderen Ufer des Flusses noch ein paar Arten, die sie nicht kannte. Aber dorthin zu rudern, hatte sie keinen Mut. Vielleicht mit Cayrú … ja, mit dem zusammen hätte sie gern einmal einen Abstecher nach der üppig gärenden Wildnis gewagt.

Cayrú … an den dachte sie jetzt wieder, als sie an der Agave vorüberschritt, hinter der er immer gehockt hatte. Sie blieb vor dem mächtigen Strauch eine Weile stehen und überlegte, ob es schon von vornherein in ihrer Absicht gelegen haben könnte, Cayrú zu treffen, mit ihm zu sprechen oder ihn wenigstens zu sehen und im Vorübergehen ihm einen guten Tag zu wünschen. Sie wurde sich nicht klar darüber. Aber dieser Gedanke verdichtete sich in ihren Überlegungen zu einer Gewißheit: daß sie in den letzten acht Tagen oft an Cayrú gedacht hatte, und immer in der Beziehung zum Hochzeitstanz unter dem Ombú.

Eine Viertelstunde fast hatte sie, in Nachdenken versunken, unter dem Strauch gestanden. Dann wurde mit einem jähen Aufbruch der Wille in ihr mächtig, Cayrú unter allen Umständen zu treffen und mit ihm zu sprechen. Sie mühte sich durch die wuchernde Wildnis des Unterholzes, bis zu jener Stelle, wo die mächtige Mangrove stand und Cayrú seinen Arbeitsplatz aufgeschlagen hatte. Das Kanu, an dem er bis vor wenigen Tagen noch fleißig gezimmert hatte, lag im Kraut, bedeckt mit dichten, hartblättrigen Zweigen.

Anne-Marie schob ein paar Zweige beiseite und sah, daß das Boot in allen seinen Teilen fertig war. Nur die beiden Paddel waren noch rohe Hölzer, nicht geglättet und auch noch ohne Bemalung. Sie deckte die Zweige wieder über das Boot und überlegte, ob sie wieder umkehren und nach Hause gehen oder allein nach der Insel hinüberfahren solle.

Und während sie noch nachsann und unschlüssig war, schritt sie doch schon, im Unterbewußtsein von dem Willen bewegt, jener Stelle zu, wo an einem Baum ihr Kanu mit einem Bastseil festgemacht war. Den seichten Graben, durch den man das Boot bis zum Fluß schieben konnte, hatte Cayrú angelegt.

»Das ist unser Hafen!« hatte er damals stolz zu Anne-Marie gesagt.

Und Anne-Marie antwortete lachend: »Der Hafen muß aber auch einen Namen haben. Und wir nennen ihn einfach: Cayrú!« (Cayrú heißt auch heute noch jene Stelle an der Bucht, wo die Warenspeicher stehen und die Mole sich für den alle acht Tage hier anlegenden Flußdampfer befindet.)

Anne-Marie band die Paddel los, die unter einer Matte auf dem Boden des Bootes befestigt waren, schüttelte Spinnen, Käfer und Ameisen aus dem Bastgeflecht heraus und löste den Knoten des Seiles. Dann drückte sie das Boot mit einem Paddel aus dem Graben heraus und steuerte in das offene Wasser. Der hauchdünne Nebel hob sich vor ihrem Gesicht, das sich spiegeln wollte. Die Strömung blänkerte, und die Fische machten Luftsprünge.

Sie fuhr ab, und es war haargenau die Richtung nach der Insel. Nach zwanzig Metern aber riß sie mit einem Male das Fahrzeug links herum und fuhr nach der Bai.

Als sie die Rohrhütte der India Mayahua gesichtet hatte, zwängte sie sich durch das Geschling der Wasserpflanzen geradenwegs auf die Behausung der India zu. Und erst als sie dem Ufer auf drei-, vierhundert Meter sich genähert hatte, sah sie Cayrú auf einem großen Stein hocken und an einer Matte flechten. Er war so vertieft in seine Arbeit, daß er das Plätschern der Paddel und das Schleifen des Bootes durch die schwimmenden Gewächse nicht hörte. Anne-Marie dachte: Ich werde nicht rufen. Er soll sich, wenn ich bis dicht an den Stein heranfahre, so erschrecken, daß ihm die Matte aus den Händen ins Wasser fällt. Und ich fische sie dann heraus. Und wenn ich sie ihm wiedergebe, dann muß er mir … Im gleichen Augenblick aber erschrak sie auch schon vor dem, was sie sich von Cayrú zur Belohnung gewünscht hatte. Und sie wurde knallrot im Gesicht.

Schließlich wurde Cayrú auf die Bewegung im Wasser aber doch aufmerksam. Als er den Kopf hochhob, war das Erschrecken zwar groß in ihm, aber er hielt die Matte fest, er hob sie mit beiden Händen in die Höhe und winkte. Und dann legte er die Arbeit beiseite, watete durch das Wasser, das ihm zuletzt bis zum Bauchnabel reichte, und zog das Boot heran. Er bückte sich, und über seinen nackten, blanken Rücken hinweg spazierte Anne-Marie bis zum nächsten Stein. Und der Stein lag schon ein ganzes Stück weit auf dem Ufer.

Cayrú zog das Boot bis zur Hälfte aus dem Wasser und klemmte die Spitze mit zwei Steinen fest, die er aus der lockeren, schwarzen Erde herauskratzte.

Anne-Marie setzte sich auf eine dicke, aus der Erde heraufquellende Baumwurzel und betrachtete die Matte, an der Cayrú geflochten hatte. Das Material bestand aus den zwirnsfadendünnen Fasern der wilden Ananas. Die Naturfarbe des Bastes war von einem hanfähnlichen Graugrün. Dazwischen lagen rot- und blaugefärbte Fäden und bildeten in dem schon geflochtenen Teil ein spitzwinklig auslaufendes Streifenmuster.

Anne-Marie hatte geglaubt, daß Cayrú sie fragen würde, ob dieser plötzliche Besuch nur Zufall oder Absicht sei. Cayrú aber stand noch immer neben dem Boot und entfernte vom Bug ein ganzes Nest der großen, schwarzen Schnecken, deren hellgelber Saft von den Indios zum Färben der Vicuñawolle benutzt wird. Als sie die Augen von der Matte wieder hochhob und nach Cayrú hinsah, bemerkte sie erst jetzt, daß er am linken Knie einen Verband aus Schilfblättern trug, und sie dachte: Wenn ich ihn jetzt frage, was dieser Verband zu bedeuten hat, wird er mir doch wohl antworten müssen. Oder sollte er böse sein, weil ich ihn nicht angesprochen habe, als er auf dem Fest ganz dicht an unserem Versteck vorüberging und zuerst meinen Vater sah und dann auch mich?

»Was hast du am Bein, Cayrú?«

»Nichts … nichts!«

»Nichts?«

»Nein. Das ist nur von einem Raya.«

»Ich weiß nicht, was das ist: ein Raya. Ein Wurm? Eine Schlange? Oder ein anderes Tier?«

»Ein Fisch.«

»Ein Fisch von hier aus dem Wasser?«

»Nein, hier nicht, auf der anderen Seite, wo der weiße Sand ist und die Bromelien.«

»Ein Fisch im Sand? Ein toter Fisch …«

»Warte, ich hol dir einen Raya.«

Und während Anne-Marie wieder die kunstvolle Flechtarbeit der Matte betrachtete, lief Cayrú ein Stück der Kurve, die das Ufer der Bucht an dieser Stelle beschrieb, herum und suchte im Sand nach einem in den kleinen Tümpeln bewegungslos liegenden Raya.

Atemlos kam er wieder zurückgelaufen und zeigte Anne-Marie getöteten Rochen, dessen giftiger scharfer Schwanzstachel ihm die böse Wunde am Knie beigebracht hatte.

»Huuuuu … ist das aber ein häßlicher Fisch! Und solch einer hat dich gebissen, Cayrú?«

»Nicht gebissen … hier, diesen Pfeil hat er abgeschossen. Und der Pfeil ist giftig. Die Schilfblätter aber ziehen das Gift wieder heraus. Wird acht Tage dauern.«

Er zeigte ihr an dem Fisch den knochenharten Schwanzstachel und erklärte ihr auch, weshalb der Stachel zufällig gerade das Knie verwundet hatte und nicht die Fußsohle, wie es in den meisten Fällen geschieht, wenn jemand von einem Raya angefallen wird.

»Du hast wohl in der Sonne gelegen und geschlafen, Cayrú?«

»Nicht geschlafen im Sand, das ist nicht gut. Ich habe gesucht, die flachen, weißen Steine, die wie der Mond glänzen.«

»Ach, das sind wohl die schönen, blanken Steine, wovon du mir einmal eine Halskette machen wolltest?«

»Ich werde bald eine Kette machen, dreimal um den Hals herum.«

»Du wirst sie für das Mädchen machen, mit der du getanzt hast …?«

»Nicht für das Mädchen …«

»Dann für deine Mutter, nicht wahr?«

»Nein, auch nicht für die Mutter. Für später werde ich aus weißen Steinen die Kette machen.«

»Wenn wieder einmal ein Tanz sein wird, meinst du? Du warst ein guter Tänzer.«

»Du hast mich gesehen?«

»Natürlich habe ich dich gesehen. Es war ein schönes Mädchen, mit dem du getanzt hast.«

»Kein schönes Mädchen!«

»Vielleicht waren noch schönere da … ich weiß nicht. Aber euer Tanz hat mir gefallen.«

»Du möchtest auch tanzen?«

»Mit dir ganz allein … vielleicht möchte ich tanzen. Ich muß es aber erst noch lernen. Willst du mir den Tanz noch einmal vormachen?«

»Es ist jetzt kein Mond zum Tanzen.«

»Es soll ja auch nicht jetzt sein, Cayrú. Später einmal, wenn du dein Kanu fertig hast und wir nach der Insel herüberfahren. Auf der Insel ist ein schöner Platz zum Tanzen. Und es braucht dazu auch nicht der Mond zu sein.«

»Mein Kanu ist bald fertig. Fehlt bloß noch die rote Farbe für die Paddel. Wenn die Paddel aber und die Matte fertig sind und ich nach der Insel gefahren bin … wirst du nicht auf der Insel sein …«

»Weshalb soll ich nicht auf der Insel sein? Wir haben es doch so verabredet.«

»Du wirst auf der Insel sein, aber nicht, wenn ich auf der Insel bin. Du wirst nicht sein …«

»Du bist dumm, Cayrú!« lachte Anne-Marie. Und dann wieder in einem ganz ernsten Ton: »In der letzten Zeit bin ich überhaupt nicht nach der Insel gefahren, weil ich dort nicht mehr allein sein mag. Und von meinen Leuten will niemand mitfahren. Ein großes Gürteltier läuft auf der Insel herum, davor habe ich Angst, verstehst du? Wenn du aber mit mir kommst, dann habe ich keine Angst mehr.«

Er sah Anne-Marie lange an und war wieder der Verwunderung voll über das lange Wimpernhaar ihrer Augen. Es wollte ihm nicht eingehen, wie bei diesem Mädchen die zarten Haarfasern so lang wachsen konnten. Und dann sah er ihren Mund und erschrak darüber, daß diese Lippen sich einmal mit den seinen vermischt hatten, als seine Arme sich um ihren Nacken legten und das heißklopfende Blut von dem einen Körper zu dem anderen wollte. Er wußte jetzt, welche Gefühle davon ausgelöst werden. Er hatte es in jener Hochzeitsnacht erfahren, als man die Kakteenblüte tanzte. Das Mädchen, das im Tanz seine Partnerin war, hatte aber nicht das Gesicht Anne-Maries, und der Geruch ihres harten und zottigen Haares war ein anderer. Und auch das Licht ihrer Augen war ein ganz anderes.

Aus der Rohrhütte steckte Mayahua den Kopf und rief Cayrú. Er drehte sich um, nickte und blieb bei Anne-Marie stehen.

»Ach … deine Mutter ist zu Hause?« fragte sie erstaunt.

»Ja … ist heute zu Hause«, antwortete er.

»Oh … und deine Mutter geht nicht mehr über Land, Krebse verkaufen?«

»Sie wird morgen wieder gehen, Fische und Krebse verkaufen.«

»Deine Mutter hat dich gerufen, weshalb gehst du nicht hin zu ihr? Man darf eine Mutter nicht warten lassen. Warte nicht meinetwegen! Ich kann hier auch allein sitzen. Schön ist diese Bucht. Schön! Ich werde noch ein Weilchen hierbleiben. Lauf schnell, deine Mutter wartet!«

Cayrú ging nach der Hütte und hörte sich an, was die Mutter von ihm wollte, und bald kam er wieder zu Anne-Marie zurück.

»Ist deine Mutter böse, daß ich hier bin?«

»Nein … sie freut sich.«

»Ich will aber nicht, daß du meinetwegen etwas versäumst.«

»Man hat gefragt, ob du etwas essen möchtest.«

»Deine Mutter hat gefragt?«

»Ja, du möchtest etwas essen.«

»Ich habe aber schon gegessen.«

»Es könnte meine Mutter kränken, wenn du nichts ißt. Man hat Muscheln. Man hat Krebse. Es ist auch Hirse da und Honig.«

»Wenn ich etwas essen muß, um deine Mutter nicht zu kränken … gut, ich werde essen. Vielleicht möchten es die kleinen runden Kuchen sein, die uns in der Hochzeitsnacht der Huacua gebracht hat. Er sagte: deine Mutter hätte diese Kuchen gebacken.«

»Das waren Chamaruñas.«

»Gut haben sie mir geschmeckt!«

»Man wird dir Chamaruñas backen.«

»Dann will ich aber zusehen, wie man sie bäckt. Und wenn es nicht zu umständlich ist, dann kann ich mir auch zu Hause Chamaruñas backen. Gut haben sie mir geschmeckt.«

»Kannst zusehen, komm!«

Anne-Marie ließ Cayrú erst ein ganzes Stück weit gehen, ehe sie hinterherschlenderte. Bei einem wilden Myrtenstrauch, der auf dem Vorplatz neben den Mahlsteinen stand, blieb sie stehen und war mit einem Male befangen. Und nicht weniger befangen war auch Mayahua, auf die Cayrú erst eine ganze Weile einreden mußte, ehe sie sich entschloß, die Hütte zu verlassen und Anne-Marie auf indianische Art zu begrüßen. Und Anne-Marie ahmte, in einer komisch wirkenden Verrenkung, den Gruß nach und streckte dazu noch die Hand aus.

»Wir werden hier draußen die Chamaruñas backen!« sagte Cayrú. Er holte ein Fell aus der Hütte und breitete es auf der Erde aus, neben dem Myrtenstrauch, damit Anne-Marie sich setze.

Mayahua ging wieder in die Hütte zurück, tat Mandiokamehl in eine Kalebasse, geröstete Manis, getrocknete Blüten vom Zimtbaum, Honig und Muschelfleisch. Sie kam und zeigte Anne-Marie die einzelnen Teile. Dann hockte sie sich auf die Erde und knetete den Teig so lange in der hölzernen Schüssel, bis er nicht mehr klebte.

Und während Cayrú in einem Kreis aus Steinen einen kleinen Reisighaufen schichtete und Feuer rieb, erhob sich Mayahua von der Erde, streifte sich das bunte Kattunjäckchen vom Oberkörper, bog ihn nach rückwärts und walkte auf der blanken dunkelbronzenen Haut ihres Leibes den Teig mit beiden Händen in einem emsigen Klopfen und Kneten, Langziehen und Zusammenfalten, als bearbeite sie auf den Steinen im Wasser ein Wäschestück.

Anne-Marie sah mit groß aufgerissenen Augen und offenem Mund zu. Sie konnte es sich nicht erklären, weshalb es gerade der Bauch sein mußte, der der indianischen Frau als Walkbrett diente. Und sie überlegte, ob man diese Art von Teigbearbeitung auch in der Küche anwenden dürfe, wo ein breites Walkbrett und ein Mangelholz vorhanden sind. Und daß es schon ein sehr breiter und steinharter Bauch sein müsse, diese sonderbare Prozedur auszuhalten.

Nein … diese Kuchen würde sie zu Hause wohl doch nicht backen können … überlegte sie.

Fast zehn Minuten hatte Mayahua an dem Teig herumgewalkt. Das Wasser lief ihr das Gesicht und den Hals hinunter und feuchtete den Bauch. Dann warf sie den Teig wieder in die Kalebasse zurück und formte kleine, runde Bälle daraus, steckte sie auf einen Spieß aus Hartholz und drehte ihn, an dem immer sechs solcher Teigbälle hingen, so lange auf dem offenen Feuer, bis die Kuchen das Aussehen von faulen Orangen hatten.

So heiß, wie man die Kuchen vom Spieß herunternahm, mußten sie auch gegessen werden. Als Anne-Marie den ersten Ballen aufbrach, war er so locker wie ein Hefebrötchen und blättrig wie Buttergebäck. Der Dampf, der herausquoll, verbreitete ein unbeschreiblich würziges Aroma, das rührte von der Zimtblüte her, von Tongabohnen, vom Saft der wilden Ananas und dem Bittermandelgeruch der Mandioka.

Nachdem Anne-Marie drei Chamaruñas vertilgt hatte, war sie satt davon bis oben hin. Die Kuchen hatten ihr aber so vortrefflich geschmeckt, daß sie nicht nein sagte, als Cayrú meinte: »Man wird dir ein paar Chamaruñas ins Boot legen. Kannst sie morgen essen. Morgen schmecken sie dir noch besser.«

Mayahua drehte den Spieß und steckte dabei einen Chamaruña nach dem anderen in den Mund. Anne-Marie aber war nicht mehr dazu zu bewegen, auch nur noch einen halben Chamaruña zu vertilgen.

Cayrú suchte ein paar frische Bärlappblätter, wickelte ein Dutzend von den kleinen Kuchen hinein und legte das Bündel ins Boot. Anne-Marie sah zu, wie es der India schmeckte. Und immer wieder sah sie nach dem Bauch, der so spiegelglatt glänzte, wie von einem wasserklaren Lack überzogen. Sie betrachtete auch die Brüste, die wie längliche Melonen, oder besser noch gesagt: wie die kakaobraunen Fruchtflaschen des Palo borracho schlaff auf den Leib herunterhingen. Sie dachte dabei an ihre eigenen kleinen, runden Äpfel, die sie oft vor dem Spiegel betrachtet hatte. Und jetzt fragte sie sich, ob diese Äpfelchen später auch einmal so häßlich aussehen würden. Sie mußte sich schütteln bei diesem Gedanken. Schön aber, sagte sie sich, ist diese kupfrige Haut, schön sind diese großen, tiefen und nachtdunklen Augen. Und dann gefiel ihr auch noch jene Kette aus schwarzen Perlmutterplättchen, die die India um den Hals trug.

»Jetzt wird man Chicha trinken!« sagte Cayrú. Er ging in die Hütte und kam mit einer schweren, zweihenkligen Amphore zurück.

Zwei Henkel hatte das schwarzglasierte Gefäß und einen langen Schnabel, aus dem man sich die Chicha direkt in den Mund laufen lassen konnte. Mayahua machte den Antrunk, dann hob Cayrú das Geschirr an den Mund und reichte es Anne-Marie.

Anne-Marie betrachtete zuerst voller Neugier die erhabenen Ornamente an dem Gefäß, welche reife Maiskolben darstellten und strömenden Regen, die Symbole des Überflusses, die der gute und gerechte Wille der Mutter Sonne austeilt, für jeden genug und jedem gleich viel.

Die Chicha behagte Anne-Marie. Das Getränk war säuerlich und kühl und löschte den Durst, den die süßen und aromatischen Chamaruñas verursacht hatten. Sie hob die Amphore zweimal empor und trank. Dann betrachtete sie wieder das Figurenwerk und fragte Cayrú, wo man solche Töpfe kaufen könne.

»Nicht kaufen solche Töpfe«, antwortete Mayahua für Cayrú und nahm die Amphore wieder an sich. »Solche Töpfe nur Indios machen, weit von hier, im tiefen Wald.«

»In diesem Wald habt ihr früher gewohnt?«

»Nichts mehr wissen von dem Wald. Weit fort. Sehr lange her.«

Der Abend brach schon aus den Wäldern herauf, als Anne-Marie erschrocken hochfuhr und sich wunderte, wohin die Zeit so schnell verflogen war.

Sie sagte Mayahua auf Guarani danke schön für die Bewirtung und auf Wiedersehen und bat Cayrú, daß er sie im Boot bis zum Ausgang der Bucht begleiten möchte. Sie überließ Cayrú auch die Ruder. Und als sie schon ein Stück auf dem Wasser waren, fragte sie ihn, ob er sich über den unverhofften Besuch gefreut habe.

»Ich habe gewartet.«

»Du hast aber nicht an der Agave gewartet.«

»Es ist schon lange her, daß du nicht mehr an der Agave vorübergegangen bist.«

»Vielleicht werden wir uns bald wieder des öfteren sehen, Cayrú.«

»Ich möchte wieder auf dem Hof sein, bei den Mulas.«

»Mein Vater wird dich auch nicht mehr fortjagen, glaube ich.«

»Hat dein Vater dir das gesagt?«

»Gewiß, einmal hat er das schon gesagt. Und ich werde nächstens wieder mit ihm darüber sprechen.«

»Ich wollte auch mit ihm sprechen.«

»Geh morgen auf das Feld, wo die Baumwolle wächst! Vielleicht wird mein Vater dort sein.«

»Und wann werden wir wieder nach der Insel fahren?«

»Bald … Cayrú … bald werden wir fahren.«

Lange, feurige Ranken zogen die Paddel aus dem Wasser der Bucht herauf. Das Boot streifte das Schilf und wurde von einem goldgelben Mehl bestäubt. Die Iris blühte und die Wasserorchidee. Und an der Weide, die den letzten Knick der Bucht abschloß, gab Cayrú die Paddel wieder an Anne-Marie zurück. Er berührte mit seiner Stirn ihre Hand und sprang auf die Barranca.

Als Anne-Marie das Boot an der Anlegestelle festmachte, hörte sie den Ruf des Wasserfalken. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf. Sie blieb noch eine ganze Weile am Ufer stehen. Das dichte Laubwerk der Bäume, in dem die kleinen, schwarzen Nachtaffen schon mit ihrem unausstehlichen Lärm begannen und die grellbunten Papageien sich einfügten mit ihrem heiseren Gekrächz, hing tief auf den Wasserspiegel hinab, und die Schatten färbten das Gesicht Anne-Maries violett.

Niemand von den Leuten zu Hause wunderte sich über das lange Ausbleiben Anne-Maries. Ein paar Indios standen auf dem Hof herum und boten eine schneeweiße Mula zum Kauf an. Es waren fremde indianische Leute, von einem Stamm, der in den geschlossenen Siedlungen in den Wäldern des Rio Ivahy hauste und sich nur selten bis in diese Gegend hinunter verirrte. Die Leute sprachen nur wenig Worte Guarani; der indianische Dialekt, der ihre eigentliche Umgangssprache war, hatte mehr mit dem Quechua eine Verwandtschaft. Dennoch wußte sich der Peon Pablo mit ihnen zu verständigen. Sie hatten ganz helle Gesichter mit einem Hauch goldbrauner Patina, und ihre guttural schleifenden Worte, mit denen sie die Seltenheit und die besonderen Vorzüge des Tieres anpriesen, klangen wie ein sehnsüchtiges Lied, obwohl es doch eine ganz reale Angelegenheit war, die sie noch vor dem Einbruch der Nacht zum Abschluß bringen wollten.

Friedrich Coßmann hatte das Tier genau untersucht. Es besaß keine Eigentumsmarke, jenes in das Fell hineingebrannte Zeichen, womit die Besitzer der Tiere sich vor Diebstählen schützen. Vielleicht hätte der Kolonist das Tier doch nicht gekauft, obwohl der Preis in einem schroffen Gegensatz zu der Schönheit der Mula stand. Anne-Marie gefiel aber dieses gleich zu ihr zutrauliche Tier, und nur ihr zuliebe nahm er es den Indios ab.

Nach dem Abendessen, unter dem Surren der Insekten um die abgeschirmte Lampe, erzählte Friedrich Coßmann endlich seiner Frau das Erlebnis der indianischen Hochzeit. Als die Frau aus der warmen Rundung ihres ganz und gar mütterlichen Gesichts erst die Augen zu Anne-Marie hinübergleiten ließ und den Ausdruck der für dieses Kind schon viel zu scharfen Züge prüfte und schließlich das zu verstehen glaubte, was in dem Gefühl der Tochter vorging, wurde sie glührot bis unter ihr schon ein wenig grauschimmerndes Haar.

Und als das Mädchen sich jetzt auch noch erhob und, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, am Bücherbrett stand, wurde es ihr zur Gewißheit, daß die Natur jetzt den Umbruch in dem Wesen des Kindes vollzogen hatte.

Die Gedanken nahmen ihr viel vom Schlaf in dieser Nacht. Sie grübelte nach, was man tun müsse, um Anne-Marie davor zu bewahren, daß sie in die Irre lief und strauchelte, hier, wo die Natur sich oft in jähen Kurven vorwärts bewegte, unberechenbar war und sich jeder Bändigung entzog, wenn die Säfte der Erde hochstiegen, sich auszurasen.

Vor dem weit offenen, gegen das Geziefer mit einem haarfeinen Netzwerk aus Messingdraht geschützten Fenster standen die Bäume und Sträucher des Gartens hart und finster unter dem tief und schräg liegenden Kreuz des Südens.

Plötzlich fielen, metallisch klingend, die Regentropfen. Zuerst wenige und in Pausen, so daß man zuerst glauben mußte, es polterten die noch unreifen kleinen Mandarinen von den Bäumen ins Kraut. Mit der Zeit aber wurde das zögernde Anklopfen bestimmter und dringender und die Intervalle kürzer. In breiten Wellen strömte die Kühle in das Zimmer und beruhigte die fiebernde Aufgeregtheit der Gedanken dieser Mutter, deren Blut mit dem der rinnenden Säfte unter den Wurzeln eins geworden war, in dem Augenblick, als der Regen sich ausschüttete wie ein Strom, der den Damm übersteigt und alles fließen macht: Baum, Tier und Gestein.

Als das Licht der Frühe durchzubrechen versuchte, das Getier unruhig machte und die letzten Schlafminuten der Menschen schwer von verworrenen, schreckhaften Traumbildern, lag die Mutter immer noch wach, bis die niedrig schwebenden Wolken unter dem gelben Licht sich dahinwälzten in einer ungewissen, dennoch Ewigkeit gebietenden Bewegung.


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