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1. Daß Sokrates aber nach meiner Meinung seinen Freunden thatsächlich nützte, theils indem er ihnen durch die That zeigte, wie er selbst war, theils auch, daß er sich mit ihnen unterredete, davon will ich jetzt die Beispiele niederschreiben, so viele mir von denselben im Gedächtnis geblieben sind.
Hinsichtlich seines Verhaltens in göttlichen Dingen handelte und redete er bekanntermaßen wie die Pythia Pythia war die Priesterin des Appollon zu Delphi, welche die Orakelsprüche auf einem Dreifuß sitzend ertheilte. denen antwortet, welche bei ihr anfragen, wie man es entweder mit einem Opfer oder mit der Verehrung der Vorfahren oder irgend einer andern Handlung der Art halten müsse.
Denn die Pythia giebt ihnen den Bescheid, wenn sie es damit nach dem Gesetze des Staates halten, dürften sie es auf die gehörige Weise damit halten; und auch Sokrates befolgte dies nicht nur selbst so, sondern empfahl es auch andern; von denjenigen aber, welche es anders hielten, glaubte er, sie seien Leute von übertriebener Sorgfalt und Thoren.
2. Er betete aber auch zu den Göttern, einfach ihm zu geben, was gut sei, da ja die Götter am besten wüßten, was gut sei; Valerius Maximus VII, 2: Socrates – nihil ultra petendum a dis inmortalibus arbitrabatur, quam ut bona tribuerent, guia ii demum scirent, quid unicuique esset utile, nos antem id plerumque votis expetere, quod non inpetrasse melius foret (Sokrates war der Meinung, man dürfe nichts weiter von den unsterblichen Göttern erbitten, als daß sie uns Güter ertheilten, weil sie nur wüßten, was einem jeden nützlich wäre, wir hingegen meistentheils nur um das bäten, was nicht zu erlangen uns besser wäre). diejenigen dagegen, welche um Gold, Silber, Herrschergewalt oder dergleichen bitten, meinte er, bitten um nichts Besseres, als wenn sie um ein Spiel mit Würfeln, um eine Schlacht oder sonst etwas von dem bitten würden, dessen Ausgang sich durchaus nicht voraussehen läßt.
3. Bei den Opfern aber glaubte er, wenn er kleine von seiner geringen Habe darbrachte, nicht hinter denen zurückzustehen, welche von vielen und großen Besitzthümern viele und große Opfer darbringen. Denn weder den Göttern, meinte er, würde es gut anstehen, wenn sie an den großen Opfern mehr Gefallen als an den kleinen hätten – sonst müßten ihnen ja die Opfer der Bösen wohlgefälliger als die der Guten sein – , noch würde für die Menschen das Leben von Werth sein, wenn wirklich die Opfer der Bösen den Göttern wohlgefälliger als die der Guten wären. Er glaubte vielmehr, daß die Götter an den Gaben den größten Wohlgefallen hätten, welche ihnen von den Gottesfürchtigsten erwiesen werden, und er lobte folgenden Spruch: Hesiod, Werke und Tage V. 336.
»Thu' nach Vermögen, wenn Opfer du bringst den unsterblichen Göttern!«
Und auch beim Verhalten gegen Freunde und Gastfreunde sowie im übrigen Leben, sagte er, sei es ein schöner Spruch: »Thue nach Vermögen.«
4. So oft ihm aber schien, daß ihm von den Göttern eine Andeutung gegeben werde, so hätte er sich weniger überreden lassen, gegen diese Andeutung zu handeln, als wenn ihn jemand hätte überreden wollen, einen Blinden und des Weges Unkundigen statt eines Sehenden und Kundigen zum Wegweiser zu nehmen. Und auch anderen warf er ihre Thorheit vor, wenn sie etwas gegen die Andeutungen der Götter thäten, um dem üblen Rufe bei den Menschen zu entgehen. Er selbst aber achtete alles Menschliche gering gegen den Rath der Götter.
5. Hinsichtlich seiner Lebensweise hatte er Leib und Seele an eine solche Ordnung gewöhnt, bei welcher einer, wenn nicht etwas Außerordentliches eintritt, sorglos und sicher leben könnte, ohne wegen der Mittel dazu in Verlegenheit zu sein. Denn er lebte so sparsam und einfach, daß ich nicht weiß, ob jemand sich so wenig erarbeite, daß er nicht so viel bekäme, als für Sokrates hinreichend war. Denn Speise nahm er nur soviel zu sich, als er mit Lust aß, und zum Essen kam er stets so vorbereitet, daß der Hunger nach Speise ihm Zukost war. Als Getränk schmeckte ihm alles, weil er nie trank, außer wenn er Durst hatte.
6. Entschloß er sich aber einmal, auf erhaltene Einladung ein Gastmahl zu besuchen, so war ihm das, was für die meisten sehr mühevoll ist, nämlich sich vor Ueberfüllung zu hüten, etwas ganz Leichtes. Denjenigen aber, die dies nicht vermochten, gab er den Rath, sich vor den Speisen und Getränken in acht zu nehmen, die zum Essen verlocken, ohne daß man Hunger, und zum Trinken, ohne daß man Durst habe, denn das wären die Dinge, welche Magen, Kopf und Geist zu Grunde richteten.
7. Und er glaube, setzte er scherzend hinzu, auch Kirke Homer, Odyssee X, 229 ff. habe dadurch die Leute zu Schweinen gemacht, daß sie ihnen vieles vorgesetzt habe, Odysseus aber sei darum nicht zum Schweine geworden, weil er auf die Warnung des Hermes und aus eigener Enthaltsamkeit sich vor dem übermäßigen Genusse der Speisen gehütet habe. So scherzte er hierüber, während er im vollen Ernste redete.
8. Hinsichtlich des Liebesgenusses rieth er seinen Freunden, den Umgang mit schönen Mädchen streng zu meiden, denn es sei nicht leicht, sagte er, mit solchen sich einzulassen und besonnen zu bleiben. Und als er einmal erfahren hatte, daß Kritobulos, Kritobulos ist auch II, 6, 1 ff. als Mitunterredner des Sokrates erwähnt. – Nach Xenoph. Sympos. IV, 12 liebte Kritobulos des Axiochos Sohn, den Kleinias, d. i. des Alkibiades Vaters Bruders Sohn. des Kriton Sohn, den Sohn des Alkibiades, einen schönen Knaben, geküßt habe, richtete er in Gegenwart des Kritobulos folgende Frage an Xenophon:
9. Sage mir, Xenophon, glaubtest du nicht, Kritobulos gehöre eher unter die verständigen Menschen als unter die wilden, und eher unter die vorsichtigen als unter die thörichten und tollkühnen? – Allerdings. – Jetzt also halte ihn für den Hitzigsten und Verwegensten; er wäre im Stande, sich kopfüber in Schwerter zu stürzen und ins Feuer zu springen. –
10. Und was hast du denn von ihm gesehen, daß du auf einmal so von ihm urtheilst? – Hat er denn nicht gewagt, den Sohn des Alkibiades zu küssen, der ein so schönes Gesicht hat und in der besten Jugendblüte steht? – Wahrhaftig, wenn das eine tollkühne That ist, so denke ich, würde auch ich dieses Wagestück überstehen. –
11. Und wie glaubst du, Unglückseliger, daß es dir nach einem solchen Kusse eines Schönen ergehen werde? Glaubst du nicht, daß du sofort ein Sklave würdest statt eines Freien, großen Aufwand für verderbliche Freuden machen und gar keine Zeit haben würdest, dich um etwas Gutes und Edles zu kümmern, und dagegen genöthigt wärest, dich mit Dingen zu befassen, mit denen sich nicht einmal ein Verrückter befassen würde? –
12. Beim Himmel, welch' furchtbare Gewalt legst du da dem Kusse bei, sagte Xenophon. – Und du wunderst dich darüber? Weißt du nicht, daß die Giftspinnen, die nicht einmal so groß wie ein halber Obolos Ein halber Obolos war damals die kleinste Silbermünze. sind, durch die bloße Berührung mit dem Munde den Menschen die heftigsten Schmerzen verursachen und alle Besinnung rauben? – Kein Wunder, sagte Xenophon, denn die Giftspinnen bringen ihnen beim Stiche etwas bei. –
13. Und von den Schönen, sagte Sokrates, glaubst du närrischer Kauz nicht, daß sie mit dem Kusse einem etwas beibringen, weil du es nicht siehst? Weißt du nicht, daß dieses Thier, welches man schön und reizend nennt, insofern gefährlicher ist als die Giftspinnen, weil letztere nur durch Berührung, ersteres hingegen noch nicht einmal angefaßt(wenn man es nur ansieht) sogar aus weiter Ferne ihm etwas beibringt, das ihn in Raserei versetzen kann? (Vielleicht werden auch die Liebesgötter deshalb Bogenschützen genannt, weil die Schönen auch aus der Ferne verwunden.) Ich rathe dir also, Xenophon, beim Anblick eines Schönen eiligst zu fliehen; dir aber, Kritobulos, gebe ich den Rath, ein Jahr im Exil zu leben, denn kaum dürftest du in dieser Zeit genesen.
14. So glaubte er denn, Personen, welche gegen die Liebe nicht sicher seien, müßten sich zum Liebesgenuß solcher Gegenstände bedienen, zu denen sich, wenn nicht der Körper es dringend verlangte, der Geist nicht hingezogen fühle, die aber, wenn das Verlangen vorhanden sei, keine Schwierigkeiten machen würden. Er selbst aber hatte sich in dieser Hinsicht bekanntermaßen so gewöhnt, daß er sich leichter der Schönsten und Blühendsten enthielt, als andere der Häßlichsten und bereits der Jugendblüte Beraubten.
15. So hatte er sich also in Bezug auf Speise und Trank und Liebesgenuß gewöhnt und er glaubte, dabei ebenso viel genügende Befriedigung und Genuß, Unlust aber weit weniger zu haben als diejenigen, die sich mit solchen Dingen viel abgeben.