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1. Wenn man etwa aus dem Umstande, daß Sokrates behauptete, die Gottheit gebe ihm Andeutungen darüber, was er thun oder lassen sollte, und doch von seinen Richtern zum Tode verurtheilt wurde, folgern wollte, daß er in Betreff der Gottheit einer Lüge schuldig sei, der bedenke fürs erste, daß er schon damals in einem Alter war, wo er, wenn auch nicht jetzt schon, doch bald darauf hätte sterben müssen; ferner, daß er dem beschwerlichsten Theile des Lebens, in welchem bei allen Menschen die Geisteskräfte abnehmen, entging und dafür durch die Beweise von Seelenstärke, die er gab, noch an Ruhm gewann, indem er bei seiner Verteidigung vor Gericht, wie noch kein anderer, auf das Wahrste, Freimütigste und Gerechteste sprach und sein Todesurtheil auf das Gelassenste und Mannhafteste ertrug.
2. Denn das ist allgemein anerkannt, daß in der ganzen Geschichte sich kein Beispiel findet, wo einer den Tod in würdigerer Weise ertragen habe. Er mußte nämlich nach dem Ausspruche des Todesurtheils noch dreißig Tage am Leben bleiben, weil gerade das Delische Fest Nicht zu verwechseln mit der III, 3, 12 erwähnten alle vier Jahre stattfindenden Feier. Die hier genannten Delien wurden alle Jahre gefeiert zum Andenken an den Zug des Theseus nach Kreta, durch den Athen von dem schmählichen Tribut der sieben Knaben und sieben Mädchen befreit wurde. Vgl. Pausanias I, 27; Diodor IV, 61; Platon Phädon (Univ.-Bibl. Nr. 979) Kap. 1; Hermann, Griech. Ant. II, 60, 14. in jenem Monate war, und gesetzlich niemand hingerichtet werden darf, bis die Festgesandtschaft von Delos zurückgekehrt ist. Und während dieser ganzen Zeit waren alle seine Freunde Zeugen, daß er sich nicht im mindesten im Vergleich zu seinem frühern Leben veränderte; und doch war er von jeher, wie kein anderer Mensch, wegen seines fröhlichen und heiteren Sinnes bewundert worden.
3. Und wie könnte wohl einer schöner als so sterben? Oder welcher Tod könnte schöner sein, als ein solcher, bei dem man auf die schönste Weise stirbt? Und welcher Tod könnte wohl glücklicher sein, als der schönste? Und welcher endlich eine größere Gnade der Götter, als der beseligendste?
4. Auch will ich erzählen, was ich von Hermogenes, Anm. 38 zum zweiten Buche. dem Sohne des Hipponikos, über ihn gehört habe. Als nämlich Meletos bereits seine Anklage gegen Sokrates erhoben hatte, und Hermogenes ihn über alles andere, nur nicht von seinem Processe reden hörte, soll ihn dieser daran erinnert haben, auch an seine Verteidigung zu denken. Scheint dir nicht, sagte Sokrates, daß ich hierauf mein ganzes Leben bedacht gewesen bin? Als jener ihn aber fragte, wie er das meine, sagte er ihm, daß er sein Leben lang nichts anderes gethan habe, als Betrachtungen angestellt über das Gerechte und Ungerechte, daß er das Gerechte geübt, dagegen das Ungerechte vermieden habe; und dies halte er für die schönste Vorbereitung zu seiner Vertheidigung. –
5. Darauf sagte Hermogenes: Siehst du nicht, Sokrates, daß die Richter in Athen schon oft durch ein Wort sich haben verleiten lassen, Unschuldige zu verurtheilen, und andere, die wirklich schuldig waren, freizusprechen? – Ich hatte auch in der That, sagte Sokrates, schon damit angefangen, über eine Vertheidigungsrede vor den Richtern nachzudenken, allein die Gottheit war dagegen. –
6. Sonderbares redest du, sagte Hermogenes. – Du wunderst dich, sagte Sokrates, wenn es die Gottheit für besser hält, daß ich jetzt mein Leben beende? Weißt du nicht, daß ich bis auf den heutigen Tag keinem Menschen einräumen würde, daß er besser und angenehmer als ich gelebt habe? Denn am besten, glaube ich, leben diejenigen, die am meisten sich's angelegen sein lassen, immer besser zu werden, und niemand angenehmer, als die, welche lebhaft fühlen, daß sie besser werden.
7. Und im Verlaufe meines Lebens merkte ich an mir selbst, daß mir ein solches Leben zu Theil geworden sei, und auch wenn ich mit andern zusammenkam und mich mit ihnen zusammenstellte, habe ich stets diese meine Ansicht bezeugt gefunden. Und nicht allein ich, sondern auch meine Freunde urtheilen beständig so über mich, nicht weil sie mich lieben, denn sonst würden auch die, welche andere lieben, so über diese ihre Freunde urtheilen, sondern weil sie nur durch ihren Umgang mit mir besser werden zu können glauben.
8. Würde ich noch länger leben, dann müßte ich vielleicht dem Alter seinen Tribut bezahlen: Gesicht und Gehör, Verstand, Fassungsvermögen und Gedächtnis würden schwächer werden, und ich würde hinter denen zurückstehen, welchen ich bis jetzt voraus war. Hätte ich hiervon kein Bewußtsein, dann fürwahr wäre mein Leben nicht des Lebens werth, hätte ich aber ein Bewußtsein davon, wie könnte ich dann anders, als schlechter und unangenehmer leben?
9. Wenn ich aber unschuldig sterben sollte, so wird allerdings diejenigen, die mich ungerechter Weise hinrichten lassen, Schande treffen; (denn wenn überhaupt Ungerechtigkeit eine Schande ist, wie sollte da nicht auch jede ungerechte Handlung eine Schande sein?) Von mehreren Herausgebern mit Recht für unecht gehalten Aber wie kann es mir Schande bringen, wenn andere nicht die Kraft besitzen, in meiner Angelegenheit gerecht zu denken und zu handeln?
10. Sehe ich doch, daß diejenigen aus früheren Zeiten, welche sich Ungerechtigkeiten erlaubten, bei der Nachwelt nicht in demselben Andenken stehen, wie die, welche Ungerechtigkeiten erduldeten; und ich glaube daher zuversichtlich, daß auch ich, selbst wenn ich jetzt sterben muß, nicht einer gleichen Beurtheilung ausgesetzt bin, wie diejenigen, welche mich zum Tode verurtheilt haben, denn ich weiß, daß man mir bezeugen wird, daß ich nie einem Menschen Unrecht zugefügt und keinen schlechter gemacht, wohl aber unablässig mich bemüht habe, meine Freunde besser zu machen. So sprach Sokrates mit Hermogenes und andern.
11. Und wer ihn kannte, wie er war, und wer nach Tugend strebte, der fühlt noch jetzt in sich die lebhafteste Sehnsucht nach ihm, als dem kräftigsten Beistände auf dem Tugendwege. Mir schien besonders sein Geist und Charakter, wie ich ihn geschildert, seine Gottesfurcht, die ihn nichts ohne die Zustimmung der Götter thun ließ, seine Gerechtigkeit, nach der er keinem auch nur im geringsten schadete, vielmehr allen, die mit ihm verkehrten, die größten Dienste leistete, seine Selbstbeherrschung, die ihn nie das Angenehme dem Besseren vorziehen ließ, sein scharfer Verstand, mit dem er niemals in der Veurtheilung des Besseren und Schlechteren irrte, auch keines andern Hilfe dazu nöthig hatte, sondern in der Erkenntnis dieser Dinge sich selbst genug war, und auch die Fähigkeit, seine Gedanken andern mitzutheilen und die Begriffe scharf zu bestimmen, sowie auch andere hierin zu prüfen, und wenn sie fehlten, zu überführen und sie auf den Weg der Tugend, des Schönen und Guten zu leiten – – dieser sein Geist und Charakter schien mir wenigstens das Musterbild des besten und glücklichsten Mannes zu sein. Und wer dies bezweifeln sollte, der mag hiermit den Charakter eines andern vergleichen und dann sein Urtheil abgeben.